Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 05.02.2002, Az.: 3 A 3130/01

Abgabenbescheid; Aufhebung bestandskräftiger kommunaler Abgabenbescheide; Ermessen; mit Wirkung für die Vergangenheit; Rechtssicherheit; rechtswidrig; Zweitwohnungssteuerbescheid

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
05.02.2002
Aktenzeichen
3 A 3130/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 42868
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Ablehnung eines Antrages auf Aufhebung unrichtiger, aber bestandskräftiger kommunaler Abgabenbescheide ist nicht ermessensfehlerhaft im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 3 b NKAG i.V.m. § 130 Abs. 1 AO 1977, wenn es dem Abgabepflichtigen zumutbar war, rechtzeitig gegen die unrichtigen Abgabenfestsetzungen vorzugehen.

Tenor:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin R. aus G. wird abgelehnt.

Gründe

1

Die beantragte Prozesskostenhilfe für das Begehren der Klägerin,

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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 3.5.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.7.2001 zu verpflichten,

3

ihre bestandskräftigen Zweitwohnungssteuerbescheide vom 20.8.1998 für März bis Dezember 1998 über 232,00 DM, vom 18.1.1999 für 1999 über 348,00 DM und vom 17.1.2000 für 2000 über 348,00 DM jeweils mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen und der Klägerin die mit diesen Bescheiden erhobenen - bereits gezahlten - Steuern in Höhe von insgesamt 928,00 DM zu erstatten,

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hilfsweise, über den sinngemäßen Rücknahmeantrag der Klägerin vom 19.4.2001 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden,

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ist abzulehnen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO).

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Die Beklagte hat das vorgenannte Verpflichtungsbegehren der Klägerin mit den angefochtenen Bescheiden vom 3.5.2001 und 10.7.2001 ermessensfehlerfrei abgelehnt. Die Klägerin hat - entgegen ihrer Ansicht - keinen Anspruch rückwirkende Aufhebung der bestandskräftig gewordenen Zweitwohnungssteuerbescheide für die Jahre 1998 bis 2000. Rechtsgrundlage eines solchen Anspruchs könnte ausschließlich § 11 Abs. 1 Nr. 3b des Niedersächsischen Kommunalabgabengesetzes - NKAG - i. V. m. § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 - sein, wonach rechtswidrige belastende Verwaltungsakte auch nach Eintritt der Unanfechtbarkeit ganz oder teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden können. Bei Anwendung des § 130 Abs. 1 AO 1977 über die Rücknahme der - hier unterstellt - rechtswidrigen bestandskräftigen Zweitwohnungssteuerbescheide vom 20.8.1998, 18.1.1999 und 17.1.2000 ist zunächst davon auszugehen, dass die materielle Gerechtigkeit im gesetzlich zugelassenen Rechtsmittelverfahren zu verwirklichen ist. Ist dieses beendet oder ist die Rechtsmittelfrist mangels Einlegung eines Rechtsmittels abgelaufen, schließt der Grundsatz der Rechtssicherheit einen Rechtsanspruch auf Beseitigung von unanfechtbaren behördlichen Entscheidungen grundsätzlich aus. Auch im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO 1977 ist deshalb der Entscheidung der Behörde, Verwaltungsakte, deren Fehlerhaftigkeit sich nachträglich herausgestellt hat, gleichwohl nicht zurückzunehmen, grundsätzlich vom Prinzip der Rechtssicherheit gedeckt und mit Rücksicht auf den im Abgabenrecht bedeutsamen Grundsatz der Verwaltungspraktikabilität im Regelfall zu billigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Betroffene zur Begründung seines Rücknahmeantrages nur solche Umstände vorträgt, die er bei fristgerechter Einlegung des statthaften Rechtsmittels im Rechtsbehelfsverfahren vorzubringen in der Lage gewesen wäre. Ein Anspruch auf Rücknahme wird regelmäßig nur dann gegeben sein, wenn das Ermessen der Gemeinde aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls ausnahmsweise "auf Null" reduziert ist. Dies anzunehmen setzt voraus, dass die Aufrechterhaltung der bestandskräftig gewordenen Bescheide schlechterdings unerträglich wäre oder ein Beharren auf der Bestandskraft der Bescheide als ein Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erschiene (vgl. OVG Lüneburg, Beschlüsse vom 18.4.2000 - 9 L 508/00 - und vom 18.12.1998 - 9 L 5283/97 -; OVG Münster, Urteile vom 18.3.1996 - 9 A 3703/93 - und vom 16.6.1994 - 9 A 128/93 -; BFH, Urteil vom 26.3.1991 - VII R 15/89 -, BFHE 164, 215 = BStBl II 1991, 552, und Beschluss vom 24.1.2001 - 1 B 91.00 -).

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Ein solcher Ausnahmefall ist hier entgegen der Ansicht der Klägerin nicht gegeben. Die Beklagte hat die Rücknahme der Zweitwohnungssteuerbescheide für 1998, 1999 und 2000 abgelehnt, weil diese bestandskräftig seien und die Klägerin ihren erstmals am 19.4.2001 gegenüber der Beklagten geltend gemachten Einwand, sie verfüge an ihrem Hauptwohnsitz in B. nicht über eine eigene Wohnung, sondern lebe in einem Zimmer in der Wohnung ihrer Mutter, bereits nach Bekanntgabe der Zweitwohnungssteuerbescheide vom 20.8.1998, 18.1.1999 und 17.1.2000 mit Anfechtungswidersprüchen (nach Maßgabe der jeweils erteilten Rechtsbehelfsbelehrungen) hätte geltend machen können und müssen; dass sie dies unterlassen habe, gehe zu ihren Lasten. Diese Erwägungen tragen die Ermessensentscheidung im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO 1977 und sind rechtlich nicht zu beanstanden. Der Umstand, dass die Beklagte für die Jahre 1998 bis 2000 wohl rechtswidrige Zweitwohnungssteuerveranlagungen vorgenommen hat, stellt keine Besonderheit dar, sondern ist der typische Anwendungsfall des § 130 Abs.1 AO 1977. Sonstige außergewöhnliche Umstände, die hier bei der Abwägung dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ausnahmsweise Vorrang vor dem Grundsatz der Rechtssicherheit verleihen könnten, sind für die Kammer nicht ersichtlich. Wesentliche Grundlage der (bestandskräftigen) Zweitwohnungssteuerveranlagungen für die Jahre 1998 bis 2000 war die unter dem 16.7.1998 von der - damals bereits volljährigen - Klägerin und späteren Zweitwohnungssteuerschuldnerin abgegebene Erklärung, ihre Nebenwohnung in G. sei Zweitwohnung im Sinne der Zweitwohnungssteuersatzung. Außer dieser - rückschauend betrachtet wohl unzutreffenden - Steuererklärung hat sich die Klägerin selbst bis zum 19.4.2001 niemals schriftlich oder telefonisch an die Beklagte gewandt und auf ergangene Zweitwohnungssteuerbescheide in keiner Weise reagiert. Rechtlich irrelevant ist, ob die Mutter der Klägerin - wie diese in ihrem am 3.5.2001 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben angegeben hat - in einem Telefongespräch am 28.9.1998 - also mehr als zwei Monate nach der Steuererklärung der Klägerin vom 16.7.1998 - durch den damaligen Sachbearbeiter der Beklagten (Herrn K.) "falsche Informationen" bekommen und daher die Zweitwohnungssteuer für die Klägerin bezahlt hat.