Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 21.11.2001, Az.: 6 A 1794/95

Birc; Burc; Drittstaatenregelung; Glaubensgebundenheit; Türkei; Viransehir; Yeziden

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
21.11.2001
Aktenzeichen
6 A 1794/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40218
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die am 10. März 1982 in Viransehir (Provinz Sanliurfa)/Türkei geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit.

2

Sie meldete sich am 5. April 1994 bei der Ausländerbehörde des Landkreises Cuxhaven als Asylsuchende. Mit Beschluss vom 13. April 1995 - 8 XIII 3799 - bestellte das Amtsgericht Otterndorf den Bruder der Klägerin, Herrn M. Y., zu ihrem Ergänzungspfleger. Dieser stellte daraufhin für die Klägerin einen Asylantrag.

3

Am 4. Juli 1995 wurde die Klägerin in Gegenwart ihres Bruders - und Ergänzungspflegers - vom Bundesamt in Lüneburg zu ihren Asylgründen angehört. Dabei gab sie an: Sie sei Yezidin und habe früher mit ihrer Familie im Dorf Burc Köyü gelebt. Bei ihnen gebe es Krieg. Deshalb würden alle Menschen vertrieben und unterdrückt. Auch sie hätten es in ihrem Dorf nicht mehr aushalten können und seien deshalb geflohen. Sie seien von den Mohammedanern - egal, wo sie hingingen - verachtet, beleidigt und unterdrückt worden. Auch sie selbst sei von Mohammedanern beleidigt und verachtet worden, als sie einmal vom Brunnen Wasser habe holen wollen. Sie habe Burc Köyü mit ihrer Familie verlassen, als sie noch klein bzw. noch sehr jung gewesen sei. Es müsse schon zwei oder drei Jahre her sein. Seit ca. zwei bis drei Jahren habe sie in Viransehir gelebt. Sie habe zwei Jahre lang in Burc die Schule besucht und anschließend drei Jahre in der Stadt Viransehir. Eine Schwester - A. T. - und ein Bruder - ihr Ergänzungspfleger M. Y. - lebten in Deutschland. Ihre restlichen vier Geschwister lebten nach wie vor in Kurdistan. Eine Schwester und zwei Brüder lebten noch bei den Eltern - in Viransehir -. Ihre Eltern seien schon zu alt, um auszureisen. Ihre andere Schwester sei bereits verheiratet. Sie lebe in einem Dorf in der Umgebung von Viransehir. Die Klägerin wisse nicht, wie dieses Dorf heiße. Sie habe das Dorf nie besucht. In Viransehir hätten sie Nachbarn gehabt, die Yeziden gewesen seien. Die Klägerin sei mit deren Kindern befreundet gewesen. Die Kinder hätten die Namen ihrer Eltern nicht erwähnt. Deshalb wisse die Klägerin nicht, wie diese Nachbarn heißen. In dem Dorf Burc hätten überwiegend Yeziden gelebt. Sie wisse aber nicht, ob es dort auch Moslems gegeben habe. Das Dorf sei groß gewesen. Sie hätten nicht mit allen etwas zu tun gehabt. Der dortige Lehrer sei ein Moslem gewesen.

4

Auf die Frage, ob sie ihre yezidische Religion betreibt, antwortete die Klägerin: Man hat mir dies nicht so beigebracht, deshalb kenne ich mich auch nicht so gut aus. Auf die Frage: Wie konnten die Moslems in der Türkei denn erkennen, dass Sie Yezidin sind? gab sie an: Sie wussten es, sie kannten unsere Familie. Auf die Frage: Kennen Sie auch yezidische Gebete? antwortete sie: Niemand hat mir dies beigebracht.

5

Zu ihrem Reiseweg gab die Klägerin ausweislich der Niederschrift zu ihrem Asylantrag am 4. Juli 1995 an: Sie habe die Türkei im April 1994 auf dem Luftweg vom Flughafen Adana verlassen. Es sei ein Direktflug gewesen. Sie sei über den Flughafen Frankfurt oder über den Flughafen Düsseldorf in das Bundesgebiet gelangt. Ihren Nüfus habe sie in Deutschland verloren. Ihr türkischer Reisepass sei ihr vom Landkreis Cuxhaven abgenommen worden.

6

Wegen der weiteren Angaben der Klägerin wird auf die Anhörungsniederschrift und die Niederschrift zu ihrem Asylantrag vom 4. Juli 1995 verwiesen.

7

Mit Bescheid vom 21. September 1995, zugestellt am 28. September 1995, lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG - bei ihr offensichtlich nicht vorliegen. Weiter stellte das Bundesamt fest, dass auch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Außerdem forderte das Bundesamt die Klägerin unter Abschiebungsandrohung zur Ausreise binnen Wochenfrist auf. In der Begründung führte das Bundesamt im Einzelnen aus, es dränge sich hier die Schlussfolgerung auf, dass es sich bei der Klägerin nicht um eine Yezidin handele.

8

Daraufhin hat die Klägerin am 5. Oktober 1995 die vorliegende Klage erhoben.

9

Zugleich hat die Klägerin um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebungsandrohung in dem Bundesamtsbescheid nachgesucht. Diesen Eilantrag hat das Verwaltungsgericht Stade mit Beschluss vom 20. Oktober 1995 - 4 B 1795/95 - abgelehnt. Auf die Gründe dieses Beschlusses wird verwiesen.

10

Die Klägerin führt ihr Klageverfahren weiter.

11

Zur Begründung beruft sie sich auf eine Zugehörigkeit zur yezidischen Glaubensgemeinschaft und auf eine Gruppenverfolgung der in der Südosttürkei lebenden Kurden. Sie hat eine vom Dorfvorsteher Ibrahim Burc des Dorfes Burc und zwei Beisitzern unterzeichnete Erklärung vom 1. Oktober 1996 vorgelegt, wonach sie zur yezidischen Glaubensgemeinschaft gehöre und ihre Familie das Dorf 1993 verlassen habe. Außerdem hat die Klägerin eine Bestätigung des Herrn Rakif Burc vom 30. Juli 1997 vorgelegt. Darin erklärt dieser, dass es sich bei ihr um eine Angehörige der yezidischen Religion handele; er habe ebenfalls im Dorf Burc gelebt und sei mit der Familie der Klägerin verwandt. Im Übrigen verweist die Klägerin auf das in dem ihren Bruder und dessen Familie betreffenden Klageverfahren 4 A 1765/96 VG Stade ergangene Urteil der 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Stade vom 30. November 2000 und auf das Urteil der 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Stade vom 8. Oktober 1999 - 4 A 490/98 - betreffend ihren Schwager S. T. Ergänzend führt sie aus, dass sie unter gravierenden gesundheitlichen Beschwerden leide.

12

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

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den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21. September 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, hilfsweise Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG, vorliegen.

14

Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

16

Der beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat sich zur Sache nicht geäußert.

17

Mit Beschluss vom 6. Januar 1999 - 4 A 1794/95 - hat die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Stade über die Zugehörigkeit der Klägerin zur Religionsgemeinschaft der Yeziden Beweis erhoben durch Einholung einer gutachterlichen Äußerung des Dipl.-Soz. Azad Baris. Wegen des Ergebnisses wird auf das Gutachten des Sachverständigen Baris vom 23. Februar 1999 verwiesen.

18

In der vorliegenden Sache sowie in dem Verfahren 4 A 1765/96 (betr. den Bruder der Klägerin und dessen Familie) hat am 30. November 2000 eine mündliche Verhandlung stattgefunden. In dieser mündlichen Verhandlung, an der auch der Sachverständige teilgenommen hat, ist die Klägerin informatorisch gehört worden. Wegen des Ergebnisses wird auf die Verhandlungsniederschrift verwiesen. Nachdem ihr Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass die Klägerin gesundheitlich nicht in der Lage sei, die Verhandlung durchzustehen, ist die vorliegende Sache vertagt worden.

19

Die Verhandlung der Sache 4 A 1765/96 ist fortgeführt worden. In dieser Sache sind der dortige Kläger zu 1. - der Bruder der Klägerin des vorliegenden Verfahrens - und die Klägerin zu 2. - seine Ehefrau - informatorisch gehört worden. Außerdem ist Beweis erhoben worden über die Religionszugehörigkeit der Familie der Kläger durch Vernehmung des Herrn Rakif Burc als Zeugen. Wegen des Ergebnisses der informatorischen Anhörungen und der Zeugenvernehmung wird gleichfalls auf die Verhandlungsniederschrift verwiesen.

20

Mit Urteil vom 30. November 2000 - 4 A 1765/96 - hat die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Stade der Klage des Bruders der Klägerin, seiner Ehefrau und ihrer fünf Kinder gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 6. August 1996, mit dem ihre Anerkennung als Asylberechtigte sowie die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG zurückgenommen und festgestellt worden war, dass Abschiebungshindernisse im Sinne von § 53 AuslG nicht vorliegen, stattgegeben. Wegen der Gründe wird auf das Urteil Bezug genommen.

21

In dem vorliegenden Verfahren 4 A 1794/95 ist eine Entscheidung durch die 4. Kammer nicht ergangen. Mit Wirkung vom 1. Oktober 2001 ist dieses Verfahren in die Zuständigkeit der 6. Kammer übergegangen (neues Aktenzeichen 6 A 1794/95).

22

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 6 A 1794/95/4 B 1795/95 und auf die Bundesamtsakten sowie auf die beigezogenen Ausländerakten des Landkreises Cuxhaven Bezug genommen. Außerdem haben dem Gericht die Gerichtsakten 4 A 1765/96, 4 A 951/94, 4 A 2191/94 (11 L 3333/98 Nds. OVG), 4 A 51/95, 4 A 1783/95/4 B 1784/95 und 4 A 490/98 vorgelegen.

Entscheidungsgründe

23

Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, ist unbegründet.

1.

24

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -.

a)

25

Eine Berufung der Klägerin auf Art. 16a Abs. 1 GG scheidet bereits gemäß Art. 16a Abs. 2 GG i. V. m. § 26a des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - (Drittstaatenregelung) aus.

26

Die Behauptung der Klägerin, sie sei im April 1994 auf dem Luftweg in das Bundesgebiet gelangt, hält das Gericht nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht für glaubhaft.

27

Die Klägerin konnte bei der Bundesamtsanhörung am 4. Juli 1995 in Lüneburg noch nicht einmal mit Bestimmtheit den Zielflughafen angeben, vielmehr gab sie ausweislich der Niederschrift zu ihrem Asylantrag am 4. Juli 1995 Frankfurt oder Düsseldorf an. Auch zu dem Zeitpunkt des angeblichen Direktfluges von der Türkei - Flughafen Adana - nach Deutschland blieb sie eine genaue Angabe schuldig. Vielmehr beließ sie es bei der Monatsangabe April 94.

28

Reiseunterlagen - Bordkartenabschnitt, Flugticket, Gepäckbanderole -, welche die behauptete Einreise auf dem Luftweg belegen könnten, hat die Klägerin ebenfalls nicht vorgelegt. Ebenso wenig hat sie ein Reisedokument vorgelegt, welches die angebliche Luftwegeinreise belegt. Ihr türkischer Reisepass enthält dazu keine Eintragungen. Gegen die behauptete Einreise auf dem Luftweg spricht auch, dass sich die Klägerin im April 1994 nicht auf einem deutschen Flughafen als Asylsuchende gemeldet hat, sondern am 5. April 1994 bei dem Landkreis Cuxhaven.

29

Das Gericht ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens davon überzeugt, dass die Klägerin, die im Übrigen die materielle Beweislast für die behauptete Luftwegeinreise nach Deutschland trägt (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 1999 - 9 C 36.98 -), in Wahrheit auf dem Landweg in das Bundesgebiet gelangt ist und damit aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Der Nachweis, aus welchem sicheren Drittstaat sie eingereist ist, ist nicht erforderlich (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. November 1995 - 9 C 73.95 - DVBl. 1996, 207; BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1993 und 2315/93 - DVBl. 1996, 753).

b)

30

Darüber hinaus hat die Klägerin deshalb keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG, weil sie nicht politisch verfolgt ist.

31

Die Klägerin hat die Türkei unverfolgt verlassen. Sie war vor ihrer Ausreise aus der Türkei dort politischer Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG nicht ausgesetzt; eine solche hat ihr zum Zeitpunkt ihrer Ausreise - nach ihren Angaben im April 1994 - auch nicht unmittelbar bevorgestanden.

32

Die Klägerin hat die Türkei nicht wegen einer erlittenen oder ihr unmittelbar bevorstehenden individuellen politischen Verfolgung verlassen.

33

Ihr Vortrag in der Bundesamtsanhörung, sie seien als yezidische Kurden von den Mohammedanern verachtet, beleidigt und unterdrückt worden, auch sie sei, als sie einmal vom Brunnen habe Wasser holen wollen, von Mohammedanern beleidigt und verachtet worden, ist nicht geeignet, eine asylerhebliche Vorverfolgung der Klägerin zu begründen. Die Schilderung der Klägerin ist vage, verschwommen und detailarm und nicht einmal ansatzweise substantiiert worden. Weder den Zeitpunkt des angeblichen Vorfalls noch den Ort des Geschehens hat sie genannt. Abgesehen davon erreichen bloße Beleidigungen ohnehin noch nicht das für die Annahme einer asylerheblichen individuellen Vorverfolgung erforderliche Gewicht.

34

Die Klägerin war zum Zeitpunkt ihrer Ausreise - April 1994 - nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe politisch verfolgt. Diese ethnische Minderheit unterlag seinerzeit keiner vom türkischen Staat ausgehenden oder ihm zuzurechnenden landesweiten Gruppenverfolgung (vgl. Nds. OVG, Urteile vom 21. Januar 1992 - 11 L 5961/91 -, vom 25. November 1993 - 11 L 675/91 - und vom 18. Januar 2000 - 11 L 3404/99 -). Im Übrigen stammt die Klägerin aus der Provinz Sanliurfa. Diese Provinz befindet sich jedoch, worauf in dem angefochtenen Bundesamtsbescheid zutreffend hingewiesen worden ist, bereits seit dem 19. März 1987 nicht mehr unter Notstandsrecht.

35

Die Klägerin war vor ihrer Ausreise aus der Türkei auch nicht wegen ihrer geltend gemachten Zugehörigkeit zum Yezidentum einer dem türkischen Staat unmittelbar oder mittelbar zuzurechnenden asylerheblichen - gruppengerichteten - politischen Verfolgung ausgesetzt; ebenso wenig hat ihr eine solche Verfolgung zum Ausreisezeitpunkt unmittelbar bevorgestanden.

36

Nach der ständigen Rechtsprechung des Nds. OVG seit dem Grundsatzurteil vom 28. Januar 1993 - 11 L 513/89 -, der sich das erkennende Gericht anschließt (vgl. auch OVG Münster, Urteil vom 22. Januar 2001 - 8 A 4154/99.A -), sind allerdings glaubensgebundene Yeziden in ihren angestammten Siedlungsgebieten im Südosten der Türkei zumindest seit 1988/1989 einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung durch die moslemische Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt, der sie sich auch nicht durch ein Ausweichen in andere Landesteile entziehen können.

37

Diese Rechtsprechung kommt der Klägerin jedoch nicht zugute. Es bestehen schon erhebliche Zweifel, ob die Klägerin zum Ausreisezeitpunkt überhaupt formal Angehörige der yezidischen Glaubensgemeinschaft war, zumindest konnte sie aber nicht als glaubensgebundene Yezidin angesehen werden.

38

Für die Feststellung der Zugehörigkeit zur ethno-religiösen Gruppe der Yeziden kommt es maßgeblich auf den Geburts- und/oder Wohnort an (Nds. OVG, Urteile vom 8. Juli 1994 - 11 L 37/90 -, 24. September 1998 - 11 L 6819/96 -,Januar 1999 - 11 L 2260/98 - und vom 23. November 2000 - 11 L 1730/00 - m.w.N.). Denn die Yeziden in der Türkei siedelten in der Regel in eigenen Dörfern, die bekannt sind (vgl. Wießner, Stellungnahme vom 5. Juli 1994 an das VG Kassel; Sternberg/Spohr, Bestandsaufnahme ... vom März/Oktober 1993). Der - inzwischen verstorbene - Religionswissenschaftler Prof. Dr. Wießner, auf dessen Forschungen sich die Rechtssprechung des Nds. OVG ganz wesentlich stützt, hat diese Auffassung in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 8. Juni 1998 an das VG Gießen nochmals ausdrücklich bekräftigt: Nach meiner Überzeugung ist der exakte Beweis für die Zugehörigkeit eines Asylbewerbers zum religiösen Yezidentum nur über den Nachweis seiner Herkunft aus einem rein yezidisch besiedelten Dorf zu führen bzw. über den Nachweis seiner Abstammung von Eltern (und Vorfahren) aus einem rein yezidisch bewohnten Dorf, die nicht zum Islam übergetreten sind; bei Asylbewerbern aus gemischt yezidisch-muslimisch bewohnten Dörfern besteht nach meinen Erfahrungen die Gefahr, dass Muslime vorgeben, Angehörige des religiösen Yezidentums zu sein.

39

Die Klägerin macht geltend, sie stamme aus dem Dorf Burc (türkisch; kurdische Bezeichnung: Birc) im Landkreis Viransehir (Provinz Sanliurfa).

40

Dieses Dorf ist nach Aussage des Sachverständigen Baris - in seinem in diesem Verfahren eingeholten Gutachten vom 23. Februar 1999 und zuvor bereits in dem Gutachten an das VG Lüneburg vom 13. Oktober 1998 - ein rein yezidisches Dorf. Hierzu führt er aus: Seit der Gründung des Dorfes - durch den Clanchef der Maseki - sei der Ort rein yezidisch besiedelt. Neben den Masekis habe die Familie Kazka vom Stamm Xalti, Angehörige der Seyh-Kaste, in diesem Dorf gewohnt, ebenso aber auch moslemische Tagelöhner während der Saisonarbeit. Rakib Burc, Sohn des Halefe Hundo , der Clanchef der Maseki , sei ein sehr einflussreicher Mann und lebe mit zwei seiner Frauen und etwa 25 Kindern im Bundesgebiet. Sein Bruder Ibrahim Burc, ebenfalls Sohn des Halefe Burc, lebe mit einigen anderen Familien, etwa 60 Personen, noch im Dorf Burc und habe dort den Posten des Dorfvorstehers inne. Die Familie Burc habe neuerdings einige Brunnen im Dorf gebaut und Land, welches zum großen Teil ihnen gehöre, mit Pumpstationen gewässert. Ibrahim Burc habe dem Sachverständigen am Telefon berichtet, die Bewohner von Burc glaubten, wie die meisten der dort verbliebenen Yeziden, den Repressalien und dem Druck nicht mehr länger standhalten zu können. Dennoch bauten sie ihr Lebenswerk weiter auf und hofften auf eine Verbesserung der Situation. In absehbarer Zeit würden sie ihr Land nicht verlassen.

41

Auch Sternberg-Spohr hat Burc in seiner Bestandsaufnahme vom März/Oktober 1993 als ein von Yeziden bewohntes Dorf bezeichnet, in dem im März 1993 19 yezidische Familien und keine Moslems gelebt hätten.

42

Demgegenüber stellt Wießner in seiner Stellungnahme an das VG Ansbach vom 12. Februar 1996 (vgl. zuvor bereits seine Stellungnahme an das VG Kassel vom 5. Juli 1994) fest: Bewohner des Dorfes Burc nördlich von Viransehir werden von orthodoxen Yeziden aufgrund ihrer auch in Eheschließungen mit Muslimen zum Ausdruck kommenden Verbindung mit den Muslimen nicht mehr zur Religionsgemeinschaft der Yeziden - als einer die yezidische Religion in der Heimat noch praktizierende Gemeinschaft (einschließlich der endogamen Eheschließung) - zugehörig betrachtet. ...

43

Zwar ist Baris diesen Feststellungen Wießners in seinem Gutachten vom 23. Februar 1999 entgegengetreten und hat ausgeführt: Die Bewohner von Burc sind ganz gewiss nicht minder, allerdings auch nicht in größerem Maße, religiös als der Rest der ezidischen Gemeinde im Gebiet Viransehir. Es ist nicht zutreffend, wie seitens einzelner sogenannter Sachkundiger behauptet wird, dass die Bewohner des Dorfes Burc innerhalb der ezidischen Gemeinde dadurch in Verruf geraten seien, dass sie großzügig Eheschließungen mit Andersgläubigen eingegangen seien.... Andererseits berichtet Baris jedoch davon, von Beginn der 60iger Jahre an bis zum heutigen Zeitpunkt seien etwa 10 bis 12 Familien oder Einzelpersonen vom Stamm der Maseki - so die Angabe auf S. 10 des Gutachtens vom 23. Februar 1999 - bzw., wie ihm der Dorfvorsteher Ibrahim Burc in dem Interview am 15. Februar 1999 zuversichtlich dargelegt habe, - so die Angabe auf S. 12 des Gutachtens - seit 1960 etwa 15 Familien vom Stamm der Maseki zum Islam übergetreten; dieser Personenkreis habe sich in der Stadt Viransehir niedergelassen. Der Dorfvorsteher Burc habe es in dem Gespräch am 15. Februar 1999 vermieden, dem Sachverständigen diesbezüglich konkrete Familiennamen zu nennen. Diesem Personenkreis komme nach Einschätzung des Sachverständigen hinsichtlich seiner Religionszugehörigkeit eine tolerierte Sonderstellung zu, d. h. sie würden nicht gänzlich aus der yezidischen Gemeinde ausgeschlossen, sondern könnten begrenzte Kontakte zum weiterhin rein yezidischen Teil der Sippe pflegen. Eheschließungen dieses Personenkreises verliefen allerdings meist untereinander, da man durch die Eheschließung mit einem Moslem die Möglichkeit auf Rückkehr bzw. den Kontakt zur rein yezidischen Gemeinde vollends verlieren würde.

44

Für die Klägerin lassen sich folgende Feststellungen treffen:

45

Ihre Behauptung, sie sei in Burc aufgewachsen und habe nur in den letzten Jahren vor ihrer Ausreise mit ihrer Familie in Viransehir gelebt, entspricht offensichtlich nicht den Tatsachen. Die Klägerin ist ausweislich der Eintragungen in ihrem Reisepass, wie sie auch selbst einräumt, in Viransehir geboren. Sie ist dort zur Überzeugung der Kammer auch aufgewachsen. In dem Dorf Burc hat sie persönlich niemals gelebt. Ihr gegenteiliger Vortrag in der Bundesamtsanhörung am 4. Juli 1995 ist unglaubhaft. Ihre Schilderung ist durch Unstimmigkeiten gekennzeichnet.

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Auf die Frage, wann sie Burc mit ihrer Familie verlassen habe, hat sie zunächst geantwortet: Ich war damals noch klein. Es muss schon zwei oder drei Jahre her gewesen sein. Demzufolge müsste sie Burc 1992 oder 1993 verlassen haben. Im weiteren Verlauf ihrer Bundesamtsanhörung hat sie jedoch behauptet, sie habe zwei Jahre lang in Burc die Schule besucht und anschließend drei Jahre in der Stadt Viransehir. Da sie nach eigenen Angaben im April 1994 nach Deutschland gekommen ist, müsste sie spätestens 1990/1991 von Burc nach Viransehir verzogen sein.

47

Außerdem fällt auf, dass die - damals dreizehnjährige - Klägerin in ihrer Bundesamtsanhörung am 4. Juli 1995 nicht in der Lage war, Auskünfte bezüglich erfragter Einzelheiten im Zusammenhang mit ihrem angeblichen Aufenthalt im Dorf Burc zu geben. Hierauf hat der Sachverständige Baris in seinem Gutachten zutreffend hingewiesen. So antwortete sie auf die Frage: Kennen Sie auch noch andere Yeziden, die in Burc lebten?: Ich war damals, als wir das Dorf verlassen haben, noch sehr jung. Viele sind auch aus dem Dorf geflohen. Namen kenne ich nicht.

48

Obendrein konnte sie noch nicht einmal die Namen der angeblichen yezidischen Nachbarn in Viransehir, mit deren Kindern sie befreundet gewesen sei, nennen. Dies ist - und hierauf weist Baris in seinem Gutachten vom 23. Februar 1999 zutreffend hin - deshalb besonders auffällig, weil für die Yeziden die Pflege der sozialen Kontakte zu den anderen Yeziden der jeweiligen Religion nahezu eine lebenswichtige Grundlage darstellt, um dort in Anbetracht der Isolation der Gemeinschaft existieren zu können. Erfahrungsgemäß leben auch Jugendliche und Kinder voll integriert in den sozialen Strukturen, da Kontakte zur nicht-yezidischen Bevölkerung kaum bestehen. Da die Sozialsituation, also ausschließlich innerhalb der Strukturen, entsprechend dem spezifisch yezidischen Verhaltenskodex, stattfindet, kann nicht argumentiert werden, man erinnere sich wegen der damaligen Jugendlichkeit nicht (Baris, a.a.O., S. 9, FN 8).

49

Die Kammer vermag der Behauptung der Klägerin, sie sei in dem Dorf Burc aufgewachsen, auch deshalb keine Glauben zu schenken, weil sie in der Bundesamtsanhörung noch nicht einmal eine Antwort auf die Frage geben konnte, ob in Burc damals nur Yeziden oder auch Moslems lebten. Vielmehr antwortete sie vage: Im Dorf lebten überwiegend Yeziden. Ich weiß aber nicht, ob es dort auch Moslems gab. Das Dorf war groß und wir hatten nicht mit allen etwas zu tun.

50

Die Behauptung der Klägerin, sie sei in Burc aufgewachsen, ist auch deshalb nicht glaubhaft, weil sie sich offensichtlich nicht mit den Angaben ihres Bruders Mehmet Yildiz in der mündlichen Verhandlung am 30. November 2000 in Einklang bringen lässt. Dieser hat nämlich auf Befragen erklärt, die Familie habe lediglich bis 1977/78 in Burc gelebt; dann seien sie in die Stadt Viransehir umgezogen. Die Klägerin ist jedoch erst 1982 geboren, also bereits nach dem angeblichen Umzug.

51

Das eingeholte Gutachten des Sachverständigen Baris hat eine Herkunft der Klägerin aus dem Dorf Burc ebenfalls nicht bestätigt. Vielmehr betont der Sachverständige in seinem Gutachten, dass die Angaben der Klägerin über ihre Herkunft aus dem Dorf Burc offensichtlich nicht zweifelsfrei seien. Zutreffend weist er darauf hin, dass auch die Darstellung der Klägerin über einen angeblichen Verlust ihres Nüfus im Bundesgebiet höchst unglaubwürdig erscheint. Dem kommt deshalb Bedeutung zu, weil die Yeziden aus dem Landkreis Viransehir, im Gegensatz zu den Yeziden aus anderen Regionen, in ihren Ausweisen den Eintrag Yezidi erhalten (Baris, a.a.O., S. 8). Dies lässt nach Auffassung der Kammer den Schluss zu, dass die Klägerin einen angeblichen Verlust ihres Nüfus deshalb behauptet, weil darin der Eintrag Yezidi nicht enthalten ist (und auch eine Herkunft der Klägerin aus Burc darin nicht bestätigt wird).

52

Zudem spricht gegen eine Herkunft der Klägerin aus dem Dorf Burc, dass der Familiennahme Yildiz nach den Feststellungen von Baris in seinen Gutachten vom 13. Oktober 1998 und vom 23. Februar 1999 nicht dem Dorf Burc zuzuordnen ist. Insgesamt ist Baris in seinem Gutachten vom 23. Februar 1999 zu dem Schluss gelangt, dass es sich bei der Klägerin um eine Angehörige des Stammes der Maseki handeln könnte, deren Familie allerdings einst zum Islam übergetreten sein müsse. Baris will zwar in seinem Gutachten nicht kategorisch ausschließen, dass die Klägerin der yezidischen Glaubensgemeinschaft angehöre. Eine überzeugende Begründung für diese Einschränkung hat er jedoch in seinem Gutachten nicht gegeben.

53

Auch die im Klageverfahren vorgelegte Bescheinigung des Dorfvorstehers Ibrahim Burc (und von zwei Beisitzern) vom 1. Oktober 1996 belegt eine Herkunft der Klägerin aus dem Dorf Burc nicht. Darin heißt es, die Klägerin, die im Jahre 1982 in Viransehir geboren ist, gehöre zur yezidischen Glaubensgemeinschaft und habe im Jahre 1993 das Dorf Burc verlassen und sei weggegangen. Bei dieser Bescheinigung handelt es sich um ein Gefälligkeitsbekundung, der ein beachtlicher Beweiswert offensichtlich nicht beizumessen ist. Der Aussteller dieser Bescheinigung - der Dorfvorsteher Ibrahim Burc - hat in dem Interview mit dem Sachverständigen Baris am 15. Februar 1999 auf die Frage, ob er eine Familie namens Yildiz kenne, die einst in seinem Dorf gewohnt haben solle, geantwortet: So enge Verwandte mit dem Nachnamen Yildiz haben wir nicht. Jedoch kamen viele Tagelöhner aus verschiedenen Dörfern in unser Dorf, um bei uns beschäftigt zu werden. Es kann sein, dass diese Familie auch darunter war. Ich muss dazu noch sagen, dass einige dieser Familien, die bei uns Arbeit suchten, mehrere Jahre bei uns Beschäftigung fanden. Auf die anschließende Frage des Sachverständigen: War auch die Familie Yildiz einmal unter diesen Leuten? Können Sie sich daran erinnern? antwortete der Dorfvorsteher Ibrahim Burc: Wie sollte ich mich noch daran erinnern können, ob eine Familie Yildiz darunter war. Vielleicht ja, man könnte auch nein sagen, ich weiß es nicht mehr. Im weiteren Verlauf des Interviews hat Ibrahim Burc schließlich eingeräumt, dass er einfach nicht nein sagen kann, wenn Leute zu ihm nach Hause kommen und um eine Bescheinigung über die Zugehörigkeit zum Yezidentum bitten.

54

Die Bekundungen des im Bundesgebiet lebenden Rakif Burc - des Bruders des Dorfvorstehers Ibrahim Burc - vermögen eine Herkunft der Klägerin aus dem Dorf Burc ebenfalls nicht zu belegen. Dieser hat nämlich widersprüchliche Angaben gemacht. Zunächst hat Rakif Burc in seinem Schreiben vom 30. Juli 1997 bestätigt, dass der Bruder der Klägerin Mehmet Yildiz, dessen Ehefrau und deren fünf Kinder, die Klägerin und deren Cousin Mehmet Salih Yildiz - der Kläger des Verfahrens 4 A 1783/95, dessen Klage mit Urteil vom 17. Dezember 1998 - 4 A 1783/95 - abgewiesen worden ist - sämtlich Bewohner des Burc Köyü und gleichzeitig Verwandte von ihm seien. Dies deckt sich schon nicht mit den eigenen Angaben des Bruders der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 30. November 2000. Dort hat dieser - wie bereits erwähnt - behauptet, er habe mit seiner Familie - er selbst sei in Burc geboren; wo sein Vater herstamme, wisse er nicht - bis 1977/78 in Burc gelebt, dann seien sie nach Viransehir umgezogen. Auch Rakif Burc hat in seiner Zeugenvernehmung am 30. November 2000 lediglich bekundet, 1977 oder 1978 hätten sowohl der Bruder der Klägerin als auch er im Dorf Burc gelebt. Einen späteren Aufenthalt der Familie - insbesondere einen Aufenthalt der erst 1982 in Viransehir geborenen Klägerin - in Burc hat er nicht mehr behauptet. Dies zeigt, dass es sich bei seiner schriftlichen Bestätigung vom 30. Juli 1997 um eine bloße Gefälligkeitsbekundung handelt.

55

Dieser Umstand weckt zugleich Zweifel an dem Wahrheitsgehalt seiner Bekundung in der mündlichen Verhandlung, der Bruder der Klägerin und dessen Familie seien Yeziden - wie er auch selbst-. Zur Begründung hierfür hat der Zeuge erklärt, er wisse das deshalb, weil er seine Leute kenne; er selbst stamme aus Burc. Diese Begründung des Zeugen Rakif Burc überzeugt jedoch vor dem Hintergrund der von seinem Bruder Ibrahim Burc am 15. Februar 1999 gegenüber dem Sachverständigen gemachten Angaben nicht. Denn diesem war als Dorfvorsteher von Burc eine Familie Yildiz gerade nicht geläufig; er konnte sich an eine solche nicht einmal erinnern. Dies hätte aber nahe gelegen, zumal Ibrahim Burc bereits seit 1976 Muhtar der Gemeinde Burc ist. Das in dem Verfahren des Bruders Mehmet der Klägerin und dessen Familie ergangene Urteil der 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Stade vom 30. November 2000 - 4 A 1765/96 - lässt jegliche Auseinandersetzung mit dieser offensichtlichen Unstimmigkeit vermissen.

56

Nach alledem lässt sich schon nicht feststellen, dass die Klägerin tatsächlich aus Burc stammt. Selbst wenn man aber unterstellt, dass ihre Eltern früher einmal in Burc gelebt haben und in den Jahren 1977/78 - also noch mehrere Jahre vor der Geburt der Klägerin - nach Viransehir umgezogen sind, kann jedenfalls nicht festgestellt werden, dass die Eltern der Klägerin - einmal unterstellt, sie hätten formal der yezidischen Religion angehört - dem yezidischen Glauben in Viransehir nach der Geburt der Klägerin noch existentiell verbunden geblieben sind. Es kann deshalb auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin selbst zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus der Türkei - im Alter von 12 Jahren - eine glaubensgebundene Yezidin war.

57

Zwar kann bei Kindern und Jugendlichen nicht eine in gleichem Maße wie bei einem Erwachsenen gefestigte und verwurzelte religiöse Überzeugung verlangt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 1993, DVBl. 1994, 60 [BVerwG 17.08.1993 - BVerwG 9 C 8/93]; Nds. OVG, Urteil vom 24. September 1998 - 11 L 6819/96 -) Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass einfache Gläubige (sog. Meriden) oftmals nur über geringe Kenntnisse der yezidischen Glaubensregeln verfügen und dass Kinder und Jugendliche nicht den gleichen Rechten und Pflichten unterliegen wie Erwachsene (Nds. OVG, Urteil vom 24. September 1998). Es reicht vielmehr aus, dass Kinder (und Jugendliche) in einer yezidischen Familie aufwachsen und den yezidischen Traditionen und Gebräuchen unterliegen.

58

Eben dies kann für die Klägerin jedoch nicht festgestellt werden. In ihrer Bundesamtsanhörung am 4. Juli 1995 hat die damals dreizehnjährige Klägerin auf die Frage: Betreiben Sie Ihre yezidische Religion? geantwortet: Man hat mir dies nicht so beigebracht, deshalb kenne ich mich auch nicht so gut aus. Zudem hat sie auf die Frage: Kennen Sie auch yezidische Gebete? erwidert: Niemand hat mir dies beigebracht. Obendrein konnte sie - wie bereits erwähnt - in ihrer Bundesamtsanhörung noch nicht einmal den Familiennamen der angeblichen yezidischen Nachbarn in Viransehir mitteilen, mit deren Kindern sie befreundet gewesen sei. Es kann hiernach nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin und ihre Eltern in Viransehir in das yezidische Gemeinde- und Glaubensleben eingebunden waren. Yeziden sind jedoch zur Ausübung ihrer Religion existentiell auf ein Gemeindeleben und die Betreuung durch die yezidischen Priesterstände angewiesen (vgl. EKD-Informationen, Die Yeziden, März 1992, S. 24; Sternberg-Spohr , Gutachten vom Mai 1988, S. 82 ff; Nds. OVG, Urteil vom 23. November 2000 - 11 L 1730/00 -).

59

Die Klägerin hat die Türkei nach alledem 1994 - im Alter von 12 Jahren - unverfolgt verlassen.

60

Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in die Türkei dort die Gefahr einer politischen Verfolgung i. S. d. Art. 16a Abs. 1 GG gegenwärtig und absehbarer Zukunft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen könnte. Asylerhebliche Nachfluchtgründe liegen nicht vor.

61

Der Klägerin droht gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht politische Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe. Diese ethnische Minderheit ist nämlich nach wie vor in der Türkei keiner vom türkischen Staat ausgehenden oder ihm zuzurechnenden landesweiten Gruppenverfolgung ausgesetzt (vgl. Nds. OVG, Urteile vom 18. Januar 2000 - 11 L 3404/99 -, vom 30. August 2000 - 11 L 1255/00 -, vom 23. November 2000 - 11 L 1730/00 -, vom 22. Februar 2001 - 11 L 3879/00 - und vom 20. September 2001 - 11 L 4777/99 -).

2.

62

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG liegen bei der Klägerin ebenfalls nicht vor.

63

Es besteht kein hinreichender Anhalt dafür, dass das Leben oder die Freiheit der Klägerin, die die Türkei unverfolgt verlassen hat, bei einer Rückkehr in die Türkei dort wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppen oder wegen ihrer politischen Verfolgung gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft bedroht ist.

64

Wegen ihrer Asylantragstellung und wegen ihres Auslandsaufenthalts droht der Klägerin politische Verfolgung i. S. d. § 51 Abs. 1 AuslG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Nach der Erkenntnislage sind Asylbewerber, die nach erfolglosem Asylverfahren in die Türkei zurückkehren, allein wegen ihrer Asylantragstellung oder wegen ihres (langjährigen) Auslandsaufenthalts keinem beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsrisiko ausgesetzt.

65

Exponierte exilpolitische Tätigkeiten (vgl. dazu Nds. OVG, Urteil vom 26. Juni 2001 - 2 L 4599/92 -) macht die Klägerin nicht geltend.

66

Ein Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG lässt sich für die Klägerin auch nicht auf die Rechtsprechung des Nds. OVG (vgl. Urteile vom 28. Januar 1993 - 11 L 513/98-, vom 30. April 1998 - 11 L 4647/97 -, vom 24. September 1998 - 11 L 6819/96 -, vom Januar 1999 - 11 L 2260/98 - und vom 23. November 2000 - 11 L 1730/00 -) zur mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung von glaubensgebundenen Yeziden in der Türkei stützen.

67

Es bestehen - wie ausgeführt - schon erhebliche Zweifel, ob die Klägerin überhaupt formal Angehörige der yezidischen Religionsgemeinschaft ist. Zumindest aber kann sie nach wie vor nicht als glaubensgebundene Yezidin angesehen werden.

68

In der mündlichen Verhandlung am 30. November 2000 konnte sie nicht sicher angeben, welchen Sheik sie im April 2000 gesehen habe. Sie gab zunächst an, ihr Sheik sei Ferman, den Nachnamen wisse sie nicht, auch weil sie so viel mit ihrer Krankheit beschäftigt sei; der Sheik besuche sie z. B. zum Neujahrsfest; er sei ein alter Mann; zuletzt habe sie ihn im April 2000 gesehen. Später erklärte sie hingegen: Unser Sheik ist zwar Ferman, aber ob das im April er selbst war oder einer seiner Nachkommen, kann ich nicht sagen. Zudem räumte sie in ihrer informatorischen Anhörung am 30. November 2000 ein, dass sie selbst nach wie vor nicht betet (In meiner Familie wird auch gebetet. Ich selber habe allerdings nicht mehr gebetet.). Die dafür gegebene Begründung der Klägerin, das hänge damit zusammen, dass sie sehr häufig krank sei und das dann einfach körperlich nicht könne, überzeugt nicht, zumal die Klägerin bereits bei ihrer Bundesamtsanhörung am 4. Juli 1995 erklärt hat, yezidische Gebete kenne sie nicht, niemand habe ihr dies beigebracht. Auch ihre Antwort auf die Frage nach der Figur des Bruders bzw. der Schwester der anderen Welt (Ich kenne zwar den Begriff. Ich habe mir aber noch keinen gewählt. Ich bin noch zu jung.) bestätigt die Einschätzung der Kammer, dass es sich bei der Klägerin nicht um eine glaubensgebundene Yezidin handelt. Der Hinweis der Klägerin auf ihr Alter überzeugt demgegenüber nicht. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 30. November 2000 war die Klägerin bereits 18 Jahre alt.

69

Hiernach liegen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin aus existentiellen Gründen auf die Ausübung der yezidischen Religion nunmehr angewiesen ist.

3.

70

Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG liegen bei der Klägerin nicht vor.

71

Ihrer Abschiebung in die Türkei stehen Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 AuslG bzw. nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht entgegen. Nach diesen Vorschriften darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter (§ 53 Abs. 1 AuslG) bzw. der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (§ 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK) unterworfen zu werden. Insoweit muss eine konkrete Prognose im Hinblick auf eine individuelle Gefährdung des betroffenen Ausländers angestellt werden. Eine unmenschliche Behandlung muss aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte ernsthaft zu befürchten sein. Eine solche Gefahr ist im Falle der Klägerin nicht feststellbar.

72

Schließlich liegen bei der Klägerin auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht vor. Zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG reichen allgemeine Gefahren nicht aus (Amtliche Begründung, BT-Drs. 11/6321, S. 75). Es setzt vielmehr eine sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalles ergebende erhebliche individuell-konkrete Gefahr voraus (BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -). Eine solche Gefährdungssituation lässt sich für die Klägerin nicht feststellen.

73

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind bei der Klägerin nicht im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand anzunehmen. Zwar kann die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in dem Staat, in den er abgeschoben werden soll, verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG darstellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - BVerwG 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383, 384 ff.; BVerwG, Urteil vom 21. September 1999 - BVerwGE 9 C 8.99 -). Es ist jedoch nicht erkennbar, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen eines solchen zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses bei der Klägerin vorliegen. Es gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin - bei ihr liegt eine nach einer Schilddrüsenentfernung aufgetretene Unterfunktion der Nebenschilddrüse vor; hieraus entsteht ein schwer gestörter Calcium-Haushalt (vgl. die ärztliche Bescheinigung des Arztes für Allgemeinmedizin Wendt, Hammah , vom 27. November 2000) - bei einer Rückkehr in die Türkei dort in lebensgefährlicher Weise verschlimmern würde.

4.

74

Auch die gegen die Klägerin gerichtete Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung des Bundesamtes in dem angefochtenen Bescheid sind rechtlich nicht zu beanstanden. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in den §§ 34, 36 Abs. 1 AsylVfG; 50 AuslG.