Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 01.10.2008, Az.: 9 A 2278/07
Aufnahme; Ausbildungsförderung; Großeltern; Sorgeberechtigung; Wiederverheirateter Elternteil; Wohnung der Eltern; berechtigte Weigerung
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 01.10.2008
- Aktenzeichen
- 9 A 2278/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45429
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2008:1001.9A2278.07.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- OVG Niedersachsen - 17.06.2008 - AZ: 4 PA 750/07
Rechtsgrundlage
- 2 Ia Satz 1 Nr. 1 BAföG
Amtlicher Leitsatz
Der volljährige Schüler hat einen Anspruch auf Gewährung von Ausbildungsförderung, wenn es der Ehegatte seines früher sorgeberechtigten Elternteils wegen räumlich beengter Wohnverhältnisse ablehnt, ihn in der Wohnung aufzunehmen.
Tatbestand:
Der am G. geborene Kläger begehrt die Gewährung von Ausbildungsförderung. Er nimmt seit 19.03.2007 an dem Nichtschüler-Abiturkurs der Volkshochschule F. mit voraussichtlicher Abschlussprüfung im Juni 2009 teil.
Der Kläger wohnt seit 13 Jahren bei seinen Großeltern H. und I.J., B., C.. Sein leiblicher Vater K.L. lebt mit seiner Ehefrau und zwei Kindern in M., N.. Seine Mutter O.P. lebt mit ihrem Ehemann und einer Tochter in Q., R..
Die am 07.03.2007 vom Kläger beantragte Bewilligung von Ausbildungsförderung für den Besuch des Nichtschüler-Abiturkurses lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 13.03.2007 ab, weil die Ausbildungsstätte von den Wohnungen seiner Eltern aus erreichbar sei.
Am 13.04.2007 hat der Kläger hiergegen Klage erhoben und im wesentlichen vorgetragen, zwischen ihm und seiner Mutter bestehe keine familiäre Bindung. Er sei vielmehr durch das Verhalten der Mutter traumatisiert. Seinem Vater sei es wegen der gleichzeitigen Versorgung weiterer Kinder unzumutbar, ihn in seinem Haushalt aufzunehmen, zumal er zu seinem Vater überhaupt keinen Kontakt habe. Die Wohnverhältnisse bei beiden Elternteilen seien auch so beengt, dass er dort nicht leben könne. Der Vater wohne mit seiner Ehefrau und zwei elf und sieben Jahre alten Kindern in einer 109 m2 großen Vier-Zimmer-Wohnung. Die Mutter wohne mit ihrem Ehemann und der Tochter in einer 55 m2 großen 2 1/2-Zimmer-Wohnung.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 13.03.2007 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm Leistungen auf Ausbildungsförderung nach dem BAföG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verteidigt den angefochtenen Bescheid und ergänzt, "Wohnung der Eltern" im Sinne des § 2 Abs. 1a BAföG seien bei geschiedenen Elternteilen beide Wohnungen. Ausbildungsförderung werde schon versagt, wenn von der Wohnung eines Elternteils aus eine entsprechende Ausbildungsstätte erreichbar sei. Etwas anderes gelte nur, wenn die Eltern aus zwingenden persönlichen Gründen nicht die Möglichkeit hätten, über ihre Wohnverhältnisse frei zu bestimmen, wenn etwa ein geschiedener Elternteil mit einem neuen Lebenspartner in dessen Wohnung lebe und dieser die Aufnahme des Auszubildenden in die Wohnung berechtigt ablehne. Diese Voraussetzung liege nicht vor. Es sei unerheblich, ob eine Unterbringung in der Wohnung der Eltern aus Sicht des Klägers unzumutbar sei, oder es zu einem Zerwürfnis mit den Eltern gekommen sei. Auch aus den nach der Ablehnung seines Prozesskostenhilfeantrags vorgelegten Erklärungen ergäben sich die Voraussetzungen für die Bewilligung von Ausbildungsförderung nicht. Es sei zumindest zweifelhaft, ob die Weigerung der neuen Ehepartner seiner Eltern, ihn aufzunehmen, im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts berechtigt sei. Angesichts der Größe der Wohnung seines Vaters sei nicht ersichtlich, dass seine Aufnahme dort unzumutbar wäre. Da die Tochter seiner Mutter nicht ständig sondern nur besuchsweise in deren Wohnung lebe, gelte dies auch für die Drei-Zimmer-Wohnung der Mutter.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem der Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO übertragen wurde.
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf die Bewilligung von Ausbildungsförderung. Der Bescheid des Beklagten vom 13.03.2007, mit dem solche Leistungen abgelehnt wurden, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 BAföG liegen entgegen der Auffassung des Beklagten vor. Danach wird für den Besuch der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 BAföG bezeichneten Ausbildungsstätten Ausbildungsförderung - nur - geleistet, wenn der Auszubildende nicht bei seinen Eltern wohnt und von der Wohnung der Eltern aus eine entsprechende zumutbare Ausbildungsstätte nicht erreichbar ist. Insoweit können allerdings im Sinne des Beklagtenvortrags als "Wohnung der Eltern" bei nicht zusammenlebenden Eltern wie vorliegend, grundsätzlich die Wohnungen beider Elternteile in Betracht kommen. Dabei ist es ausbildungsförderungsrechtlich im Grundsatz auch unerheblich, ob die Eltern tatsächlich oder rechtlich in der Lage sind, den Auszubildenden bei sich aufzunehmen, oder ob zwischen dem Auszubildenden und den Eltern noch ein Eltern-Kind-Verhältnis besteht. Nach den BAföGVwV (§ 2, Ziff. 2.1 a.6b) ist bei nichtehelichen Kindern wie dem Kläger auch nach Erreichen der Volljährigkeit von der bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres bestehenden rechtlichen Zuordnung auszugehen, d.h. maßgeblich ist auch nach Volljährigkeitseintritt allein die Wohnung des vorher sorgeberechtigten Elternteils. Auch wenn der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf ausdrückliches Befragen in der mündlichen Verhandlung hierzu keine abschließenden Angaben machen konnte, drängt sich nach dem bekannten Sachverhalt auf, dass dies beim Kläger die Mutter war. Denn er hat in Übereinstimmung mit seinem Vater vorgetragen, dass er zu diesem niemals Kontakt hatte, und er hat bis zum Jahre 1995 bei der Mutter gelebt, 1993/94 sogar in Griechenland.
Auf die Wohnung seiner Mutter in S.R. kann der Kläger als "Wohnung der Eltern" im Sinne des § 2 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 BAföG indes nicht verwiesen werden, denn deren derzeitige Ehemann, Herr T.P., hat am 26.08.2008 schriftlich erklärt, dass eine Aufnahme des Klägers in diese Wohnung aus Platzgründen nicht möglich sei. Er hat es mithin wegen der beengten räumlichen Verhältnisse abgelehnt, dass der Kläger dort einzieht. Damit liegen die Voraussetzungen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 27.02.1992 - 5 C 68/88 -) vor, wonach die Wohnung eines wiederverheirateten Elternteils und seines neuen Ehepartners dann nicht mehr als "Wohnung der Eltern" eines volljährigen Auszubildenden im Sinne von § 2 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 BAföG angesehen werden kann, wenn der neue Ehepartner die Aufnahme des Auszubildenden in diese Wohnung berechtigt ablehnt. Denn in derartigen Fällen kann der Gesetzgeber nach der von ihm selbst geschaffenen Rechtsordnung gerade nicht davon ausgehen, dass der Auszubildende bei dem betreffenden Elternteil wohnen kann und ihm dort Unterhalt in Naturalleistung gewährt wird. Eben dies ist aber der tragende Grund für die in Rede stehende Einschränkung der Schülerförderung. Die Mutter des Klägers hatte wegen der mit der neuen Ehe verbundenen Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft auch nicht mehr die Möglichkeit, über ihre Wohnverhältnisse frei zu bestimmen. Dies ist ein zwingender persönlicher Grund - wie er etwa auch bei einem Aufenthalt in einem Pflegeheim gegeben wäre -, aus dem das Wohnen des Klägers bei seiner Mutter an rechtlichen Hindernissen scheitert. Nach der o.a. Entscheidung des BVerwGs kann einem Elternteil im Ergebnis auch nicht angesonnen werden, bis zum Abschluss der Schulausbildung seiner Kinder aus einer früheren Verbindung im fiskalischen Interesse auf eine neue Eheschließung zu verzichten, zumal keineswegs stets absehbar ist, ob eine Unterbringung der Kinder bei einem Elternteil zum Zwecke ihrer Schulausbildung später überhaupt in Betracht kommen wird. Zugleich ist die Missbrauchsgefahr im Hinblick auf die zeitliche und finanzielle Begrenztheit der Förderung im Vergleich mit den rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Eheschließung gering.
Der Ehemann der Mutter des Klägers hat hier auch "berechtigt" im Sinne der zitierten Rechtsprechung die Aufnahme des Klägers in die Wohnung abgelehnt. In der betroffenen 55 m2 großen Wohnung leben nämlich schon derzeit drei Personen - ob sich die Halbschwester des Klägers dort ununterbrochen aufhält, ist insoweit unerheblich, da sie bei der regelmäßigen Anwesenheit in der Wohnung auch einer Unterbringung bedarf -, so dass die Beengtheit der räumlichen Verhältnisse ohne weiteres plausibel ist. Auf die Beantwortung der sich an die Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung vom 27.02.1992 anschließenden Fragen kommt es damit vorliegend nicht mehr an, welche Gründe nämlich neben beengten Wohnverhältnissen ebenfalls zu einer "berechtigten" Ablehnung der Aufnahme des Auszubildenden führen können, und vor allem, wie der betroffene Elternteil des Auszubildenden im Falle einer "unberechtigter" Weigerung seines neuen Ehepartners seinem Kind bei nicht bestehender (alleiniger) rechtlicher Verfügungsbefugnis über den Wohnraum Unterkunft gewähren soll.
Auch wenn es wegen der alleinigen Maßgeblichkeit der Wohnverhältnisse des ehemals sorgeberechtigten Elternteils - hier nach den vorstehenden Ausführungen wohl der Mutter des Klägers - im Ergebnis nicht darauf ankommt, wird wegen der verbleibenden Ungewissheit über die Sorgeberechtigung darauf hingewiesen, dass auch hinsichtlich der Wohnung des Vaters die Voraussetzungen der BVerwGs-Rechtsprechung vorliegen. Der Vater des Klägers bewohnt mit seiner Ehefrau und zwei gemeinsamen Kindern eine 109 m2 große Vier-Zimmer-Wohnung. Der Vater und seine Ehefrau haben schriftlich erklärt, einer der Söhne leide am ADHS-Syndrom, die Ehefrau seit Geburt an multipler Skelettdisplasy. Die Aufnahme eines weiteren Kindes in die Wohnung sei nicht möglich, der Ehefrau nicht zumutbar und werde von dieser auch verweigert. Da die räumlichen Verhältnisse auch ohne Berücksichtigung der geltend gemachten Erkrankungen mithin nur die Zuordnung je eines Zimmers zu jedem Familienmitglied erlauben, ohne dass ein Zimmer frei bleibt, und der Kläger zu seinem Vater und dessen Ehefrau nie Kontakt hatte, so dass ggf. auch eine gewisse räumliche Distanz innerhalb der Wohnung zu wahren wäre, ist die Verweigerung der Aufnahme des Klägers durch die Ehefrau des Vaters "berechtigt".
Das Gericht hat erwogen, ob hier die Wohnung der Großeltern des Klägers, bei denen er seit 1995 lebt, als Wohnung im Sinne des § 2 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 BAföG anzusehen ist (so VG Darmstadt, U.v. 26.09.2003 - 8 E 2019/02 - ). Auch wenn nicht zu verkennen ist, dass die tatsächlichen Wohnverhältnisse und der Sinn und Zweck der Regelung ein solches Verständnis nahelegen könnten, sieht sich das Gericht hier an einer solchen Auslegung "gegen den Wortlaut" gehindert. Denn die gesetzliche Formulierung "Wohnung der Eltern" in § 2 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 BAföG ist eindeutig und einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich. Im übrigen weisen die diesem Verfahren zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse auch durchaus bedeutsame Unterschiede zu denen des vom VG Darmstadt entschiedenen Fall auf, in dem der Kläger Zeit seines Lebens nie bei seiner Mutter, sondern von Geburt an bei den Großeltern gelebt hat.
Die Klage hat daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO Erfolg. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.