Landgericht Stade
Urt. v. 02.06.2008, Az.: 1 S 25/07
Bibliographie
- Gericht
- LG Stade
- Datum
- 02.06.2008
- Aktenzeichen
- 1 S 25/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 44308
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGSTADE:2008:0602.1S25.07.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Stade - 14.03.2006 - AZ: 63 C 1232/06
In dem Rechtsstreit
...
hat die 1. Zivilkammer des Landgerichts Stade auf die mündliche Verhandlung vom 26.05.2008 durch
den ...
den ...
den ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das am 14. März 2006 verkündete Urteil des Amtsgerichts Stade - 31 C 1232/06 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision gegen das Urteil wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil verwiesen.
Der Kläger beantragt,
...
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückgewiesen.
Die Kammer hat ergänzend Beweis erhoben zum Unfallhergang durch Einholung eines schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. Oberländer.
II.
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
Das angefochtene Urteil beruht nicht auf einer Rechtsverletzung im Sinne von §§ 513, 546 ZPO.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt und begründet worden.
Der Umstand, dass weder der Schriftsatz vom 19.04.2007, mit dem der Kläger hat Berufung einlegen lassen, noch die Berufungsbegründungsschrift vom 21.05.2007 einen ausformulierten Antrag im Berufungsverfahren beinhaltet, hat hier die Berufung nicht unzulässig gemacht. Ein förmlicher Antrag wird nicht unbedingt verlangt. Vielmehr genügt es, wenn die innerhalb der Begründungsfrist eingereichten Schriftsätze des Berufungsklägers ihrem gesamten Inhalt nach eindeutig ergeben, in welchem Umfang und mit welchem Ziel das Urteil angefochten werden soll (Saenger, Zivilprozessordnung, § 520 ZPO, Rn 17 sowie BGH, NJW-RR 99, 211).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, denn die Berufungsbegründung lässt hinreichend deutlich erkennen, dass der Kläger nach wie vor von einer 100 %igen Haftung der Beklagtenseite ausgeht und daher in vollem Umfang an seinem erstinstanzlichen Klageantrag festhält.
Die Berufung ist aber in der Sache unbegründet.
In Höhe von 378,93 € (= anteilige Mietwagenkosten) fehlt bereits die Aktivlegitimation des Klägers. Der Kläger hat die Ansprüche betreffend der Schadensposition Mietwagenkosten gemäß Sicherungsabtretung (Bl. 25 d.A.) an die "Enterprise" Autovermietung Deutschland GmbH abgetreten. Die gemäß Schriftsatz vom 11.01.2007 angekündigte Rückabtretung hat der Kläger nicht vorgelegt.
Unabhängig davon ist der Kläger durch die seitens der Beklagten zu 2) vorprozessual bereits geleisteten Zahlungen in Höhe von 2/3 des unfallbedingten Schadens des Klägers klaglos gestellt worden.
Eine Alleinhaftung der Beklagten scheidet aus.
Zwar ist dem Beklagten zu 1) anzulasten, mehrere vor ihm fahrende Fahrzeuge überholt und dabei übersehen zu haben, dass eines der Fahrzeuge nach links auf eine Hofeinfahrt abbiegen wollte. Diesen Verstoß gegen § 5 Abs. 2 StVO bzw. § 5 Abs. 3 Ziffer 1 StVO hat der Beklagten zu 1) in dem ihm von der Polizei übersandten Anhörungsbogen unter dem 17.10.2005 zugegeben.
Auch die übrigen gesicherten Umstände sprechen für einen derartigen Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 5 StVO. Nach Aussage der Zeugin I.... S.... hatte der vor ihrem Pkw fahrende BMW "schon einige Zeit links geblinkt und war auch langsamer gefahren". Nach Aussage des Zeugen S.... S.... hat der BMW beim Abbiegen geblinkt.
Es kann dabei im Ergebnis offen bleiben, ob der Blinker am Pkw BMW des Klägers bereits vor der Einleitung des Überholmanövers des Beklagten zu 1) gesetzt war und vom Beklagten zu 1) bei der gebotenen Sorgfalt hätte erkannt werden können und müssen. War der Blinker bereits zu diesem Zeitpunkt für den Beklagten zu 1) erkennbar gesetzt, so hätte der Beklagte zu 1) sein Überholmanöver erst gar nicht einleiten dürfen, da wegen des Blinkzeichens dann mit einem Abbiegmanöver des Klägers zu rechnen war.
War der Blinker zu diesem Zeitpunkt noch nicht bzw. für den Beklagten zu 1) nicht erkennbar gesetzt (etwa verdeckt), so hätte der Beklagte zu 1) sein Überholmanöver so einrichten müssen, dass er sich bei Klärung der Verkehrslage noch auf die Abbiegeabsicht eines vorausfahrenden Fahrzeugs einstellen kann ( OLG Celle, VersR 1980, 195, 196, m.w.N.). Auch derjenige, der zwei (bzw. wie hier sogar drei) dicht hintereinander fahrende Fahrzeuge in einem Zug überholen will, muss sich Gewissheit über die beabsichtigte Fahrweise des vorderen der beiden Fahrzeuge verschaffen, insbesondere darüber, ob dieses nach links abbiegen will (OLG Celle, a.a.O., m.w.N.).
Dem Kläger ist allerdings an dem Verkehrsunfall ein Mitverschulden in Form eines Verstoßes gegen die zweite Rückschaupflicht (§ 9 Abs. 5 StVO) in Höhe von jedenfalls 1/3 anzulasten sein. Da der Kläger mit seinem Pkw nach links auf ein Grundstück abbiegen wollte, musste er sich bei diesem Fahrmanöver so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Hierbei handelt es sich um den schärfsten Sorgfaltsmaßstab, den die StVO solchen Verkehrsteilnehmern auferlegt, die ein gefahrträchtiges Fahrmanöver, wie es das Abbiegen auf ein Grundstück darstellt, ausführen.
Zwar kommt mangels "konkreter Typizität" im vorliegenden Fall ein Anscheinsbeweis zu Lasten der Beklagten nicht in Betracht.
Ein Anscheinsbeweis für die Sorgfaltspflichtverletzung eines Linksabbiegers, welcher mit einem links überholenden Fahrzeug zusammenstößt, lässt sich jedenfalls dann nicht allein auf den Abbiegevorgang stützen, wenn der von hinten kommende Fahrer zwei (im vorliegenden Fall sogar drei) vor ihm befindliche Fahrzeuge in einem Zuge zu überholen versucht (vgl. OLG Hamm, NZV 2007, 77, 78).
Dennoch ist auf der Grundlage des Ergebnisses, der vom Amtsgericht durchgeführten Beweisaufnahme sowie des von der Kammer ergänzend eingeholten Gutachtens, des Sachverständigen Dipl.-Ing. Oberländer vom 07.02.2008 bewiesen, dass der Kläger seine Pflicht zur zweiten Rückschau unmittelbar vor dem eigentlichen Abbiegemanöver, nicht bzw. nicht sorgfältig genug ausgeführt und durch diesen Verstoß ebenfalls eine entscheidende Unfallursache gesetzt hat. Aus den handschriftlichen Angaben des Zeugen S.... S.... vom 16.10.2005 gegenüber der Polizei sowie im Rahmen seiner Aussage vor dem Amtsgericht am 21.02.2007 geht hervor, dass der Beklagte zu 1) vor Einleitung des eigentlichen Abbiegemanövers des Klägers mit der Motorrad sein Überholmanöver bereits eingeleitet hatte und für den Kläger als Überholer auf der Überholfahrbahn bei ordnungsgemäßer Rückschau des Klägers erkennbar war, so dass der Kläger verpflichtet war, sein beabsichtigtes Abbiegemanöver bis zur Vorbeifahrt des Beklagten zu 1) zurückzustellen.
Der Zeuge S.... S.... hat unter dem 16.10.2005 gegenüber der Polizei u.a. Folgendes angegeben:
"Ich bin als Beifahrer aus der Richtung Grünendeich gekommen, als ich aus dem Fahrzeug nach links schaute, sah ich neben unserem Fahrzeug ein Motorradfahrer ankommen.
Der Motorradfahrer überholte noch den vor uns fahrenden Pkw und in dem Moment ist auch der 2 Pkw vor uns links eingebogen."
Im Rahmen seiner Vernehmung durch das Amtsgericht hat dieser Zeuge seine Angaben wie folgt bestätigt:
"Ich war Beifahrer in einem Fahrzeug, das als drittes Fahrzeug insgesamt sich auf der Straße befand und habe gesehen, dass unser Fahrzeug von einem Motorrad überholt wurde und dann der vorne sich befindliche BMW nach links abbog, und zwar in dieser Reihenfolge.
Aus den Angaben dieses Zeugen ergibt sich bereits deutlich, dass der Kläger sein eigentliche Abbiegemanöver erst einleitete als der Beklagte zu 1) sich bereits auf der Überholfahrbahn befand.
Die Angaben der übrigen vom Amtsgericht vernommenen Zeugen stehen der Aussage des Zeugen S.... S.... nicht entgegen. Die Aussage der Zeugin I.... S...., sie habe den Motorradfahrer neben ihrem Fahrzeug gesehen, und zwar zu einem Zeitpunkt als der Pkw BMW des Klägers sein Abbiegemanöver bereits begonnen hatte und sich auf dem Weg direkt in die Einfahrt befand, deswegen nicht,, weil der Pkw, in dem der Zeuge S.... S.... als Beifahrer mitfuhr, sich hinter dem Fahrzeug befand, in dem die Zeugin I.... S.... als Beifahrerin mitfuhr. Der Beklagte zu 1) musste daher nicht nur zunächst das Fahrzeug, in dem sich der Zeuge S.... S.... befand passieren sondern auch noch auf das davor befindliche Fahrzeug, in dem sich die Zeugin I.... S.... befand aufschließen und dieses soweit überholen, dass die Zeugin I.... S.... das überholende Motorrad neben sich wahrnehmen konnte. Dazu bedarf es Zeit und Raum.
Bestätigt wird dieses Beweisergebnis letztlich auch durch die Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. Oberländer in seinem Gutachten vom 07.02.2008. darin hat der Sachverständige u.a. Folgendes ausgeführt:
"Vor dem Hintergrund der Gesamtumstände lässt sich die Kollisionsgeschwindigkeit des Klägerfahrzeugs mit etwa 15 km/h und die des Beklagtenfahrzeugs mit etwa 30 km/h abschätzen. Unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten und den Vorgaben im Beweisbeschluss ist davon auszugehen, dass das Beklagtenfahrzeug für den Kläger etwa 2,5 s vor der Kollision (etwa zeitgleich mit dem Abbiegebeginn) erkennbar war. Im Falle einer sofortigen und zielgerichteten Reaktion betrug die Annäherungsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs etwa 60 km/h und die Kollision wäre für den Beklagten zu 1) bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Reaktionsort räumlich vermeidbar gewesen. Für den Kläger wäre die Kollision ebenfalls räumlich vermeidbar gewesen, wenn dieser auf das Einfahren des Beklagtenfahrzeugs in den Sichtbereich reagiert hätte.
Zur Frage der Vermeidbarkeit aus Sicht des Klägers ist ausgehend von diesen Zusammenhängen auszuführen, dass dieser die Kollision im Falle eines sofortigen Abbruchs des Abbiegevorganges (durch Rücknahme des Linkslenkeinschlages und Einleitung eines Bremsmanövers) räumlich hätte vermeiden können, da das Klägerfahrzeug in diesem Fall vor Erreichen der Kollisionsstelle zum Stillstand gekommen wäre.
Aus Sicht des Beklagten zu 1) ist vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse zur Frage der Vermeidbarkeit auszuführen, dass dieser das Beklagtenfahrzeug (im Falle einer sofortigen und zielgerichteten Reaktion auf die Erkennbarkeit des Klägerfahrzeugs hin) bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (50 km/h) vor Erreichen der Kollisionsstelle hätte zum Stillstand bringen und die Kollision somit räumlich vermeiden können.
Wenn das Klägerfahrzeug den Abbiegevorgang aus dem Stand heraus ausgeführt, ist (bei einer Beschleunigungsstrecke von etwa 6 m und einer mittleren Anfahrbeschleunigung von 1,5 m/s2) eine Zeitspanne vom Anfahrbeginn bis zum Erreichen der Kollisionsstelle von etwa 2,5 s anzusetzen. Wird in diesem Fall unterstellt, dass die beiden Stelling-Fahrzeuge vor dem Anfahrbeginn des Klägers hinter diesem zum Stillstand kamen, ergaben die Berechnungen, dass das Beklagtenfahrzeug für den Kläger (in Abhängigkeit der Positionen der Fahrzeuge Stelling in Fahrbahnquerrichtung) bei Anfahrbeginn im Außenspiegel erkennbar war.
Zur Frage der Vermeidbarkeit aus Sicht des Klägers ist ausgehend von diesen Zusammenhängen auszuführen, dass dieser die Kollision im Falle eines sofortigen Abbruchs des Abbiegevorganges räumlich hätte vermeiden können, da das Klägerfahrzeug in diesem Fall vor Erreichen der Kollisionsstelle zum Stillstand gekommen wäre."
Demnach ist zu Lasten des Beklagten zu 1) eine unfallursächliche Geschwindigkeitsüberschreitung von 20 % (60 km/h statt 50 km/) bewiesen und es lässt sich nicht feststellen, dass der Unfall für den Kläger unvermeidbar war. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Kläger bei sorgfältiger Rückschau vor dem eigentlichen Abbiegevorgang den Beklagten zu 1) als Überholer hätte erkennen und bei sofortiger Reaktion den Unfall durch Abbruch des Abbiegevorgang räumlich hätte vermeiden können. Der Nachweis, dass der Kläger die besonderen Sorgfaltspflichten gemäß § 9 Abs. 5 StVO erfüllt hat, ist demnach nicht erfolgreich geführt.
Der Kläger haftet nach alle dem mit mindestens 1/3 für die Unfallfolgen selbst, so dass er durch die vorprozessualen Zahlungen der Beklagten zu 2) bereits klaglos gestellt worden ist.
Ohne Erfolg macht der Kläger geltend machen, das Amtsgericht sei dem Beweisangebot nicht nachgegangen, den Kläger als Partei zu vernehmen bzw. (hilfsweise) anzuhören.
Eine Parteivernehmung des Klägers auf eigenen Antrag des Klägers hin kam weder nach § 445 ZPO noch - mangels Zustimmung der Beklagten - gemäß § 447 ZPO in Betracht.
Eine Parteivernehmung nach § 448 ZPO kann im Fall der Beweisnot einer Partei aus dem Gesichtspunkt der prozessualen Waffengleichheit notwendig sein. Die Voraussetzungen dafür liegen hier jedoch nicht vor. Es geht nämlich nicht um den Inhalt eines Vier-Augen-Gesprächs zwischen einer Partei und dem Vertreter der anderen Partei (dazu EGMR, NJW 1995, 1413), sondern um die vom Kläger behauptete Durchführung der zweiten Rückschaupflicht. In einem solchen Fall lässt sich eine vom sonstigen Beweisergebnis unabhängige Pflicht zur Parteivernehmung des Klägers nicht aus dem Grundsatz der Waffengleichheit herleiten.
§ 448 ZPO verschafft dem Gericht dann, wenn nach dem Ergebnis der bisherigen Verhandlung und Beweisaufnahme eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der streitigen Behauptung spricht (vgl. BGH, NJW 1989, 3222 [3223]) und andere Erkenntnisquellen nicht mehr zur Verfügung stehen, unter Durchbrechung des Beibringungsgrundsatzes ein Mittel zur Gewinnung letzter Klarheit. Davon darf das Gericht allerdings nur dann Gebrauch machen, wenn es auf Grund der Gesamtwürdigung von bisheriger Verhandlung und Beweisaufnahme weder von der Wahrheit noch von der Unwahrheit der zu beweisenden Behauptung überzeugt ist, also eine echte non-liquet-Situation besteht. Das ist hier nicht der Fall. Die Parteivernehmung ist auch sonst nicht zur Herstellung der prozessualen Chancengleichheit geboten; denn es wurden mehrere Zeugen vernommen, die einerseits auch Angaben des Klägers (zum gesetzten Blinker) aber auch Vortrag der Beklagten zur Verletzung der zweiten Rückschau durch den Kläger) unterstützen. Aus dem insoweit dem Kläger nachteiligen Beweisergebnis allein folgt keine Verpflichtung des Gerichts zur Parteivernehmung. Eine andere Interpretation der Vorschriften über die Parteivernehmung ist auch nicht mit Blick auf Art. 6 I MRK veranlasst (OLG Frankfurt a.M., OLG-Report 2003, 81 sowie OLG Koblenz, NJOZ 2004, 378, 383).
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 543, 708 Nr. 10, 713 ZPO.