Sozialgericht Aurich
Urt. v. 21.02.2017, Az.: S 55 AS 189/13

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
21.02.2017
Aktenzeichen
S 55 AS 189/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 17382
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid vom 09.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2013 wird insoweit abgeändert, als dass der Beklagte weitere 649,00 Euro an Leistungen nach dem SGB II für den Monat November 2012 zu erbringen hat.

  2. 2.

    Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

  3. 3.

    Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Berechtigung der Klägerin, vom Beklagten anlässlich einer Betriebs- und Heizkostenabrechnung eines vormaligen Vermieters eine Nachzahlung zu erhalten.

Die Klägerin ist am G. 1964 geboren und unter anderem die Mutter einer Tochter, die am H. 1985 geboren wurde. Im Jahre 2011 lebte die Klägerin gemeinsam mit dieser Tochter in einer Wohnung in I. im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten in der J ... Die Klägerin stand ebenso wie die Tochter durchgängig im Bezug der laufenden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II). Auf Grund des Lebensalters der Tochter bildeten die beiden keine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II, sondern wurden jeweils separat als Leistungsbezieher geführt.

Anfang des Jahres 2012 zogen die Klägerin und ihre Tochter aus der oben genannten Wohnung aus und die Klägerin nahm alleine zunächst Unterkunft bei einem weiteren Sohn. Nach einem Mietvertrag vom 09.05.2012 bezog die Klägerin dann weiter alleine eine neue Wohnung mit ausdrücklicher leistungsrechtlicher Zustimmung des Beklagten in der K. in I ... Noch unter der alten Adresse bei ihrem Sohn erhielt die Klägerin am 15.09.2012 eine Betriebs- und Heizkostenabrechnung des Vermieters der zuvor bewohnten Wohnung in der J. in I. für die Zeit Januar bis Dezember 2011. Aus dieser Abrechnung ergab sich eine Nachforderung des Vermieters in Höhe von 983,63 Euro für Betriebs- und Heizkosten. Diese Nachzahlung setzte sich zusammen aus 849,70 Euro für Betriebskosten und 133,93 Euro für die Wärmeversorgung. Aus der Abrechnung war erkennbar, dass für die Betriebskosten 600,00 Euro Vorauszahlung im abgerechneten Zeitraum erbracht wurden und für die Wärmeversorgung 1.200,00 Euro. Nach den Akten reichte die Klägerin mit einem Weiterbewilligungsantrag mit Eingang vom 04.10.2012 die Betriebs- und Nebenkostenabrechnung für das Jahr 2011 beim Beklagten ein. Der Beklagte bewilligte daraufhin mit dem in diesem Verfahren streitigen Bescheid vom 09.10.2012 eine Nachzahlung in Höhe von 234,63 Euro aufgrund der Abrechnung, die direkt auf das Konto des Vermieters überwiesen wurde. Diesen Betrag ermittelte er dergestalt, dass das Saldo aus dem Gesamtverbrauch an Heizkosten sowie an Nebenkosten aus der Abrechnung abzüglich der von ihm für die Klägerin und für die Tochter gewährten und ausgezahlten Leistungen nach dem SGB II für diese Bedarfe berechnet wurde.

Am gleichen Tag erging auf den Fortzahlungsantrag ein neuer Leistungsbescheid für die Zeit November 2012 bis April 2013, in der die vollen neuen Unterkunftskosten dem Bedarf zugrunde gelegt wurden. Am 23.10.2012 legte die Klägerin über ihre Verfahrensbevollmächtigte Widerspruch gegen "ihren Bescheid vom 09.10.2012" ein und berief sich zur Begründung darauf, dass "nicht alle von meiner Mandantin getragenen Kosten der Unterkunft berücksichtigt" wären. Diesen Widerspruch wies der Beklagte mit streitigem Widerspruchsbescheid vom 23.04.2013 zurück. Er bezog sich darin auf den weiteren hier nicht streitigen Bescheid für den Bewilligungszeitraum November 2012 bis April 2013 und darauf, dass die Unterkunftskosten in voller Höhe dem Bedarf zugrunde gelegt waren.

Mit Schreiben vom 23.11.2012 wies der vormalige Vermieter darauf hin, dass ein Rückstand in Höhe von 503,86 Euro bestehe, hier war vom Gesamtsaldo die Zahlung des Beklagten abgerechnet.

Mit ihrer Klage vom 30.04.2013 nimmt die Klägerin Bezug auf die Nebenkostenabrechnung und beruft sich darauf, dass die Klägerin ihrer Ansicht nach alleine im Jahre 2011 an der Adresse J. gewohnt habe. Die Tochter könne keine Nachzahlung übernehmen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 09.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2013 insoweit abzuändern, als dass weitere 649,00 Euro an Kosten der Unterkunft bezahlt werden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist der Auffassung, dass die Tochter ebenfalls an der Adresse in I. gewohnt habe und dort jedenfalls Leitungen von ihm erhalten habe. Daher ständen der Klägerin ohnehin nur die kopfanteiligen hälftigen Nachzahlungsbeträge zu, der andere Teil sei von der Klägerin alleine zu tragen, so dass mit dem angegriffenen Bescheid ohnehin bereits zu viel Leistungen bewilligt worden seien.

Die Kammer hat am 21.02.2017 eine mündliche Verhandlung in der Angelegenheit durchgeführt. Bezüglich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung wird auf die in den Akten befindliche Protokollausfertigung Bezug genommen.

Weiter Gegenstand der Entscheidungsfindung war die Gerichtsakte sowie der von dem Beklagten überreichte Verwaltungsvorgang.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angegriffene Bescheid vom 09.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2013 ist rechtswidrig ergangen und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten, als dass nicht die volle Nebenkostennachforderung des Vermieters übernommen wird. Die Klägerin kann aufgrund der Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vom Beklagten die Übernahme der noch offenen Gesamtnachforderung des Vermieters in Höhe von 649,00 Euro beanspruchen.

Die Rechtsmäßigkeit des streitigen Bescheides bemisst sich nach den Regelungen des § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. mit § 330 Abs. 3 Satz 1 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches und § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches.

Mit dem streitigen Bescheid hat der Beklagte inhaltlich die Abänderung der Leistungsbewilligungen nach den oben zitierten Regelungen für den Monat November 2012 in weiterem Umfange abgelehnt. Dies ergibt sich daraus, dass die Betriebs- und Nebenkostenabrechnung und die daraus resultierende Nachforderung eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen in Bezug auf die Kosten der Unterkunft der Klägerin darstellt.

Mit der Geltendmachung der Betriebskostennachforderung vom 01.11.2012 durch den früheren Vermieter ist die diesbezüglich maßgebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten. Die Bewertung gründet darauf, dass § 22 Abs. 1 SGB II nicht nur laufende, sondern auch einmalige Kosten für Unterkunft und Heizung umfasst. Wenn eine Nachforderung in einer Summe fällig ist, ist sie ein tatsächlicher aktueller Bedarf im Zeitpunkt der Fälligkeit. Es ist keine Verteilung auf denjenigen Zeitraum vorzunehmen, für den die Nachforderung erstellt worden ist (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 15.04.2008 - B 14/7b AS 58/07 R; Urteil vom 22.03.2010 - B 4 AS 62/09 R -; Urteil vom 20.12.2011 - B 4 AS 9/11 R - jeweils zitiert nach ). Solche Aufwendungen durch eine Betriebs- und/oder Heizkostennachforderung sind auch dann als Bedarf im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu bewerten, wenn sie aus einem nicht mehr bestehenden Mietverhältnis resultieren. Diese Bewertung gilt jedenfalls dann, wenn der Leistungsberechtigte sowohl im Zeitpunkt der Entstehung als auch der Fälligkeit der Betriebskostennachforderung durchgängig im Leistungsbezug für Leistungen nach dem SGB II stand und die Aufgabe der Wohnung in Erfüllung einer Kostensenkungsobliegenheit gegenüber dem Leistungsträger erfolgt ist (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 20.12.2011 - B 4 AS 9/11 R - zitiert nach ).

Diese Konstellation liegt im hier zu bewertenden Fall vor. Es handelt sich bei der Nachforderung für die Wohnung J. um eine Nachforderung für eine nicht mehr bewohnte Wohnung. Die Klägerin stand im gesamten Zeitraum, auf den die Nachforderungen sich beziehen sowie im Zeitpunkt der Fälligkeit der Forderung, also im gesamten Jahr 2011 ebenso wie im November 2012 durchgängig im Leistungsbezug. Der Umzug aus der Wohnung J. erfolgte aufgrund einer Kostensenkungsobliegenheit. Mit Schreiben vom 03.02.2011 (Blatt 920 der Verwaltungsakte) hatte der Beklagte bezüglich dieser Wohnung darauf hingewiesen, dass sie sich nach seiner Ansicht nach als kostenunangemessen darstellt.

Es ist festzustellen, dass der Bedarf aufgrund der Betriebs- und Nebenkostenforderung somit bei Beachtung des Monatsprinzips im Zeitpunkt der Fälligkeit, also im November 2012 entstanden ist. Aufgrund dieser Bewertung der Bedarfsentstehung ist entgegen der Auffassung des Beklagten der Umstand, dass zumindest ausweislich der Betriebs- und Nebenkostennachforderung und des Vorbringens des Beklagten die Höhe der Nachforderung zum Teil durch die Klägerin oder ihre Tochter selbst herbeigeführt worden ist, nicht zu beachten. Rein bedarfsbezogen besteht im Monat November 2012 der Bedarf in voller Höhe der Nachforderung. Die Entstehensgründe für die Höhe der Nachforderung sind wegen des Monatsprinzips im Rahmen der Bedarfe nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II unbeachtlich. Der Grund für das Entstehen eines hilferechtlichen Bedarfes ist in Anbetracht des Grundrechtes auf Sicherung des Existenzminimums im Regelfall unbeachtlich. Eine Berücksichtigung des Entstehens des Bedarfes ist einfachgesetzlich nur im Rahmen der §§ 31 bzw. 34 SGB II zu bewerten, was im hiesigen Verfahren nicht Streitgegenstand ist. Nur durch Berücksichtigung der vollen Nebenkostennachforderung kann im Übrigen auch dem Grundrecht auf bedarfsgerechtes Wohnen Rechnung getragen werden.

Nur ergänzend stellt die Kammer fest, dass in der umgekehrten Konstellation eines geringer ausgefallenen Nebenkostenguthabens aufgrund zweckwidriger Verwendung der Zahlungen des Leistungsträgers das Bundessozialgericht bereits entschieden hat, dass dieser Aspekt nicht zu beachten ist und nicht etwa ein fiktiv höheres Guthaben anzusetzen ist (vgl. BSG, Urteil vom 16.05.2012 - B 4 AS 159/11 - zitiert nach ).

Des Weiteren stellt sich die mit der streitigen Entscheidung getroffene Bewertung des Beklagten, dass die volle Nebenkostennachforderung als Bedarf der Klägerin angesetzt wurde, entgegen dem Vorbringen des Beklagten im gerichtlichen Verfahren als rechtmäßig dar. Dies folgt daraus, dass die Nebenkostennachforderung ausdrücklich alleine gegenüber der Klägerin in voller Höhe vom vormaligen Vermieter geltend gemacht wird. Diese alleinige Geltendmachung gegenüber der Klägerin ist auch die allein rechtmäßige Möglichkeit des Vermieters, da ausweislich des Vorbringens der Beteiligten im Jahre 2011 alleine die Klägerin Mieterin der Wohnung J. war und damit alleine gegenüber dem Vermieter verpflichtet. Eventuelle Regressansprüche der Klägerin im Innenverhältnis zu ihrer Tochter sind für die Frage des grundsicherungsrechtlichen Bedarfes unerheblich. Insbesondere erkennt das Gericht keine effektive Möglichkeit der Geltendmachung des Regresses im Sinne einer grundsicherungsrechtlich relevanten Selbsthilfeobliegenheit. Auch eine Abtretung des Anspruches im Innenverhältnis des Beklagten ist im Übrigen nicht streitgegenständlich in diesem Verfahren. Der Beklagte hat hinzu keine Beratung der Klägerin bezüglich dieser Selbsthilfemöglichkeit vorgenommen, wozu er wohl verpflichtet wäre (vgl. BSG, Urteil vom 24.11.2011 - B 15 AS 15/11 R; Urteil vom 16.05.2012 - B 4 AS 132/11 R jew. zit. nach ).

Aufgrund des § 34 SGB II stellt das Gericht im Gegensatz zum Vorbringen des Beklagten fest, dass die volle Übernahme der Nachforderung auch bei zweckwidriger Verwendung eventueller Leistungen des Jobcenters sich als systemgerecht darstellt. Auch könnte im Übrigen zur Vermeidung solchen Verhaltens die Regelung des § 22 Abs. 7 Satz 2 und Satz 3 SGB II angewendet werden, was hier ebenfalls nicht streiterheblich ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus der Regelung des § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Klägerin ist mit ihrem Begehren in vollem Umfange durchgedrungen.

Der ausgewiesene Betrag von 649,00 Euro erreicht nicht den gemäß § 144 Abs. 1 SGG maßgeblichen Berufungsstreitwert. Von daher bedurfte der Berufungsmöglichkeit der Zulassung im Sinne des § 144 Abs. 2 SGG. Die erkennende Kammer vermochte keine Rechtsprechung des zuständigen Obergerichtes oder des Bundessozialgerichtes bezüglich der Frage der zweckwidrigen Verwendung von Leistungen des Jobcenters und daraus resultierender Nebenkostennachforderungen zu finden. Neben den oben zitieren Entscheidungen. Da diese Konstellationen gerade in erstmaligen Betriebskostenabrechnungen häufig auftreten könnten, erkennt die Kammer eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage.