Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 11.01.2001, Az.: 4 B 145/00
Hilfe zum Lebensunterhalt; unzumutbare Härte
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 11.01.2001
- Aktenzeichen
- 4 B 145/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2001, 39302
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 26 Abs 1 S 2 BSHG
- § 39 BSHG
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners, ihm laufende Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Er war lange Zeit drogenabhängig. Im Februar 1996 begann er eine Drogenlangzeittherapie bei der Jugendhilfe e.V L. - Therapeutische Gemeinschaft W. -. Nach dem Ende des stationären Teils der Therapie im Februar 1997 besuchte er zunächst die Berufsfachschule Technik in L. und erlangte dort im Juli 1998 die Fachhochschulreife. Im September 1998 begann er an der Fachhochschule D. das Studium der technischen Chemie. Hierfür erhielt er von dem Studentenwerk D. Leistungen nach dem Berufsausbildungsförderungsgesetz - BAföG -. Nach dem dritten Semester brach er im Februar 2000 das Studium ab und begann im März 2000 an der Fachhochschule E. das Studium "Umwelttechnik". Mit Bescheid vom 13. April 2000 lehnte das Studentenwerk E. den Antrag des Antragstellers auf Ausbildungsförderung für eine andere Ausbildung nach § 7 Abs. 3 BAföG ab, weil ein wichtiger Grund für den Wechsel der Ausbildung bzw. der Fachrichtung nicht vorliege. Der Antragsteller hat hiergegen keinen Widerspruch erhoben.
In der Zeit vom 1. Juni 2000 bis zum 31. Dezember 2000 war der Antragsteller aufgrund eines Abrufarbeitsvertrages bei der E. Gas Consult GmbH als Abrufarbeitnehmer für programmiertechnische Tätigkeiten eingestellt. Vom 13. Oktober 2000 bis zum 31. Dezember 2000 war er außerdem als studentische Hilfskraft im Service Center der F. Versicherungen tätig. Derzeit befindet er sich in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung bei der Psychologin K. .
Am 7. Juni 2000 beantragte der Antragsteller bei dem Antragsgegner, ihm Sozialhilfe zu gewähren. Mit Bescheid vom 23. Juni 2000 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Da das Studium des Antragstellers dem Grunde nach förderungsfähig nach dem BAföG sei, habe er nach § 26 BSHG keinen Anspruch auf Sozialhilfe.
Der Antragsteller erhob am 19. Juli 2000 Widerspruch. Nach Abschluss der stationären Therapie sei klar gewesen, dass er nicht wieder in dem von ihm erlernten Beruf tätig werden könne, weil im Baugewerbe, speziell im Dachdeckerberuf, regelmäßig Alkohol konsumiert werde. Dies bedeute für ihn eine erhöhte Rückfallgefahr. Im Rahmen der stationären Nachsorge habe er deswegen die Fachhochschulreife erworben. Im Verlauf des Chemiestudiums habe er festgestellt, dass er den Anforderungen nicht gewachsen gewesen sei. Um seine Lebensstabilität wieder herzustellen, sei der Studienfachwechsel von seinen Therapeuten gefordert worden, um das Rehabilitationsziel nicht zu gefährden. Das Studium der Umwelttechnik entspreche seinen Neigungen und Fähigkeiten eher, was durch die bisherigen Studienergebnisse bestätigt werde. Gleichzeitig beantragte der Antragsteller, ihm Hilfe zum Lebensunterhalt als Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 39 BSHG zu gewähren. Zum Beleg seiner Angaben legte der Antragsteller Stellungnahmen der Therapeutischen Gemeinschaft W. vom 15. August 2000 sowie der ihn behandelnden Psychologin Kaczmarc vom 31. August 2000 vor.
Mit Bescheid vom 27. September 2000 wies der Antragsgegner den Widerspruch des Antragstellers zurück.
Der Antragsteller hat am 8. November 2000 Klage erhoben (4 A 231/00) und am 29. Dezember 2000 um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend, er könne Hilfe zum Lebensunterhalt verlangen, weil ein besonderer Härtefall im Sinne des § 26 Abs. 1 Satz 2 BSHG vorliege.
Der Antragsgegner ist dem entgegengetreten. Der Antragsteller sei grundsätzlich arbeitsfähig. Es sei ihm deshalb zuzumuten, einer Arbeit nachzugehen und das Studium zu unterbrechen oder notfalls abzubrechen. Im Übrigen hätte der Antragsteller seine vorrangigen Ansprüche gegenüber dem Studentenwerk E. verfolgen müssen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze und auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Dem Antragsteller kann die begehrte Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigen nur in dem tenorierten Umfang gewährt werden, weil sein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nur zum Teil erfolgreich ist (§§ 166 VwGO, 114 ZPO).
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Anwendung der Vorschrift setzt neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) voraus, dass der Rechtsschutzsuchende mit Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Regelung hat (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Soweit der Antragsteller Hilfe zum Lebensunterhalt für den Zeitraum vom 7. Juni 2000 bis zum 28. Dezember 2000 begehrt, fehlt es an dem erforderlichen Anordnungsgrund. Eine gerichtliche Entscheidung ist nicht eilbedürftig, weil insoweit Leistungen für vergangene Zeiträume im Streit sind. Einstweilige Anordnungen können allein ergehen, um eine gegenwärtige Notlage zu beseitigen, bzw. eine zukünftige abzuwenden. Die Kammer spricht deswegen in ständiger Rechtsprechung in Eilverfahren laufende Leistungen erst ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht zu.
Ansonsten liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vor. Insbesondere hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass ihm ein Anspruch auf die begehrte Leistung nach §§ 11, 12 BSHG zusteht.
Der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 Abs. 1 BSHG) steht dem derzeit nicht entgegen, denn der Antragsteller erhält nach der ablehnenden Entscheidung des Studentenwerks E. keine Leistungen nach dem BAföG. Ein Anspruch des Antragstellers scheidet auch nicht nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BSHG aus, wonach Auszubildende, deren Ausbildung - wie die des Antragstellers - im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig sind, keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt haben. Gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 BSHG kann in besonderen Härtefällen Hilfe zum Lebensunterhalt als Beihilfe oder als Darlehen gewährt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 14.10.1993 - 5 C 16.91 - BVerwGE 94, 224) besteht eine besondere Härte im Sinne von § 26 Satz 2 BSHG nur, wenn die Folgen des Anspruchsausschlusses über das Maß hinausgehen, das regelmäßig mit der Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt für eine Ausbildung verbunden und vom Gesetzgeber in Kauf genommen worden ist. Hilfebedürftige, die eine Ausbildung der in § 26 Satz 1 BSHG genannten Art betreiben und nach den dafür vorgesehenen Leistungsgesetzen nicht (mehr) gefördert werden, sind danach in der Regel gehalten, von der Ausbildung ganz oder vorübergehend Abstand zu nehmen, um für die Dauer der Hilfebedürftigkeit den Ausschluss von der Hilfe zum Lebensunterhalt abzuwenden. Dies gelte auch dann, wenn ein Auszubildender - betriebe er die dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung nicht - aus persönlichen Gründen (z.B. Behinderung, Krankheit, Kinderbetreuung oder Schwangerschaft), seine Arbeitskraft nicht zur Erzielung von Einkommen einsetzen könnte. Ein "besonderer" Härtefall im Sinne von § 26 Satz 2 BSHG liege erst dann vor, wenn im Einzelfall Umstände hinzutreten, die einen Ausschluss von der Ausbildungsförderung durch Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 11, 12 BSHG) auch mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck, die Sozialhilfe von den finanziellen Lasten einer Ausbildungsförderung freizuhalten, als übermäßig hart, d.h. als unzumutbar oder in hohem Maße unbillig, erscheinen lassen.
Ein solcher Fall liegt hier vor. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Antragsteller wegen seiner Suchtkrankheit zu dem Personenkreis des § 39 BSHG gehört. Den von ihm in dem Verwaltungs- und Gerichtsverfahren vorgelegten Stellungnahmen seiner Therapeuten der Jugendhilfe e.V L. - Therapeutische Gemeinschaft W. - lässt sich ersehen, dass im Rahmen seiner Rehabilitation eine berufliche Neuorientierung erforderlich war, weil der Antragsteller seinen erlernten Beruf wegen der Rückfallgefährdung nicht mehr ausüben kann. Nach den nachvollziehbaren Ausführungen der Therapeuten ist die berufliche Eingliederung weiter auch von besonderer Bedeutung für den Erfolg der medizinischen Rehabilitation. Nach der Stellungnahme der den Antragsteller derzeit behandelnden Therapeutin Kazcmarz führt das Studium mit dem gleichzeitigen Bemühen um finanzielle Absicherung für den Antragsteller zu einer kaum zu bewältigenden Doppelbelastung und zu massiven Gesundheitsgefahren. Anders als im Regelfall, in denen Hilfebedürftige eine nach dem BAföG dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung betreiben, kann dem Antragsteller deswegen nicht zugemutet werden, sein Studium zu unterbrechen oder abzubrechen. Denn dies bedeutete für den Antragsteller nicht nur den Verzicht auf eine angestrebte Berufsausbildung, bzw. eine Verzögerung ihrer Verwirklichung, wie er von einem Hilfebedürftigen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich hinzunehmen wäre, weil nach dem Zweck des Gesetzes keine Ausbildungsförderung auf Kosten der Sozialhilfe zugelassen werden soll. Vielmehr stellte das Verfehlen des angestrebten Berufsziels darüber hinaus den Erfolg seiner Drogenlangzeittherapie in Frage, was - verglichen mit dem Regelfall - eine besondere Härte darstellt. Dabei ist ergänzend zu berücksichtigen, dass, wie § 39 i.V. mit § 40 Abs. 1 Nr. 4 und 5 BSHG zeigen, die berufliche Rehabilitation des von den Vorschriften betroffenen Personenkreises ein sozialhilferechtlich anerkanntes Ziel ist.
Dahinstehen kann dabei, ob der Antragsteller Leistungen zum Lebensunterhalt auch auf der Grundlage der §§ 39, 40 BSHG erhalten könnte. Nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ist ein derartiger Anspruch allerdings nicht von vorneherein ausgeschlossen (vgl. Beschl. v. 24.5.2000 - 4 M 3502/99 -) auch wenn es grundsätzlich nicht Aufgabe der Eingliederungshilfe ist, den zur Durchführung eines Studiums an einer Hochschule erforderlichen Lebensunterhalt sicherzustellen (BVerwG, Urt. v. 19.10.1995 - 5 C 28.95 - FEVS 46, 366).
Dem Antragsteller kann auch nicht entgegen gehalten werden, dass er in der Vergangenheit neben dem Studium gearbeitet hat, denn wie sich den vorliegenden Verträgen ersehen lässt, handelte es sich um Beschäftigungen von geringem Umfang bzw. mit geringem Verdienst, von denen alleine der Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht hätte bestreiten können.
Sind demnach die Voraussetzungen des § 26 Satz 2 BSHG erfüllt, liegt es im Ermessen des Antragsgegners, die Hilfe zu gewähren. Dabei spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass er sein Ermessen allein im Sinne einer Gewährung der Hilfe ausüben wird; denn es ist kaum noch ein sachgerechter Grund denkbar, die Leistung trotz des hier gegebenen besonderen Härtefalles zu verweigern.
Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen hält es die Kammer für angemessen, die Wirkungen der einstweiligen Anordnungen zu befristen, um dem Grundsatz Rechnung zu tragen, dass Sozialhilfe gegenüber den Leistungen anderer Sozialleistungsträger nachrangig zu gewähren ist. Nach den hier vorgelegten Unterlagen, insbesondere der Stellungnahme der Therapeuten der Jugendhilfe e.V. L. - Therapeutischen Gemeinschaft W. - vom 15. August 2000 erscheint es nämlich nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller auf einen erneuten Antrag hin Leistungen nach dem BAföG erhalten kann. Grundsätzlich kann nämlich bereits allein die fehlende Eignung für eine Ausbildung einen wichtigen Grund darstellen, der nach § 7 Abs. 3 Nr. 1 BAföG die weitere Förderung auch nach Abbruch einer Ausbildung oder Wechsel der Fachrichtung ermöglicht (Rothe - Blanke, Berufsausbildungsförderungsgesetz, § 7 Ziff. 42.3.1, vgl. auch OVG Berlin, Urt. v. 26.5.1994 - 6 B 33.93 - FamRZ 1994, 1495). Der Antragsteller wird deswegen gehalten sein, zunächst erneut seine Ansprüche gegenüber dem Studentenwerk E. geltend zu machen. Dabei hält die Kammer diese Lösung auch mit Rücksicht auf den möglichen Erstattungsanspruch des Antragsgegners gegenüber dem Studentenwerk E. (§ 104 SGB X) für angemessen, weil der Bescheid des Studentenwerks E. vom 13. April 2000 nicht erkennen lässt, ob dem Amt für Ausbildungsförderung bekannt war, dass der Wechsel des Studienfaches auf ärztliches Anraten erfolgte, weil der Antragsteller die fachlichen Anforderungen nicht erfüllen konnte und sich in einer massiven Überforderungssituation befand, die seine Rehabilitation gefährdete.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.