Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 11.09.2018, Az.: 1 B 170/18

Drittstaaten-Bescheid; Dublin-Verordnung; Anwendungsbereich; Familienasyl; Familieneinheit; Nachgeborenes; Schutzberechtigter; in einem sicheren Drittstaat anerkannt

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
11.09.2018
Aktenzeichen
1 B 170/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 74198
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Entscheidung über einen als gestellt fingierten Asylantrag des im Bundesgebiet nachgeborenen Kindes von in einem EU-Mitgliedstaat anerkannten Schutzberechtigten hat das Bundesamt die asyl- und ausländerrechtlichen Statusentscheidungen dieser personensorgeberechtigten Eltern abzuwarten, sofern solche Entscheidungen bereits ergangen sind oder sich demnächst abzeichnen.

Gründe

Der Antrag,

die aufschiebende Wirkung der Klage – 1 A 169/18 – gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 17. Januar 2018 enthaltene Abschiebungsandrohung anzuordnen,

ist zulässig und begründet.

Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 17. Januar 2018 hat das Bundesamt gegenüber der minderjährigen, im Bundesgebiet geborenen und sodann nach § 14a Abs. 2 AsylG in ein nationales Asylverfahren aufgenommenen Antragstellerin folgende Regelungen getroffen:

1. Der Antrag wird als unzulässig abgelehnt.

2. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes liegen nicht vor.

3. Die Antragstellerin wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung endet die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Sollte die Antragstellerin die Ausreisefrist nicht einhalten, wird sie nach Bulgarien abgeschoben. Die Antragstellerin kann auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist. Die Antragstellerin darf nicht nach Syrien abgeschoben werden.

4. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wird auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.

Der Antrag, der sich auf die in dem Bescheid (Ziffer 3) enthaltene Abschiebungsandrohung beschränkt, ist zulässig.

Das Bundesamt hat vorliegend die Abschiebungsandrohung sowohl auf § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG in Verbindung mit § 26a AsylG als auch auf § 35 AsylG gestützt. Dabei hat es im Rahmen seiner Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1) zu erkennen gegeben, dass es diese – gleichsam wahlweise – aus § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG oder aus § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG herleitet. Zur Begründung hat es darauf verwiesen, dass die Eltern der Antragstellerin – die Kläger in dem bei der 3. Kammer des erkennenden Gerichts anhängig gewesenen und durch rechtskräftiges Urteil vom 8. Januar 2018 – 3 A 197/17 – abgeschlossenen Verfahrens – bereits in Bulgarien ein Asylverfahren durchgeführt hätten und ihnen dort internationaler Schutz zuerkannt worden sei. Weiter hat es ausgeführt:

„Nach Art. 20 Abs. 3 Dublin-VO ist für Kinder, die in einem Mitgliedstaat geboren werden, die Frage der Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags untrennbar mit der Situation ihrer Familienangehörigen, also ihrer Eltern verbunden. Die Mitgliedstaaten wenden zwar die Dublin-VO auf Ausländer, die in einem Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz erhalten haben, nicht mehr an. Nach Auffassung verschiedener Verwaltungsgerichte ist für den Asylantrag der Kinder gleichwohl der Mitgliedstaat zuständig, der für das Asylverfahren der Eltern zuständig war und diesen internationalen Schutz zuerkannt hat (s. VG Cottbus, Beschluss vom 11.07.2014, VG 5 L 190/14.A; VG Gießen, Beschluss vom 30.06.2014, 8 L 1623/14.GI.A; VG Meiningen, Beschluss vom 04.12.2014, 5 E 20238/14 Me). Dies entspricht auch dem in Erwägungsgrund 15 der Dublin-VO verankerten Grundsatz der Familieneinheit.

Auch nach Art. 23 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. Die Antragstellerin hat danach in Bulgarien Anspruch auf die in Art. 24 bis 35 der Qualifikationsrichtlinie genannten Leistungen, wie beispielsweise Aufenthaltstitel, Sozialhilfe, medizinische Versorgung, Wohnraum und Integrationsmaßnahmen.

Aus Art. 8 EMRK erstreckt sich der Schutzstatus auch auf die – in Deutschland nachgeborenen - Kinder (vgl. Urteil VG Hannover v. 30.08.2016, Az. 2 A 1729/15 bestätigt durch Beschluss OVG Lüneburg v. 14.11.2017, Az. 10 LA 107/17).

§ 29 Abs. 1 Nr. 1a und 2 AsylG bestimmen, dass Asylanträge als unzulässig abzulehnen sind, wenn ein anderer Staat zuständig ist, oder wenn ein Mitgliedstaat der Europäischen Union der Ausländerin bereits internationalen Schutz gewährt hat. In Verbindung mit den o.g. Grundsätzen ist daher auch der Asylantrag der Antragstellerin als unzulässig abzulehnen. In Deutschland ist kein Asylverfahren für ein Kind durchzuführen, dessen Eltern bereits internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union erhalten haben.

Da der Asylantrag unzulässig ist, wird der Asylantrag nicht materiell geprüft.“

Diese Erwägungen werden einer rechtlichen Überprüfung in dem anhängigen Hauptsacheverfahren – 1 A 169/18 – nicht standhalten. Das Bundesamt nimmt bislang nicht zur Kenntnis, dass spätestens seit der Entscheidung des EuGH (Dritte Kammer) vom 25. Januar 2018 – C-360/16 – in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland gegen Aziz Hasan geklärt ist, dass sich der Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung (VO (EU) Nr. 604/2013) gem. Art. 23 und 24 dieser Verordnung nicht auf Drittstaatsangehörige erstreckt, denen in einem EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt und somit das Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung nach den Regeln der Dublin-III-Verordnung abgeschlossen ist (EuGH, a. a. O., zit. nach EUR-Lex, Rn. 42 ff.; vgl. auch EuGH, Beschluss vom 5. April 2017 – C-36/17 – Rechtssache Ahmed, zit. nach EUR-Lex, Rn. 41 f.). Somit ist die vom Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid zitierte Rechtsprechung verschiedener Verwaltungsgerichte überholt. Dies gilt auch für weitere, nicht vom Bundesamt zitierte Entscheidungen, die in den Fällen von im Bundesgebiet nachgeborenen Angehörigen anerkannter Schutzberechtigter eines EU-Mitgliedstaats ihre Begründung für fehlende ernstliche Zweifel an dem Unzulässigkeitsurteil des Bundesamtes gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auf Art. 20 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung stützen (vgl. etwa VG Stuttgart, Beschluss vom 28. Dezember 2016 – A 5 K 8144/16 –, zit. nach juris Rn. 6).

Da die minderjährige Antragstellerin – anders als ihre Eltern – vorliegend weder einen Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes in Bulgarien gestellt, noch von Bulgarien als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigte anerkannt wurde, kann die getroffene Unzulässigkeitsentscheidung auch nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden (vgl. VG Minden, Beschluss vom 10. November 2016 – 11 L 1842/16.A –, zit. nach juris Rn. 6 bis 8).

Ob es zutreffend und ausreichend ist, der minderjährigen Antragstellerin Abschiebungsschutz auf Grundlage des Art. 8 EMRK im Hinblick auf die ihren Eltern zuerkannten nationalen Abschiebungsverbote zu gewähren (so VG Minden, a. a. O., Rn. 11; wohl auch VG Hannover, Urteil vom 30. August 2016 – 2 A 1729/15 – n.v., bestätigt durch Nds. OVG, Beschluss vom 14. November 2017 – 10 LA 107/17 – v.n.b.) bedarf nach Auffassung des Einzelrichters hier keiner Entscheidung.

Es braucht auch nicht abgewartet werden, ob der EuGH auf die unter den Aktenzeichen C-540/17 und 541/17 bei ihm anhängigen Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (Vorlagebeschlüsse vom 2. August 2017 – 1 C 37/16 und 1 C 2/17 –) zu Art. 33 Abs. 2 lit. a) der Anerkennungsrichtlinie (RL 2013 / 32 / EU) entscheidet, dass diese Vorschrift unionsrechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen ist, dass eine derartige Unzulässigkeitsentscheidung in den Fällen nicht getroffen werden darf, in denen die Lebensbedingungen anerkannt Schutzberechtigter in einem EU-Mitgliedsstaat gegen Art. 4 GrdRCh verstoßen (vgl. Schlussantrag des Generalanwalts beim EuGH (Wathelet) vom 25. Juli 2018 in den Rechtssachen C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, abrufbar in BeckRS 2018, 16352).

Nach Auffassung des Einzelrichters war das Bundesamt aufgrund der gemäß § 14a Abs. 2 AsylG am 7. Dezember 2017 vorgenommenen Meldung der zuständigen Ausländerbehörde (Landkreis Northeim) jedenfalls im vorliegenden Einzelfall nicht berechtigt, über den als gestellt fingierten Asylantrag der minderjährigen Antragstellerin durch Bescheid vom 17. Januar 2018 bereits zu diesem frühen Zeitpunkt abschließend zu entscheiden. Denn das Bundesamt hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Kenntnis vom Ausgang des beim erkennenden Gericht – 3. Kammer – anhängig gewesenen Klageverfahrens der Eltern der Antragstellerin. Der Einzelrichter der 3. Kammer hatte zuvor mit (inzwischen rechtskräftigem) Urteil vom 8. Januar 2018 – 3 A 197/17 – die Antragsgegnerin verpflichtet, für die Eltern der Antragstellerin ein nationales Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Bulgarien festzustellen. Die entsprechenden feststellenden Bescheide hat das Bundesamt offenbar am 20. Februar 2018 erlassen. Im Anschluss hieran hat die zuständige Ausländerbehörde (Landkreis Northeim) den Eltern der Antragstellerin am 12. bzw. 16. April 2018 Aufenthaltserlaubnisse gem. § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt. Gemäß § 14a Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 3 AsylG gilt die Anzeigepflicht hinsichtlich eines im Bundesgebiet geborenen Kindes eines Asylantragstellers nur in den Fällen, in denen ein Elternteil lediglich eine Aufenthaltsgestattung besitzt oder sich nach Abschluss seines Asylverfahrens ohne Aufenthaltstitel oder (nur) mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG im Bundesgebiet aufhält. Die Verknüpfung der Anzeigepflicht mit dem aufenthaltsrechtlichen Status eines Elternteils erklärt sich vor dem Hintergrund, dass die Vorschrift nach dem Willen des Gesetzgebers verhindern soll, dass durch sukzessive Asylantragstellung überlange Aufenthaltszeiten im Bundesgebiet ohne aufenthaltsrechtliche Perspektiven für den betroffenen Familienverband entstehen (vgl. BT-Drs. 14/7387, S. 100; BT-Drs. 15/420, S. 108). Besitzt hingegen ein personensorgeberechtigter Elternteil des im Bundesgebiet Neugeborenen ein stabileres Aufenthaltsrecht, besteht folglich kein Anlass zur Durchführung eines Asylverfahrens für das Neugeborene aufgrund fiktiver Antragstellung (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 9. Februar 2009 – AN 3 K 07.30764 –, zit. nach juris Rn. 33 m. w. N.; Hailbronner, Ausländerrecht Kommentar, Band 3, Stand: 102. Aktualisierung Mai 2017, § 14a AsylG Rn. 13).

In der bei der erkennenden Kammer anhängigen Hauptsache – 1 A 169/18 – wird es daher entscheidungserheblich auf die Beantwortung der Frage ankommen, ob nicht der Bescheid des Bundesamtes vom 17. Januar 2018 im Hinblick auf den Aufenthaltsstatus der Eltern der Antragstellerin insgesamt im Wege einer isolierten Anfechtungsklage der Aufhebung unterliegt (zur Zulässigkeit einer isolierten Anfechtungsklage neben einem Verpflichtungsbegehren auf Feststellung von Abschiebungsverboten vgl. BVerwG, Urteil vom 21. November 2006 – 1 C 10.06BVerwGE 127, 161, zit. nach juris Rn. 12 und 15 ff.).

Dessen ungeachtet ist die aufschiebende Wirkung der Klage – 1 A 169/18 – auch deshalb anzuordnen, weil die in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 17. Januar 2018 (Ziffer 3) enthaltene Abschiebungsandrohung hinsichtlich Bulgarien ernstlichen Zweifeln an ihrer Rechtmäßigkeit im Sinne des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG unterliegt. Durch die Rechtsprechung des Nds. OVG, der der erkennende Einzelrichter folgt, ist mittlerweile geklärt, dass anerkannten Schutzberechtigten in Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit droht, weil sie in der Regel faktisch keinen Zugang zu Wohnraum haben, mithin eine Abschiebung nach Bulgarien gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aus Art. 3 EMRK verstoßen würde (vgl. Nds. OVG, Urteile vom 29. und 31. Januar 2018 – 10 LB 83/17 und 84/17 – zit. nach juris). Hinsichtlich des Urteils des Nds. OVG vom 29. Januar 2018 (a. a. O.) hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 20. August 2018 – 1 B 18.18 – (abrufbar unter: https://www.bverwg.de/de/200818B1B18.18.0) die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Nichtzulassung der Revision mittlerweile zurückgewiesen, sodass der Einzelrichter keine Veranlassung hat, die vom Nds. OVG getroffenen Feststellungen zur Lage in Bulgarien seiner Entscheidungsfindung im vorliegenden Verfahren nicht zugrunde zu legen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).

Der Antragstellerin ist gemäß § 166 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO Prozesskostenhilfe in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang zu bewilligen, da ihr Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife aus den vorstehenden Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg und die Antragstellerin ihre Prozessarmut glaubhaft gemacht hatte.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).