Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 23.01.2007, Az.: L 13 AS 27/06 ER

Geltendmachung der individuellen Ansprüche eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft im Wege einer subjektiven Antragshäufung bzw. Klagehäufung; Vermutung der Bevollmächtigung eines erwerbsfähigen Hilfesuchenden für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auch für das Gerichtsverfahren; Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II)

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
23.01.2007
Aktenzeichen
L 13 AS 27/06 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2007, 13224
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0123.L13AS27.06ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Aurich - 31.10.2006 - AZ: S 25 AS 384/06 ER

Fundstellen

  • info also 2008, 42 (Kurzinformation)
  • info also 2007, 191

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aurich vom 31. Oktober 2006 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe

1

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Aurich vom 31. Oktober 2006 ist zulässig (§§ 172 Abs. 1 und 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

2

Dabei hat der Senat im wohlverstandenen Interesse der Antragsteller von Amts wegen das Aktivrubrum nach § 202 SGG i.V.m. § 264 Zivilprozessordnung - ZPO - in dem Sinne berichtigt, dass nicht die Mutter der minderjährigen, im Januar und Dezember 1998 geborenen Antragsteller als Antragstellerin aufgeführt wird. Dies beruht auf der Überlegung, dass die Regelung in § 38 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - SGB II -, wonach eine Bevollmächtigung eines erwerbsfähigen Hilfesuchenden für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft vermutet wird, nur für das Verwaltungs-, nicht aber für das Gerichtsverfahren gilt. Einen materiellen Anspruch der Bedarfsgemeinschaft gibt es im SGB II nicht, so dass vielmehr die individuellen Ansprüche eines jeden Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft im Wege einer subjektiven Antrags- bzw. Klagehäufung geltend zu machen sind. Da auch Prozesshandlungen der Auslegung zugänglich sind, ist der Senat im wohlverstandenen Interesse der Antragsteller davon ausgegangen, dass die Mutter der minderjährigen Antragsteller nicht ihre eigenen Ansprüche, sondern die Ansprüche ihrer Kinder in dem Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vor den Sozialgerichten geltend macht. Wegen der gebotenen Eilbedürftigkeit einer Entscheidung im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat der Senat davon abgesehen, ausdrücklich eine klarstellende Erklärung der Verfahrensbeteiligten herbeizuführen (vgl. zur Individualität der Leistungsansprüche im gerichtlichen Verfahren: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. Mai 2006 - L 10 AS 1093/05 -; der 8. Senat des erkennenden Gerichts, Urteil vom 24. August 2006 - L 8 AS 467/05 -; jetzt auch: Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 8/06 R - V. n. b.).

3

Indessen ist die Beschwerde in der Sache nicht begründet. Das SG hat die Sach- und Rechtslage auf jeden Fall bezüglich des Anordnungsanspruchs zutreffend beurteilt. Zur Vermeidung von Wiederholungen schließt sich der Senat insoweit der Begründung des angefochtenen Beschlusses nach eigener Sachprüfung an (vgl. § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

4

Die Begründung der Beschwerde rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Es trifft nicht zu, dass nach der Neufassung von § 9 Abs. 2 SGB II durch das Fortentwicklungsgesetz (v. 20. Juli 2006, BGBl. I S, 1706) der nunmehr in der Vorschrift noch enthaltene Absatz 5 bei dem vom SG dargelegten Verständnis der Vorschrift jeglichen Reglungsinhalt verlöre. Vielmehr behält § 9 Abs. 5 SGB II ohne weiteres seinen Sinn dann, wenn etwa Geschwister oder Großeltern und Enkelkinder miteinander in einer Haushaltsgemeinschaft leben.

5

Auch trifft die von den Antragstellern geltend gemachte Ungleichbehandlung im Hinblick auf den Regelsatz eines erwachsenen Haushaltsangehörigen und den im Zivilrecht anerkannten Selbstbehalt eines Unterhaltspflichtigen nicht zu. Denn der Selbstbehalt eines Unterhaltspflichtigen - etwa nach den Leitlinien der so genannten Düsseldorfer oder Oldenburger Tabelle - betrifft den Fall, dass der Unterhaltspflichtige und der minderjährige Unterhaltsberechtigte nicht in einem Haushalt leben, sondern dass der Unterhaltsverpflichtete zur Leistung von Geldunterhalt verpflichtet ist. Hier hingegen stellt die Regelung in § 9 Abs. 2 SGB II darauf ab, dass die Betreffenden in einer Haushaltsgemeinschaft leben und von ihrem Stiefvater Naturalunterhalt erhalten.

6

Auch liegt die Ansicht, durch die gesetzliche Neufassung der hier in Rede stehenden Vorschrift durch das Fortentwicklungsgesetz würde in verfassungswidriger Weise die allgemeine Handlungsfreiheit aus Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz - GG - verletzt (so: SG Düsseldorf, Beschluss vom 28. September 2006 - S 24 AS 213/06 ER -) neben der Sache. Denn das die allgemeine Handlungsfreiheit betreffende Abwehrgrundrecht greift dann ein, wenn unmittelbar und direkt durch ein Gesetz dem Pflichtigen ein bestimmtes Tun oder Unterlassen auferlegt wird. Das ist hier aber nicht der Fall. Vielmehr knüpft das SGB II hinsichtlich der Gewährung von staatlichen Transferleistungen, die aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden, an einen tatsächlichen Lebenssachverhalt an, ohne den davon Betroffenen ein bestimmtes Tun oder Unterlassen als Rechtspflicht aufzuerlegen. Auch kann keine Rede davon sein, durch die Neuregelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II würde die nach Artikel 6 Abs. 1 GG garantierte Eheschließungsfreiheit beeinträchtigt werden (so wohl: Mrozynski, Grundsicherung und Sozialhilfe, Stand August 2006, Teil II Abschnitt 7 Rdn. 22, Seite 120/4). Dass sich durch eine Eheschließung und die damit gegebenenfalls eintretende Schwägerschaft mit vorhandenen Kindern des Ehepartners (vgl. § 1590 Abs. 1 BGB) wirtschaftliche Verpflichtungen in gewisser Weise ergeben können, war schon bisher im Sozialrecht anerkannt (vgl. § 16 BSHG, § 9 Abs. 5 SGB II). Nur wird nunmehr durch die Neufassung des Gesetzes in stärkerem Maße auf den sozialtypisch tatsächlich weit verbreiteten Umstand abgestellt, dass sich ein heiratswilliger Partner eines wirtschaftlich nicht leistungsfähigen Elternteils darauf einstellt, auch dessen Kindern Naturalunterhaltsleistungen zu erbringen, wenn er die Ehe mit dem betreffenden Partner eingeht. Das wird schon mit dem alten Rechtssprichwort deutlich "Wer die Mutter bessert, bessert auch das Kind". Die Neufassung des Gesetzes begegnet daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken und bewegt sich im Rahmen der weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, wenn er Anspruchsvoraussetzungen für die Ausgestaltung von staatlichen Transferleistungen bestimmt (vgl. Adolph in: Linhart/Adolph, SGB II und XII, Stand September: 2006, § 9 SGB II Rdn. 15 bis 17). Soweit in der Literatur die Frage aufgeworfen wird, ob durch die gesetzliche Ausweitung der Bedarfsgemeinschaft die Einstandspflicht für die Kinder des Ehegatten, die dem Zivilrecht fremd ist, in Kollision mit den Unterhaltsansprüchen eigener leiblicher Kinder aus einer vorherigen Verbindung geraten könnte (so wohl Peters in: Estelmann, SGB II, Stand: Oktober 2006, § 9 Rdn. 36), gibt dies dem Senat keine Veranlassung, anders zu entscheiden. Denn es liegt auf der Hand, dass derartige Unterhaltsansprüche eigener leiblicher Kinder dann als das Einkommen des Unterhaltspflichtigen mindernd anzusehen sind, wenn diese tituliert sind (vgl. dazu jetzt: § 11 Abs. 2 Nr. 7 SGB II in der Neufassung des Fortentwicklungsgesetzes). Auch wird mit dieser Regelung nicht etwa allein dem Stiefvater die Unterhaltspflicht für die Antragsteller neu auferlegt und ihr leiblicher Vater aus ihr entlassen (so aber wohl: Wenner, Soz Sich 2006, 146, 151). Denn § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II n.F. verändert nicht zivilrechtliche Ansprüche der Kinder gegen ihre Eltern, sondern knüpft für die Gewährung staatlicher Leistungen an den sozialtypischen Umstand an, dass auch "Patchworkfamilien" i. d. R. "aus einem Topf" wirtschaften.

7

Die Beschwerde war daher zurückzuweisen.

8

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

9

Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG nicht anfechtbar.