Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 27.02.2002, Az.: 2 A 2057/01

Außenkontakt; Behinderter; Eingliederungshilfe; Gemeinschaftsreise; Sozialhilfe; Sozialhilferichtlinie; Werkstatt für Behinderte; Wohnheim

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
27.02.2002
Aktenzeichen
2 A 2057/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43924
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Frage, wann ein seelisch wesentlich Behinderter zu dem Personenkreis gehört, für den die Teilnahme an einer Gemeinschaftsreise nötig ist, um ihm die Begegnung und den Umgang mit Nichtbehinderten zu ermöglichen.

Tenor:

Die Beklagte wird unter entsprechender Änderung ihres Bescheides vom 19.07.2000 und des Widerspruchsbescheides des Nds. Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 06.02.2001 verpflichtet, dem Kläger Ein-gliederungshilfe in Höhe von 214,01 ¤ (entspricht 418,57 DM) für seine Teilnahme an der Gemeinschaftsreise vom 01.07.2000 bis zum 08.07.2000 in den Bayerischen Wald zu gewähren.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der Kostenforderung des Klägers abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Übernahme von Kosten für die Teilnahme an einer Gemeinschaftsreise und hilfsweise die Freilassung dieser Kosten von dem Kosten-beitrag im Sinne von § 43 Abs. 1 S. 2 BSHG.

2

Der am geborene Kläger ist seelisch wesentlich behindert. Er erhält seit Februar 1995 Eingliederungshilfe von der Beklagten, ist - gemeinsam mit zwei anderen Behinderten - in einer Außenwohngruppe des Wohnheims untergebracht und wird darüber hinaus teilstati-onär in den Göttinger Werkstätten betreut. In dem Zeitraum April bis Dezember 2000 hat er vier Fahrten selbständig mit der Bahn zu seinem in Essen wohnenden Bruder unter-nommen. Von dem in den Göttinger Werkstätten erzielten Einkommen bleibt ein Betrag von 12,5 % des Regelsatzes für den Haushaltsvorstand sowie 25 % des übersteigenden Betrages frei; der Rest wird als Kostenbeitrag vereinnahmt.

3

Nachdem die Beklagte bereits für den Kläger die Kosten einer Gemeinschaftsreise vom 16. bis 23.05.1999 in die Sächsische Schweiz übernommen hatte, beantragte der Kläger am 27.03.2000 die Übernahme der Kosten für eine weitere Gemeinschaftsreise vom 01.07. bis 08.07. in den Bayerischen Wald, hilfsweise die Verringerung des Kostenbei-trags um die Kosten der Reise. Das Wohnheim gab zur Frage der Notwendigkeit einer solchen Reise im Rahmen der Eingliederungshilfe folgende Stellungnahmen ab:

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Stellungnahme vom 09.04.2000

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Bei Herrn K liegt eine paranoide-halluzinatorische Psychose vor. Er wird seit 1977 in der Nervenklinik behandelt.

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Herr K hat große Defizite in der Strukturierung seines Lebens, Sinn und Ziel in der Lebensgestaltung sieht er nicht, diesbezüglich ist er orientie-rungslos und anlehnungsbedürftig. Emotionen und Interesse sind abge-flacht, er lebt so vor sich hin, ohne Lebensfreude, aber auch ohne Lebens-überdruss. Angst vor der Einsamkeit hat immer wieder zu stationären Be-handlungen in der Nervenklinik geführt.

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Herr K pflegt keinerlei Außenkontakte zu Nichtbehinderten. Er ist ein Ein-zelgänger und benötigt Unterstützung, um außerhalb des Wohnheims und der Werkstatt Kontakte und Aktivitäten wahrzunehmen. Der Umzug in die Heimaußenwohngruppe vermittelt nicht zwangsläufig Außenkontakte. Der Umzug erfolgte in erster Linie deshalb, weil Herr K im lebenspraktischen Bereich mehr Eigenständigkeit wünschte. Die Entscheidung, Herrn K in ei-ne Außenwohngruppe zu verlegen, ist sicherlich eine Gratwanderung. Uns ist bewusst, dass seine soziale Isolation verstärkt werden kann, von daher ist es für Herrn K außerordentlich wichtig, dass er mit den anderen Bewoh-nern an einer Gemeinschaftsreise teilnehmen kann.

8

Herr K benutzt zwar öffentliche Verkehrsmittel, um in die WfB zu kommen, und sieht somit sicherlich im Bus nichtbehinderte Menschen. Unseres Er-achtens kann aber nur der Anblick von nichtbehinderten Menschen nicht als Kontakt gewertet werden.

9

Die Teilnahme an der Gemeinschaftsreise im Jahr 1999 hat gezeigt, dass sich die psychische Befindlichkeit von Herrn K etwas verbessert hat. Er ist jetzt auch eher bereit, an Aktivitäten des Wohnheims teilzunehmen, anstatt sich zurückzuziehen.

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Nach unseren Erfahrungen ist die Gemeinschaftsreise eine gute Möglich-keit, Ängste gegenüber Fremden abzubauen sowie Hospitalisierungsschä-den zu vermeiden. Außerdem vermittelt sie Normalität und Lebensfreude....

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Stellungnahme vom 14.06.2000

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...Die Maßnahme ist geeignet, die Begegnung und den Umgang mit nicht-behinderten Menschen zu ermöglichen, die nichtheimbetreuungs- bzw. heimpflegebedürftig sind.

13

...Aus unserer Sicht vermitteln neue Eindrücke die Bereitschaft zu Aktivitä-ten in der Gemeinschaft und fördern die Persönlichkeitsentwicklung.

14

...Es ist zu erwarten, dass neben dem reinen Erholungszweck die Teilnah-me an der beantragten Reise hilft, Ängste gegenüber Fremden abzubau-en sowie Hospitalisierungsschäden zu vermeiden. Die Unterbringung während der Gemeinschaftsreise erfolgt in Häusern in einer Ferienanlage, die ausschließlich von nichtbehinderten Menschen aufgesucht werden.

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...Bei Nichtteilnahme an der Reise sind Nachteile (z. B. Vereinsamung, Minderung des Selbstwertgefühls, Hospitalisierungsschäden) zu erwar-ten.

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...Die Teilnahme an der Reise ist aus gesundheitlichen Gründen unbedenk-lich und dem Gesundheitszustand förderlich.

17

...Positive Auswirkungen einer Gemeinschaftsreise sind, dass das Selbst-wertgefühl gesteigert wird, Ängste gegenüber Fremden abgebaut werden und die Bereitschaft zu Aktivitäten in der Gemeinschaft erhöht wird.

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Wir halten die Teilnahme an der Gemeinschaftsreise für notwendig, da sie zur Stabilisierung des psychischen Gesundheitszustandes bzw. der Er-krankung beiträgt.....

19

Das Nds. Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben erteilte unter dem 07.03.2000 ein grundsätzliches Kostenanerkenntnis betreffend die Reise in Höhe von 418,57 DM pro teilnehmendem Behinderten. Mit Bescheid vom 19.07.2000 lehnte die Beklagte die Anträ-ge des Klägers jedoch ab. In dem Bescheid wird im Wesentlichen ausgeführt: Die Ge-meinschaftsreise werde aus behindertenpädagogischen Gründen anerkannt, da sie ge-eignet sei, den Behinderten am Zielort die Begegnung und den Umgang mit nichtbehin-derten Personen zu ermöglichen oder zu erleichtern; sie solle zudem durch die Vermitt-lung neuer Eindrücke und die Entwicklung der Bereitschaft zu Aktivitäten in der Gemein-schaft die Persönlichkeitsentwicklung fördern, vor allem im Hinblick auf eine positive Le-benseinstellung und eine vergrößerte Selbständigkeit; teilnahmeberechtigt seien vor allem Personen, die in stationären Einrichtungen betreut würden und die die Freizeitangebote außerhalb der Einrichtung aus persönlichen Gründen objektiv nicht nutzen könnten (feh-lende Außenkontakte, da die Einrichtung entsprechende Freizeitaktivitäten nicht vorsehe oder der Behinderte objektiv nicht daran teilnehmen könne); eine Isolierung sei bei statio-närer Unterbringung eindeutig gegeben, da hier offensichtlich wenig oder keine Außen-kontakte bestünden; der Kläger würde in einer Außenwohngruppe betreut und verfüge daher über genügend Außenkontakte im näheren Umfeld seiner Wohnung, die ihm den Kontakt mit nichtbehinderten Personen wesentlich erleichtern würden; auch lebe er nicht allein, sondern mit einem Partner zusammen, der auch die Werkstatt für Behinderte besu-che; somit könne von einer Isolierung, der die Fahrt entgegenwirken solle, nicht ausge-gangen werden; eine Freilassung vom Kostenbeitrag in Höhe der Kosten für diese Ge-meinschaftsreise als besonderer Belastung sei gesetzlich nicht vorgesehen und daher abzulehnen.

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Auf den Widerspruch des Klägers vom 15.08.2000 verminderte das Nds. Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben den von dem Kläger zu zahlenden Kostenbeitrag für die Tage der Reise um insgesamt 49,23 DM. Im Übrigen wies es den Widerspruch mit im Wesentli-chen folgender Begründung zurück: Es habe in seinem Rundschreiben Nr. 22/97 vom 27.11.1997 ausgeführt, dass Gemeinschaftsreisen für Heimbewohner gefördert werden könnten, sofern die Teilnehmer aus persönlichen Gründen objektiv nicht in der Lage sei-en, Kontakte außerhalb der Einrichtung in deren näherem Umfeld herzustellen; bei Behin-derten, die eine Werkstatt für Behinderte besuchten (auch wenn sie in einem Wohnheim lebten), könne im Regelfall davon ausgegangen werden, dass sie über Außenkontakte im näheren Umfeld der Wohnung oder des Heimes verfügten, die ihnen den Kontakt mit nichtbehinderten Personen gewährleisteten; das VG Hannover habe mehrfach entschie-den, dass dieser Bereich der Regelung durch Verwaltungsvorschriften zugänglich sei; es habe das besagte Rundschreiben nicht beanstandet; der Kläger würde regelmäßig eine Werkstatt für Behinderte besuchen, besondere Bedeutung komme dem Umstand zu, dass bei der Anfahrt zu dieser Werkstatt öffentliche Verkehrsmittel benutzt würden; aus dem Verlaufsbericht der betreuenden Einrichtung vom 26.10.2000 gehe ferner hervor, dass er neben den Besuchen seines Vaters und Bruders durchaus in der Lage sei, an Aktivitäten seiner Wohngruppe, wie z. B. Freizeiten, Festen und Gruppenausflügen teilzunehmen, und darüber hinaus im lebenspraktischen Bereich alle häuslichen Aufgaben weitgehend selbständig erledige; die schrittweise angestrebte und von ihm gewünschte Verselbstän-digung in der Außenwohngruppe sei ebenfalls als Indiz für Kontakte zu nichtbehinderten Personen zu werten, zudem dürfe die Förderung solcher Kontakte bei dieser Betreu-ungsform auch konzeptionell zum Aufgabenbereich der Einrichtung zählen; die in seinem Fall zustande kommenden Begegnungen mit nichtbehinderten Personen seien Kontakte, die nicht im Zusammenhang mit der Betreuung im Wohnheim K und in der Werkstatt für Behinderte stehe; tatsächlich würden auch derartige Begegnungen über die typischen, innerhalb der Behinderteneinrichtung und durch die Einrichtung initiierten und stattfinden-den Kontakte hinausgehen; weitere Maßnahmen zur Teilnahme am Leben in der Ge-meinschaft seien daher für ihn zur Ermöglichung von Kontakten zu nichtbehinderten Per-sonen nicht erforderlich; da es nicht Aufgabe der Sozialhilfe sei, Urlaubs- oder Ferienrei-sen zu finanzieren, verbiete es sich, bei der Festsetzung von Kostenbeiträgen die Auf-wendungen für solche Reisen durch Einräumung von Freibeträgen indirekt zu finanzieren.

21

Der Kläger hat am 27.02.2001 Klage erhoben. Er trägt vor: An der Gemeinschaftsreise hätten - einschließlich ihm - sieben Personen teilgenommen, bei etwa der Hälfte der Be-wohner seien die Reisekosten durch den Sozialhilfeträger übernommen worden; dabei sei der Gleichheitssatz verletzt worden; durch die unterschiedliche Bescheidung sei die Be-wohnerschaft des Heimes quasi in zwei Lager gespalten, was zu einem erheblichen Un-frieden im Heim beigetragen habe; darüber hinaus sei einzuwenden, dass bis in das Jahr 2000 solche Gemeinschaftsreisen durchgehend genehmigt worden seien und dass offen-sichtlich aus sparpolitischen Überlegungen die Behörden nun anders entscheiden wür-den; die Behörde meine, auf dem juristischen Wege bei dem Schwächsten der Schwa-chen vorliegend zu "sparen"; hilfsweise wäre der Kläger bereit, die Reise selbst zu finan-zieren, verfüge jedoch nicht über genügend Mittel, um die Kosten anzusparen; es bestehe aber die Möglichkeit, die Kosten von dem Kostenbeitrag, den der Kläger zu leisten habe, abzusetzen, insofern würde § 85 BSHG einen Ermessensspielraum lassen; er sei der Meinung, dass ein Hilfeempfänger in einer Einrichtung das Recht habe, wie jeder andere Bundesbürger einmal im Jahr in Urlaub bzw. in eine vergleichbare Freizeitgestaltung fah-ren zu können.

22

Der Kläger beantragt,

23

die Beklagte unter entsprechender Änderung ihres Bescheides vom 19.07.2000 und des Widerspruchsbescheides des Nds. Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 06.02.2001 zu verpflichten, dem Kläger Eingliederungshilfe in Höhe von 214,01 EUR (=418,57 DM) für die Teil-nahme an der Gemeinschaftsreise vom 01.07. bis 08.07.2000 in den Baye-rischen Wald zu gewähren,

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hilfsweise,

25

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der oben genannten Be-scheide zu verpflichten, den von dem Kläger im Jahre 2000 erhobenen Kostenbeitrag pauschal um 214,01 EUR (=418,57 DM) zu verringern.

26

Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

28

Sie wiederholt und vertieft die Gründe der angefochtenen Bescheide.

29

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben über die Frage, ob und in welchem Umfang der Kläger außerhalb der streitbefangenen Gemeinschaftsreise Au-ßenkontakte außerhalb des Wohnheimes und der Werkstatt für Behinderte hat, durch Vernehmung des Leiters des Wohnheims K, B, als Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

30

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze, auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und auf den Inhalt der Gerichtsakte 2 A 2056/01 Bezug genommen. Die Un-terlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

31

Die zulässige Klage hat im Hauptantrag Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf Bezuschus-sung der Reise vom 01.07. bis 08.07.2000 in den Bayerischen Wald in der geltend ge-machten Höhe als Maßnahme der Eingliederungshilfe.

32

Der Kläger ist nicht nur vorübergehend seelisch wesentlich behindert und gehört somit zu dem Personenkreis des § 39 Abs. 1 S. 1 BSHG, der Anspruch auf Gewährung von Ein-gliederungshilfe für Behinderte hat, deren Aufgabe es ist, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern (§ 39 Abs. 3 S. 1). Zu den Maß-nahmen der Eingliederungshilfe gehört (§ 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG in der bis zum 30.06.2001 geltenden Fassung; vgl. zum neuen Recht Art. 68 Abs. 1 des Gesetzes vom 19.06.2001 BGBl. I, S. 1046) die Hilfe zur Teilnahme am Leben der Gemeinschaft. In § 19 Nr. 1 der Eingliederungshilfe-VO (ebenfalls in der bis zum 30.06.2001 geltenden Fassung) wird näher ausgeführt, dass die Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft Maß-nahmen umfasst, die geeignet sind, dem Behinderten die Begegnung und den Umgang mit nichtbehinderten Personen zu ermöglichen, zu erleichtern oder diese vorzubereiten. Gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 BSHG richten sich Art, Maß und Form der Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen, wobei über Form und Maß der Hilfe im Regelfall (so auch hier) nach § 4 Abs. 2 dieses Gesetzes nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist.

33

Zwischen den Beteiligten ist nicht im Streit, dass Gemeinschaftsreisen von Behinderten, die fachlicht betreut werden, an Orte, an denen die Gewähr gegeben ist, dass Kontakte mit Nichtbehinderten zustandekommen, in besonderer Weise geeignet sind, das Ziel der Eingliederungshilfe zu erreichen. Das Nds. Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben hat im Rahmen seiner Zuständigkeit nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 BSHG in seinem Rundschreiben Nr. 22/97 vom 27.11.1997 den Zweck solcher Reisen für stationär unter-gebrachte Behinderte wie folgt beschrieben:

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1.2. Die Maßnahme muss geeignet sein, den Behinderten am Zielort die Begegnung und den Umgang mit nichtbehinderten Personen zu ermögli-chen oder zu erleichtern. Sie soll zudem durch die Vermittlung neuer Ein-drücke und die Entwicklung der Bereitschaft zu Aktivitäten in der Gemein-schaft die Persönlichkeitsentwicklung fördern, vor allem im Hinblick auf ei-ne positive Lebenseinstellung und eine vergrößerte Selbständigkeit. Ziele einer Gemeinschaftsreise sind insbesondere

35

- das Zusammenleben in einer Gemeinschaft unter veränderten Bedin-gungen kennen zu lernen, einzuüben und die Sozialisationsfähigkeit zu fördern,

36

- die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu fördern,

37

- die Orientierungsfähigkeit in einer anderen als der sonst gewohnten Umgebung zu entwickeln oder zu stärken,

38

- die Teilnehmer mit ihnen ungewohnten Lebensformen bekannt zu ma-chen,

39

- die Fähigkeit der Teilnehmer zur Kontaktaufnahme und zur Herstellung neuer Beziehungen zu fördern oder zu stärken (Integration),

40

- eine stationäre Maßnahme durch eine ergänzende behinderten-pädagogische Maßnahme am anderen Ort und unter veränderten situa-tiven Anforderungen an den Behinderten zu unterstützen.

41

Dem ist nichts hinzuzufügen. Zwischen den Beteiligten ist - aufgrund des Anerkenntnis-schreibens des Nds. Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 07.03.2000 - fer-ner nicht im Streit, dass die Reise in den Bayerischen Wald vom 01.07. bis 08.07.2000, an der der Kläger zusammen mit anderen Bewohnern des Wohnheims K teilgenommen hat, eine Gemeinschaftsreise im Sinne der gesetzlichen Zielsetzung und des Rundschrei-bens Nr. 22 ist. Umstritten ist lediglich, ob der Kläger zu dem Personenkreis gehört, für den die Teilnahme an der Reise nötig ist, um die Begegnung und den Umgang mit Nicht-behinderten zu ermöglichen. Die Kammer bejaht diese Frage. Insoweit geht es um das Maß der Hilfe, das - wie oben ausgeführt - im Ermessen des Sozialhilfeträgers steht. Das Nds. Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben ist - wie in dem Rundschreiben Nr. 22 geschehen - auch ohne weiteres befugt, ermessenshindernde Richtlinien zu erlassen, wobei allerdings im Einzelfall die zentrale Vorschrift des § 3 Abs. 1 S. 1 BSHG (Hilfe nach der Besonderheit des Einzelfalls) nicht außer acht gelassen werden darf. Das hat die Be-klagte jedoch getan. Die Besonderheiten des Einfalles gebieten hier nach Auffassung der Kammer vielmehr, dass dem Kläger die Teilnahme an der Gemeinschaftsreise zu ermög-lichen ist.

42

Der geförderte Personenkreis wird in dem genannten Rundschreiben wie folgt bezeichnet:

43

2. Das Land Niedersachsen als überörtlicher Träger der Sozialhilfe über-nimmt Kosten zur Durchführung von Gemeinschaftsreisen entsprechend der Regelung unter Ziffer 5 für Heimbewohner in seiner sachlichen Zustän-digkeit, die die Freizeitangebote außerhalb der Einrichtungen aus persönli-chen Gründen objektiv nicht nutzen können (fehlende Außenkontakte). Dieses gilt für die Fälle, bei denen die jeweilige Einrichtung (Heim) entspre-chende Freizeitaktivitäten nicht vorsieht, oder bei denen der einzelne Be-hinderte objektiv an den angebotenen Freizeitaktivitäten nicht teilnehmen kann. In diesen Fällen ist der Sozialhilfeträger verpflichtet, dem Behinder-ten die Begegnung mit nichtbehinderten Personen zu ermöglichen, auch durch die Kostenübernahme für eine Gemeinschaftsreise.

44

Bei Behinderten, die eine Werkstatt für Behinderte besuchen (auch wenn sie in einem Wohnheim leben), kann im Regelfall davon ausgegangen wer-den, dass sie über Außenkontakte im näheren Umfeld der Wohnung oder des Heimes verfügen, die ihnen den Kontakt mit nichtbehinderten Perso-nen gewährleisten.

45

Angesichts des oben beschriebenen Zwecks der Maßnahme und unter dem Blickwinkel des § 3 Abs. 1 S. 1 BSHG kann die Einschränkung für Behinderte, die eine Werkstatt für Behinderte besuchen, allenfalls als Regelvermutung verstanden werden, die im Einzelfall durchaus widerlegt werden kann. Dadurch wird vermieden, dass ein großer Teil der Be-hinderten gänzlich von Gemeinschaftsreisen ausgeschlossen wird und diese Maßnahme damit letztlich ad absurdum geführt wird. Gerade bei seelisch Behinderten ist es häufig nicht sachgerecht, auf "objektiv" gegebene Möglichkeiten der Freizeitbeschäftigung abzu-stellen, weil das Behinderungsbild es oft nicht zulässt, dass solche Menschen es in der gewohnten Umgebung (Wohnheim, Werkstatt) schaffen, solche Kontakte zu knüpfen, die therapeutische Reisen herbeiführen sollen. Anders gewendet: nur die Behinderten können im Ermessenswege von der Teilnahme an einer Gemeinschaftsreise ausgenommen wer-den, die - unter Berücksichtigung ihres Behinderungsbildes - die reale Möglichkeit haben, selbständig oder unter Anleitung Kontakte mit Nichtbehinderten nach Art und Umfang zu knüpfen, wie es auch bei Gemeinschaftsreisen geschieht, also Begegnungen, Gespräche und vielleicht körperliche Kontakte mit Fremden zu haben. Zu diesem Personenkreis ge-hört der Kläger nicht, wobei allein die Verhältnisse im Sommer 2000 maßgeblich sind, so dass die spätere Entwicklung des Klägers - die u. a. Gegenstand der Vernehmung des Zeugen B war - nicht in Betracht zu ziehen ist.

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Er wird in den Stellungnahmen des Wohnheims vom 09.04.2000 und 14.06.2000 - an deren Richtigkeit Zweifel nicht angebracht sind, zumal der Zeuge B sie bei seiner Ver-nehmung bestätigt hat, - als kontaktarmer Einzelgänger beschrieben, der nahezu emoti-onslos und ohne Lebensfreude vor sich hinlebt und von sich aus keinerlei Außenkontakte zu Nichtbehinderten pflegt. Zwar ist insofern eine Modifikation angebracht, als der Kläger schon zwangsläufig Kontakte mit Betreuern und außerdem mit seinem Bruder hat, den er gelegentlich besucht. Solche Kontakte sind aber denen, die eine Gemeinschaftsreise vermitteln soll, nicht gleichwertig, sie scheiden deshalb von vornherein für eine verglei-chende Betrachtung aus. Das gilt auch für Freizeiten, Feste und Gruppenausflüge - auf die in dem Widerspruchsbescheid hingewiesen wird -, weil diese Veranstaltungen im Kreise der Behinderten und Betreuer stattfinden, die der Kläger ohnehin kennt. Auch der Umstand, dass der Kläger seit einiger Zeit in einer Außenwohngruppe lebt, ist für die hier zu beantwortende Frage irrelevant, denn dabei geht es ausschließlich um mehr Eigen-ständigkeit im lebenspraktischen Bereich. Andere Kontakte in dem oben beschriebenen Sinne hat der Kläger ohne Teilnahme an einer Gemeinschafsreise ersichtlich nicht. Zum einen hindert ihn seine seelische Behinderung daran, zum anderen sind Fahrten im Stadtbus oder Einkäufe im Supermarkt denkbar ungeeignet, um Kontakte der genannten Art zu knüpfen, weil Mitfahrer und Käufer eher selten dazu bereit sind. Das ist offenkundig und bedarf näherer Erläuterung nicht.

47

Mithin sind dem Kläger die Kosten für die Teilnahme an der streitbefangenen Gemein-schaftsreise als Eingliederungshilfe zu gewähren. Der Erlass - nur - eines Beschei-dungsurteils (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO) scheidet aus, da es nach dem oben Ausgeführten ausgeschlossen ist, dass die Beklagte das ihr eröffnete Ermessen pflichtgemäß anders ausüben kann. Der entsprechende Bedarf des Klägers besteht auch noch (vgl. § 5 BSHG), weil der Kläger an der Gemeinschaftsreise teilgenommen hat, ihm die Kosten dafür aber nur vorgeschossen bzw. verauslagt worden sind.

48

Da die Klage im Hauptantrag erfolgreich ist, ist der Hilfsantrag nicht zu bescheiden.

49

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO.

50

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.