Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 12.12.2007, Az.: L 5 VG 15/05

Versagung von Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) für die dauerhaft verbliebenen Folgen eines Schädel-Hirntraumas wegen des bewussten oder leichtfertigen Eingehens einer Gefahr; Vorliegen von Beeinträchtigung des Sprachzentrums und Lähmungserscheinungen; Zulässigkeit der Prüfung eines Versagungsgrundes i.S.d. § 2 OEG bei Offenlassen des Vorliegens eines Angriffs i.S.d. § 1 OEG; Berücksichtigung der Vorgeschichte einer Gewalttat im Rahmen der "Unbilligkeitsgeneralklausel"; Bewusstes oder leichtfertiges Eingehen einer Gefahr bei Treffen mit einer gewaltbereiten Gruppe unter Mitnahme einer Gaspistole

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
12.12.2007
Aktenzeichen
L 5 VG 15/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 46648
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2007:1212.L5VG15.05.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 07.10.2005 - AZ: S 12 VG 35/01

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Feststellung, dass er am 26. Januar 1998 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S.d. § 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) geworden ist und dass Versagungsgründe nach § 2 OEG nicht vorliegen.

2

Der 1961 geborene Kläger besuchte am 26. Januar 1998 die Geburtstagsfeier von H. I. (damals: J.), an der auch die dem Kläger bis dahin unbekannte K. L. (damals: M.) teilnahm. Frau L. war an diesem Tag von ihrem damaligen Partner N. O. geschlagen worden, wovon sie den Gästen der Geburtstagsfeier berichtete. Mehrere Gäste der Geburtstagsfeier riefen daraufhin bei N. O. an. Frau I. soll hierbei zu N. O. u.a. gesagt haben: "Ich schneide dir den Schwanz ab. Ich breche dir deine Arme." Ein weiterer Gast namens Rüdiger habe weitere Beleidigungen ins Telefon gebrüllt (polizeiliche Vernehmung von Frau L. vom 12. Februar 1998). Im weiteren Verlauf der Geburtstagsfeier verabredete sich Frau L. telefonisch mit Herrn O. zu einer Aussprache in der Innenstadt von P ... Während Frau L. eigentlich beabsichtigte, sich alleine mit Herrn O. zu treffen, befürchteten einige der z.T. alkoholisierten Gäste der Geburtstagsfeier erneute Tätlichkeiten zwischen Frau L. und Herrn O ... Deshalb begleiteten mehrere Personen Frau L., u.a. Frau I., deren Sohn Q. J., der Kläger und Frau R. S. (damals: T.). Die damals stark alkoholisierte Frau I. führte einen Gegenstand, der zum Schlagen eingesetzt werden konnte, mit sich, der (damals nicht nennenswert alkoholisierte) Kläger eine Gaspistole. Die Gaspistole hatte der Kläger im Laufe der Geburtstagsfeier Q. J., dem damals 17-jährigen Sohn von Frau I., abgenommen bzw. von ihm übergeben bekommen. In der Innenstadt von P. traf die Gruppe um Frau L. auf N. O. und weitere Personen seines persönlichen Umfeldes (U. und V.). Die Gruppe um N. O. wurde von dem Zeugen Q. J. der Neo-Nazi-Szene zugerechnet, während es sich nach der Aussage der Zeugin L. nicht um Neo-Nazis, sondern um eine Gruppe namens "Seikos" (phonetisch) gehandelt haben soll. Eine Charakterisierung dieser Gruppe vermochte die Zeugin L. nicht abzugeben. Zwischen den beiden Gruppen kam es unmittelbar nach dem Zusammentreffen zu Tätlichkeiten, wobei der genaue Ablauf von den Beteiligten unterschiedlich geschildert wird. Fest steht, dass der Kläger im weiteren Ablauf zumindest einen Schuss aus der mitgeführten Gaspistole abgab. Nach seinen Angaben handelte es sich hierbei um einen Warnschuss in die Luft. Dagegen gab N. O. an, dass der Kläger mehrfach geschossen und u.a. versucht habe, ihm (Herrn O.) gezielt ins Gesicht zu schießen. Nachfolgend wurde der Kläger schwer am Kopf verletzt (Schädel-Hirntrauma). Während N. O. angab, den ihn mit der Pistole bedrohenden Kläger mit der Faust zu Boden geschlagen zu haben, führt der Kläger die Kopfverletzung auf einen Schlag mit einem harten Gegenstand (vermutlich Bierflasche) unmittelbar nach Abgabe des Warnschusses zurück.

3

Mit Antrag vom 3. März 1998 beantragte der Kläger die Gewährung von Entschädigungsleistungen nach dem OEG für die dauerhaft verbliebenen Folgen des Schädel-Hirntraumas (Beeinträchtigung des Sprachzentrums, Lähmungserscheinungen). Noch vor Abschluss des Strafverfahrens gegen N. O., W. X. und Y. Z. lehnte der Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen mit der Begründung ab, dass den drei Beschuldigten eine Notwehrsituation (Angriff des Klägers mittels der Gaspistole) nicht widerlegt werden könne. Aufgrund der sich widersprechenden Angaben des Klägers einerseits und der Zeugen/Beschuldigten andererseits liege objektive Beweislosigkeit vor (Bescheid vom 12. Dezember 2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2001).

4

Im Strafverfahren wurden die Angeklagten N. O., U. und V. vom Amtsgericht AA. freigesprochen. Das Gericht führte zur Begründung aus, dass der Auseinandersetzung beleidigende Telefongespräche vorangegangen seien. Beim Verlassen der Wohnung habe sich die Gruppe um den Kläger bewaffnet. Der genaue Ablauf der nachfolgenden Auseinandersetzung habe sich nicht im Einzelnen aufklären lassen. Wer letztlich wen zu welcher Zeit in welcher Reihenfolge attackiert habe, lasse sich nicht mehr verlässlich klären. Es stehe jedoch fest, dass ein Schuss des Klägers direkt in das Gesicht des N. O. Auslöser der Gewaltanwendung gegenüber dem Kläger gewesen sei. Es lasse sich daher nicht ausschließen, dass die Angeklagten in Notwehr gehandelt haben (Urteil vom 1. März 2001 -AB.). Die vom Kläger gegen dieses Urteil eingelegte Berufung wurde vom Landgericht (LG) AC. mit der Begründung verworfen, dass es zumindest als möglich erscheine, dass die Körperverletzung des Klägers durch Notwehr gerechtfertigt sei. So seien die Angaben des Klägers nicht vollständig nachvollziehbar. Vielmehr handele es sich beim Kläger um einen "unzuverlässigen Zeugen". Die gegenüber dem Kläger erfolgte Gewaltanwendung stelle auch keinen sog. Notwehrexzess dar (Urteil des LG AC. vom 12. Dezember 2001 -AD.). Die Revision gegen dieses Urteil verwarf das Oberlandesgericht AC. (Beschluss vom 3. Juli 2002 -AE.), soweit sie die Angeklagten O. und X. betraf. Die den Angeklagten Z. betreffende Revision gegen das Urteil des LG AC. nahm der Kläger mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2002 zurück.

5

Zivilrechtlich wurde N. O. vom LG AC. zur Zahlung eines Schmerzensgeldes nebst Zinsen verurteilt. Diese Entscheidung beruhte auf einem vom LG AC. als Anerkenntnis gewerteten Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des N. O ... Ergänzend führte das SG AC. aus, dass auch im Zivilprozess die Vorgänge letztlich ungeklärt geblieben seien, so dass von einer gemeinschaftlichen Tat des N. O., des W. X. und des Y. AF. bzw. einer Einzeltat eines dieser Beklagten nicht ausgegangen werden könne (rechtskräftiges Urteil des LG AC. vom 17. Dezember 2003 -AG.).

6

Gegen die Ablehnung von Entschädigungsansprüchen nach dem OEG (Bescheid des Beklagten vom 12. Dezember 2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2001) hat der Kläger am 17. August 2001 beim Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben. Er hat vorgetragen, dass die Tätlichkeiten von N. O. ausgegangen seien, der unvermittelt auf Frau I. eingetreten und eingeschlagen habe. Um Frau I. Hilfe zu leisten habe er (der Kläger) in die Luft geschossen. Daraufhin hätten sich die Täter auf ihn gestürzt. Bei der abweichenden Schilderung des N. O. handele es sich um Schutzbehauptungen. Bereits durch die schwerwiegenden Verletzungsfolgen sei bewiesen, dass die Behauptung des N. O., den Kläger nur mit der Faust geschlagen zu haben, wahrheitswidrig sei. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 7. Oktober 2005 abgewiesen. Es hat sich der rechtlichen Bewertung der Strafgerichte angeschlossen, wonach eine Notwehrlage des N. O. nicht auszuschließen sei. Das Vorbringen des Klägers stelle zwar einen möglichen Geschehensablauf dar, sei jedoch nicht mit dem Ergebnis der im Strafverfahren durchgeführten Beweisaufnahme in Einklang zu bringen.

7

Gegen das dem Kläger am 15. November 2005 zugestellte Urteil richtet sich seine am 5. Dezember 2005 eingelegte Berufung. Er ist der Auffassung, dass das SG alle vom Kläger benannten Zeugen selbst hätte vernehmen müssen. Durch die Würdigung nur der schriftlichen Aufzeichnungen früherer Vernehmungen sei der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verletzt worden. Auch die rechtliche Bewertung sei fehlerhaft: Selbst bei Unterstellung einer Notwehrlage zugunsten des N. O. habe dieser angesichts der Schwere der Verletzungen die Grenzen der Notwehr überschritten (Notwehrexzess). Der Grundsatz "in dubio pro reo", aufgrund dessen die Angeklagten im Strafverfahren freigesprochen worden seien, gelte im Versorgungsrecht nicht.

8

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

  1. 1.

    das Urteil des SG Braunschweig vom 7. Oktober 2005 sowie den Bescheid des Beklagten vom 12. Dezember 2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass er am 26. Januar 1998 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S.d. § 1 Abs. 1 OEG geworden ist und Versagungsgründe nach § 2 OEG nicht vorliegen.

9

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

10

Er ist der Auffassung, dass die Rechtswidrigkeit der Körperverletzung nicht nachgewiesen sei, da Herr O. u.U. in Notwehr gehandelt habe. Unabhängig davon komme die Gewährung von Entschädigungsleistungen wegen eines Versagungsgrundes nach § 2 OEG nicht in Betracht: Der Kläger habe von den Schlägen des Herrn O. auf Frau L. sowie von den Beleidigungen durch die Gäste der Geburtstagsfeier gewusst. Er habe weitere Gewalttätigkeiten vorhersehen können und sich deshalb sogar bewaffnet.

11

Der erkennende Senat hat durch den Berichterstatter den Kläger persönlich befragt sowie die Zeugen H. I., Q. J. und K. L. vernommen. Die Zeugin R. S. (damals: T.) ist auf schriftlichem Wege befragt worden.

12

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 19. April 2007 ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die den Kläger betreffende Versorgungsakte des Beklagten, die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft AC. (AH.), die beigezogenen Unterlagen aus der Akte des AI. (Az.: AJ.) und der Gerichtsakte S 16 U 118/05 (SG Braunschweig) sowie auf die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakte verwiesen. Sie haben der Entscheidung zugrunde gelegen.

Entscheidungsgründe

14

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet. Der auf Feststellung des Vorliegens einer Gewalttat i.S.d. OEG sowie auf Feststellung des Nichtvorliegens von Versagungsgründen nach § 2 OEG gerichtete Antrag zu 2) ist gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 17. Mai 2005 und 18. Oktober 2006 - L 5 VG 2/01 und L 5 VG 3/04; ebenso zur Feststellung des Vorliegens eines Arbeitsunfalls i.S.d. gesetzlichen Unfallversicherung: Bundessozialgericht (BSG), Urteile vom 7. September 2004, 15. Februar 2005 und 2. März 2006 - B 2 U 46/03 R (NJW 2005, 1148), B 2 U 1/04 R (SozR 4-2700 § 8 Nr. 12) und B 2 U 29/04 R). Die diesbezügliche Klageänderung (vgl. Schriftsatz des Klägers vom 22. Dezember 2006) ist aufgrund der Zustimmung des Beklagten (vgl. S. 2 des Protokolls des Erörterungstermins vom 11. September 2006) und zudem wegen Sachdienlichkeit zulässig (§ 99 Abs. 1 SGG).

15

Der Feststellungsantrag ist jedoch unbegründet, da hinsichtlich des Ereignisses vom 26. Januar 1998 ein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 OEG vorliegt. Dementsprechend erweisen sich sowohl die angefochtene Verwaltungsentscheidung als auch das Urteil des SG Braunschweig als im Ergebnis rechtmäßig.

16

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Entschädigungsleistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Senat anschließt, ist die 1. Tatbestandsalternative des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG (Mitverursachung) stets zuerst zu prüfen. Allerdings fällt unter die Mitverursachung nur die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten. Dementsprechend können bei der Prüfung dieser Tatbestandsalternative nur die unmittelbaren, nach natürlicher Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen, insbesondere auch zeitlich eng verbundenen Umstände berücksichtigt werden. Dagegen sind alle sonstigen, nicht unmittelbaren, sondern lediglich erfolgsfördernden Umstände - wie typischerweise die Vorgeschichte der Gewalttat - im Rahmen der 2. Tatbestandsalternative zu prüfen. Umstände, die i.S.d. 1. Tatbestandsalternative nicht zum Leistungsausschluss führen, können nicht allein, sondern nur unter Hinzutreten sonstiger Gründe zur Annahme einer Unbilligkeit führen. Hierbei müssen die "sonstigen Umstände" zusammen mit dem für sich genommenen nicht ausreichenden Tatbeitrag dem in § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. OEG genannten Grund der Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkommen (vgl. hierzu insgesamt: BSG, Urteil vom 29. März 2007 - B 9a VG 2/05 R, Rn. 13 mit umfangreichen weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BSG).

17

Eine Mitverursachung i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. OEG kann nicht als nachgewiesen angesehen werden. In Übereinstimmung mit der Beweiswürdigung durch die Strafgerichte hält auch der erkennende Senat den Ablauf der Ereignisse am 26. Januar 1998 in der Innenstadt von P. für nicht vollständig geklärt. Fest steht zwar, dass es zu einer tätlichen Auseinandersetzung der beiden Gruppen gekommen ist. Es ist jedoch unklar, wie sich der Geschehensablauf im Einzelnen abgespielt hat, insbesondere auch wie oft und wohin der Kläger geschossen bzw. gezielt hat. Damit erscheint ein Angriff des Klägers auf Herrn O. (Zielen oder sogar Schießen mit der Gaspistole in das Gesicht von Herrn O.) letztlich ebenso wahrscheinlich wie eine Nothilfesituation des Klägers (Abgabe eines Warnschusses in die Luft als Nothilfe für Frau I.), so dass eine Mitverursachung i.S.d. § 2 OEG (für die der Beklagte als Leistungsträger die objektive Beweislast trägt, vgl. BSG, Urteil vom 25. März 1999 - B 9 VG 5/97 R) nicht nachgewiesen ist.

18

Da der Ablauf des eigentlichen Tatgeschehens in der Innenstadt von P. nicht vollständig geklärt ist, kann die Abgabe eines oder mehrerer Schüsse aus der Gaspistole auch nicht als Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. OEG gewertet werden ("Unbilligkeitsgeneralklausel", vgl. zu diesem Begriff: BSG, Urteil vom 29. März 2007 a.a.O.). Tatsächlicher Ansatzpunkt für die Prüfung eines Versagungsgrundes nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. OEG ist vielmehr der Geschehensablauf vor dem Zusammentreffen der beiden Gruppen in der Innenstadt von P., also die Vorgeschichte der Tat (vgl. zur Berücksichtigung der Vorgeschichte einer Gewalttat im Rahmen der "Unbilligkeitsgeneralklausel" (§ 2 Abs. 2 S. 1 2. Alt. OEG) anstatt bei der Prüfung der Mitverursachung (§ 2 Abs. 1 S. 1 1. Alt. OEG): BSG, Urteil vom 29. März 2007 - B 9a VG 2/05 R, Rn. 13 m.w.N.).

19

Hinsichtlich der Vorgeschichte sieht der erkennende Senat folgenden Geschehensablauf als erwiesen an: Im Laufe der Geburtsfeier von Frau I. wurde Herr O. mehrere Male angerufen und sowohl von Frau I. als auch von anderen Gästen massiv beleidigt bzw. beschimpft. So drohte Frau I., die damals so stark alkoholisiert war, dass sie sich im Laufe der Feier übergeben musste (vgl. hierzu: Aussage der Zeugin I. im Erörterungstermin vom 11. September 2006), Herrn O. sinngemäß u.a. mit folgenden Worten: "Ich schneide dir den Schwanz ab. Ich breche dir deine Arme". Dies ergibt sich aus den glaubhaften Angaben der Zeugin L. gegenüber der Polizei am 12. Februar 1998, deren Richtigkeit die Zeugin bei ihrer Vernehmung im Erörterungstermin am 19. März 2007 erneut bestätigt hat. Letztlich hat auch die Zeugin I. wiederholt eingeräumt, dass es "durchaus sein" könne bzw. "durchaus so gewesen sein mag", dass sie Herrn O. beleidigt habe (vgl. Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 12. Dezember 2001 - AD. sowie Protokoll des Erörterungstermins vom 11. September 2006). Ihre Aussage, sich nicht mehr an den Wortlaut ihrer Beleidigungen erinnern zu können (Protokoll des Erörterungstermins vom 11. September 2006), ist dagegen entweder auf Erinnerungslücken infolge ihrer damaligen Alkoholisierung zurückzuführen oder aber als Schutzbehauptung zu werten. Denn es bestehen erhebliche Zweifel daran, dass die Zeugin zu jedem Zeitpunkt vollständige bzw. zutreffende Angaben gemacht hat. So hat sie selbst eingestanden, hinsichtlich der Frage, wem die vom Kläger mitgeführte Gaspistole gehörte, wahrheitswidrige Angaben gemacht zu haben (vgl. polizeiliche Vernehmung vom 10. Februar 1998 und Zeugenaussage vom 11. September 2006).

20

Nach den gegenüber Herrn O. erfolgten Beleidigungen/Beschimpfungen haben sich zumindest der Kläger und die Zeugin I. bewaffnet (Gaspistole [Kläger] bzw. Peitsche, Gerte, Rohrstock oder Holzstab [Zeugin I.]). Zwar sind die Angaben der Zeugin I. zu dem konkret mitgeführten Gegenstand von Ungenauigkeiten bzw. Widersprüchen geprägt ( "Das war ein Holzstab. ( ) Mit diesem Holzstab hätte man zuschlagen können, es hätte aber wohl nicht mal richtig wehgetan. Ich hatte bei meinen ersten Vernehmungen zwar angegeben, nichts mitgenommen zu haben. Irgendwann fiel mir dann aber wieder ein, dass ich wohl doch diesen Holzstab dabei gehabt habe.", vgl. Protokoll des Erörterungstermins vom 11. September 2006; "Ob ich eine Peitsche dabei hatte, weiß ich nicht. ( ) Ich habe und hatte keine Peitsche. Theoretisch kann ich eine Peitsche gehabt haben", vgl. Protokoll des Amtsgerichts AA. vom 1. März 2001; " ( ) eine Art Rohrstock mitgenommen", vgl. S. 8 des Urteils des LG AC. vom 12. Dezember 2001 - AK.). Letztlich steht jedoch fest, dass der Kläger eine Gaspistole bei sich führte und die Zeugin I. einen Gegenstand, der zum Schlagen eingesetzt werden konnte. Diese Bewaffnung erfolgte, weil die Begleiter von Frau L. (also insbesondere auch der Kläger und Frau I.) mit weiteren Tätlichkeiten durch Herrn O. rechneten. So hat die Zeugin I. bei ihrer Vernehmung vom 11. September 2006 (unter Relativierung ihrer früheren Angaben) eingeräumt, den Gegenstand (Holzstab) deshalb mitgenommen zu haben, weil Frau L. die Gruppe um Herrn O. als gewalttätig geschildert habe (vgl. S. 5 des Protokolls des Erörterungstermins). Auch der Zeuge J. hat in seiner eidlichen Vernehmung vom 11. September 2006 bestätigt, dass die Begleiter von Frau L. damit gerechnet hätten, dass es zu Gewalttätigkeiten kommen könnte. Er sei damals davon ausgegangen, dass es sich um eine Gruppe von Neo-Nazis handele. Dass die sie begleitenden Personen mit weiteren Tätlichkeiten rechneten, ergibt sich zudem aus der Zeugenaussage der Frau L. vom 19. März 2007 ("Die anderen wollten mich nicht alleine gehen lassen. Sie hatten wohl Angst um mich. Sie wollten mich begleiten und haben sich deshalb bewaffnet. AL. hat eine Waffe mitgenommen, Frau J. eine Gerte oder Peitsche. ( ) Die wurden bewusst mitgenommen. Man geht ja nicht einfach mit einer Gerte oder Waffe spazieren."). Bereits bei ihrer Vernehmung durch das LG AC. hatte die Zeugin L. die Situation dahingehend geschildert, dass man sich "regelrecht bewaffnet" habe; der Kläger habe sich "bewusst" eine Pistole eingesteckt (S. 7 des Urteils vom 12. Dezember 2001 - AK.).

21

Der Vortrag des Klägers, die Gaspistole zwar dem Sohn von Frau I. abgenommen zu haben, diese dann jedoch in seine Jackentasche gesteckt, dort vergessen, unbewusst mit sich geführt und erst im Rahmen der tätlichen Auseinandersetzung - also quasi zufällig - wieder gefunden zu haben, ist unglaubwürdig. Möglicherweise beruhen diese Angaben auf den vom Kläger selbst geltend gemachten Erinnerungslücken (vgl. hierzu: Schriftsatz vom 1. März 2006), so dass sein Vortrag die anders lautenden Aussagen der Zeugin I., des vereidigten Zeugen J. und der Zeugin L. von vornherein nicht erschüttern kann. Aus Sicht des Senats spricht jedoch mehr dafür, dass es sich hierbei um Schutzbehauptungen handelt: So hat sich der Kläger bereits zu der Frage, ob er die Gaspistole dem jüngeren oder dem älteren Sohn von Frau I. abgenommen hat, widersprüchlich geäußert (vgl. hierzu sowie zu dem Erklärungsversuch für die unterschiedlichen Angaben: polizeiliche Vernehmung des Klägers vom 24. Februar 1998, S. 9 des Urteils des LG AC. - AK. und S. 3 des Protokolls des Erörterungstermins vom 11. September 2006). Zahlreiche weitere Widersprüche des Klägers sind bereits im Urteil des LG AC. aufgelistet worden (vgl. S. 9 des Urteils vom 12. Dezember 2001). Zusammenfassend hat das LG AC. den Kläger deshalb als "unzuverlässigen Zeugen" bezeichnet. Dementsprechend hält auch der erkennende Senat - wie auch der Beklagte, vgl. Schriftsatz vom 4. Dezember 2007 - den Vortrag des Klägers, wonach er die vorangegangenen Beleidigungen und die erfolgte Bewaffnung nicht mitbekommen bzw. die Gaspistole rein zufällig mit sich geführt haben will (vgl. S. 2f. des Protokolls des Erörterungstermins vom 11. September 2006), für nicht nachvollziehbar und somit nicht glaubhaft. Einer diesbezüglichen Glaubwürdigkeit des Klägers steht auch entgegen, dass er - trotz angeblich fehlender Kenntnisse von der Vorgeschichte - für die bevorstehende Aussprache in der Innenstadt von P. weitere Tätlichkeiten befürchtete und gerade deshalb Frau L. begleiten wollte (vgl. hierzu: S. 3 des Protokolls des Erörterungstermins vom 11. September 2006). Ebenso wenig ist nachvollziehbar, dass in der Zeit nach dem Erörterungstermin vom 11. September 2006 für den Kläger vorgetragen wurde, dass dieser - entgegen seinen eigenen Angaben im Erörterungstermin - mit einer tätlichen Auseinandersetzung bei einem Zusammentreffen mit der Gruppe "O." nicht habe rechnen können (Schriftsatz vom 22. Dezember 2006).

22

Diese zur Überzeugung des erkennenden Senats erwiesene Vorgeschichte der streitbefangenen Tat stellt einen Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 S. 1 2. Alt. OEG dar. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des BSG stellt auch das bewusste oder leichtfertige Eingehen einer Gefahr, der sich das Opfer ohne Weiteres hätte entziehen können, bei Fehlen eines dieses Verhalten rechtfertigenden Grundes einen Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 S. 1 2. Alt. OEG dar (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2007 - B 9a VG 2/05 R, Rn. 16 m.w.N.). So hat sich der Kläger in einer Gruppe von z.T. bewaffneten und z.T. alkoholisierten Personen unter bewusster Beiführung einer Gaspistole zu einem Treffen mit dem als gewalttätig bekannten N. O. begeben, nachdem dieser kurz zuvor von anderen Personen der Gruppe um den Kläger massiv beleidigt und beschimpft worden war. Damit hat sich der Kläger freiwillig und ohne zwingenden Anlass in eine Gefährdungssituation begeben, die sich im weiteren Geschehensablauf - bei einem im Einzelnen nicht geklärten Tathergang - tatsächlich realisiert hat. Wesentlicher Anlass für die Tätlichkeiten waren die unmittelbar vorangegangenen Beschimpfungen/Beleidigungen durch Mitglieder der Gruppe, in der sich auch der Kläger befand. Diese bewusst und ohne erkennbaren bzw. nachvollziehbaren Grund eingegangene und zudem leicht vermeidbare Selbstgefährdung des Klägers erfüllt die Voraussetzungen eines Versagungsgrundes nach § 2 Abs. 1 S. 1 2. Alt. OEG.

23

Für die Begleitung von Frau L. zu dem Treffen mit Herrn O. stand dem Kläger auch kein rechtfertigender Grund zur Seite. Soweit sich der Kläger zum Beweis dafür, dass Frau L. sich unbedingt mit Herrn O. habe treffen wollen und sich hiervon trotz der zu erwartenden Gewalttätigkeiten nicht habe abbringen lassen, auf das Zeugnis von R. S. berufen hat, konnte die Zeugin wegen fehlender Erinnerung an das damalige Geschehen die Angaben des Klägers nicht bestätigen (schriftliche Zeugenaussage ohne Datum, Eingang bei Gericht am 5. April 2007). Unabhängig davon scheitert die Annahme eines rechtfertigenden Grundes für die Begleitung von Frau L. bereits daran, dass die Gefahr von Tätlichkeiten erst durch die Beleidigungen und Beschimpfungen des Herrn O. durch Personen verursacht worden war, die dann später Frau L. zu der Aussprache begleiteten. Denn die Zeugin L. hatte eigentlich mit weiteren Tätlichkeiten nicht gerechnet, sondern diese allenfalls wegen der zuvor erfolgten massiven Beleidigungen und Beschimpfungen für möglich gehalten (vgl. S. 4f. des Protokolls des Erörterungstermins vom 19. März 2007). Damit stellt sich die Begleitung von Frau L. gerade auch durch diejenigen Personen, die unmittelbar vorher den bekanntermaßen gewaltbereiten Herrn O. massiv beleidigt und beschimpft hatten, nicht als Schutzmaßnahme dar, sondern im Gegenteil als gefahrverursachend oder zumindest gefahrsteigernd, also im Ergebnis gerade nicht als gerechtfertigt dar. Auch der Kläger, der zwar selbst weder alkoholisiert war noch im Vorfeld Herrn O. beleidigt hatte, hat - anstatt auf Gewaltvermeidung bzw. auf Deeskalation hinzuwirken - sich sehenden Auges in die Gefahr begeben, indem er sich für die bevorstehenden Auseinandersetzungen bewaffnet und sodann der Begleitgruppe angeschlossen hat.

24

Nach alledem kann die vom Kläger begehrte Feststellung nicht erfolgen, da ein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. OEG vorliegt (vgl. zur Zulässigkeit der Prüfung eines Versagungsgrundes i.S.d. § 2 OEG bei Offenlassen des Vorliegens eines Angriffs i.S.d. § 1 OEG: BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 VG 3/97 R).

25

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

26

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.