Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 13.12.2006, Az.: L 2 R 466/06 ER
Zugangsfaktor bei einem Anspruch auf Neuberechnung der Rente wegen voller Erwerbsminderung; Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Sozialgericht
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 13.12.2006
- Aktenzeichen
- L 2 R 466/06 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 28747
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:1213.L2R466.06ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 20.11.2006 - AZ: S 34 R 490/06 ER
Rechtsgrundlagen
- § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI
- § 264c SGB VI
- § 86b Abs. 2 SGG
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 20. November 2006 wird aufgehoben.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Mit Bescheid vom 07. November 2002 gewährte die Antragsgegnerin der Antragstellerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit in Höhe eines monatlichen Zahlbetrages von 679,98 EUR. Bei der Rentenberechnung legte die Antragsgegnerin einen Zugangsfaktor von 0,925 zugrunde.
Mit Schreiben vom 20. September 2006 begehrte die Antragstellerin von der Antragsgegnerin eine Rentenneuberechnung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0. Zur Begründung berief sie sich auf das Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R -.
Die Antragsgegnerin wies in einem Schreiben vom 05. Oktober 2006 darauf hin, dass die vom BSG in diesem Urteil vertretene Rechtsauffassung von ihr nicht geteilt werde. Das Verfahren könne erst nach Absprache aller Rentenversicherungsträger fortgesetzt werden.
Auf den am 09. November 2006 eingegangenen Antrag der Antragstellerin hat das Sozialgericht Lüneburg die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 20. November 2006 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 09. November 2006 die Erwerbsminderungsrente unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 gemäß dem Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 zu gewähren.
Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass sich die Antragsgegnerin offensichtlich rechtswidrig verhalte. Ihre Haltung widerspreche Art. 20 Abs. 3 GG und sei unter keinem Gesichtspunkt nachvollziehbar. Für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes streite insbesondere das Recht auf effektiven Rechtsschutz.
Gegen dieser Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 29. November 2006.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die vom Sozialgericht erlassene einstweilige Anordnung sind nicht gegeben.
Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des ersten Rechtszugs und, wenn die Hauptsache im Berufungsverfahren anhängig ist, das Berufungsgericht.
a.
Der Senat vermag im Rahmen der im vorliegenden Eilverfahren allein möglichen summarischen Beurteilung der Rechtslage schon nicht abschließend zu beurteilen, ob der geltend gemachte Anspruch auf Neuberechnung der Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 begründet ist. Der Antragstellerin ist zwar zuzugestehen, dass bei Heranziehung der vom BSG in dem o.g. Urteil vom 16. Mai 2006 vertretenen Rechtsauffassung der geltend gemachte Anspruch begründet wäre. Der Senat vermag derzeit aber noch nicht zu überblicken, ob sich diese bislang nur in einer einzelnen Entscheidung des BSG vertretene Auffassung zu einer festen Rechtsprechung entwickeln wird.
Dabei dürfte auch zu erwägen sein, dass die vom BSG im Urteil vom 16. Mai 2006 herangezogene Regelung des § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI nicht aus ihrem Zusammenhang mit der vorausgehenden Bestimmungen des § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 und S 2 SGB VI zu lösen sein dürfte. Soweit in § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI die Vollendung des 60. Lebensjahrs als maßgebend "für die Bestimmung des Zugangsfaktors" festgelegt wird, dürfte der Gesetzeswortlaut nicht mehr besagen, als das der Zugangsfaktor so zu bestimmen ist, als ob die Erwerbsminderungsrente nicht vor Vollendung des 60. Lebensjahres bezogen würde. Ein Versicherter, der ab dem 50. Geburtstag eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bezieht, hätte nach der Ausgangsregelung des § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI an sich eine Kürzung des Zugangsfaktors um 0,003 für jeden der (insgesamt 156) Kalendermonate der Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres, d.h. einen Zugangsfaktor von nur 0,532 (1 - 156 - 0,003), hinzunehmen. § 77 Abs. 2 S. 2 und 3 SGB VI modifizieren diese Regelung jedoch dahingehend, dass die Kürzung des Zugangsfaktors um 0,003 nur für jeden der (insgesamt 36) Monate zwischen Vollendung des 60. und des 63. Lebensjahres vorzunehmen ist, so dass jedenfalls ein Zugangsfaktor von 0,892 (1 - 36 - 0,003) verbleibt (wobei in Fällen eines Rentenbeginns vor dem 01. Januar 2004 und damit auch im vorliegenden Fall die Kürzung des Zugangsfaktors zusätzlich durch die Übergangsregelung des § 264 c SGB VI i.V.m. der Anlage 23 zu diesem Gesetz begrenzt wird).
Auch die Gesetzesmaterialien (vgl. die Gesetzesbegründung zu Art. 1 und 32 des Rentenreformgesetzes, BT-Drs. 13/8011 zu Nr. 37) dürften dafür sprechen, dass der Gesetzgeber von einer Betroffenheit aller (also auch der unter 60jährigen) Bezieher einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ausging (in diesem Sinne auch Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI, § 77 Rn. 45).
Zudem dürfte zu bedenken sein, dass die vom BSG im Urteil vom 16. Mai 2006 vertretene Rechtsauffassung zur Folge hat, dass mit der Vollendung des 60. Lebensjahres des Rentenbeziehers eine (deutliche) Rentenkürzung einhergehen würde. Dieses Ergebnis erscheint angesichts des mit der Erwerbsminderungsrente angestrebten Versorgungsziels um so weniger naheliegend, als typischerweise die Möglichkeiten einer Aufbesserung der Rente durch einen Hinzuverdienst (vgl. nur § 94 SGB VI) mit zunehmendem Alter abnehmen dürften.
Vor dem erläuterten Hintergrund kommt eine abschließende (erforderlichenfalls drittinstanzliche) Klärung der streitigen Rechtsfrage erst im Hauptsacheverfahren in Betracht.
b.
Abgesehen von der bislang noch nicht abschließend geklärten Rechtslage kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung auch deshalb nicht in Betracht, weil es ersichtlich an einem Anordnungsgrund mangelt. Wie erläutert, hat der Erlass einer solchen Anordnung nach den gesetzlichen Vorgaben des § 86b Abs. 2 SGG zur Voraussetzung, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte oder dass die begehrte Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Auf entsprechenden richterlichen Hinweis hat die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren lediglich vorgetragen, dass zur Frage eines Anordnungsgrundes "nichts weiter vorgetragen" werden könne. Auch nach Einschätzung des Senates ist nichts dafür ersichtlich, dass es für die Antragstellerin mit unzumutbaren Nachteilen verbunden sein oder dass sogar die Effektivität des Rechtsschutzes in Frage gestellt werden könnte, wenn diese darauf verwiesen wird, ihr geltend gemachtes Recht auf Neuberechnung der Erwerbsminderungsrente im Hauptsacheverfahren zu verfolgen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).