Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 09.07.2020, Az.: 19 A 11909/17

Abschiebehindernis; Abschiebungsverbot; Afghanistan; Alleinstehend; Arbeitsfähig; Corona; Corona-Virus; COVID-19; Europa; Gelegenheitsarbeit; Gesund; humanitäre Bedingungen; humanitäre Gründe; humanitäre Lage; Ledig; Mann; Rückkehrer; Tagelöhner; Verelendung; Westen

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
09.07.2020
Aktenzeichen
19 A 11909/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 71801
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Derzeit sind die humanitären Bedingungen in Afghanistan so außergewöhnlich schlecht, dass ausnahmsweise auch für einen alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann eine reale Gefahr besteht, dass er weder in Kabul noch an anderen Orten in Afghanistan in der Lage sein wird, auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung und Unterkunft zu befriedigen, wenn er weder über ein leistungsfähiges und -bereites Netzwerk in Afghanistan noch über nachhaltige Unterstützung aus dem Ausland oder nennenswertes Vermögen verfügt

Tenor:

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.

Im Übrigen wird die Beklagte zu der Feststellung verpflichtet, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention in Bezug auf Afghanistan vorliegt.

Der Bescheid der Beklagten vom 06.10.2017 wird hinsichtlich der Ziffern 4 bis 6 aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu drei Vierteln und die Beklagte zu einem Viertel.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt nach Rücknahme der Klage im Übrigen noch die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

Nach eigenen Angaben ist der Kläger am F. 1999 in der afghanischen Provinz Kapisa geboren, hat die afghanische Staatsangehörigkeit und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Nachdem er schon als Kind mit seiner Familie in den Iran ausgewandert war, reiste er von dort aus von November 2015 bis Juni 2016 gemeinsam mit zwei Geschwistern über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Juli 2016 wurde er durch das Jugendamt der G. in Obhut genommen. Am 21.10.2016 stellte sein Amtsvormund für ihn einen Asylantrag.

Bei seiner Anhörung vor dem C. (Bundesamt) am 31.07.2017 führte er aus, seine Familie habe Afghanistan seinerzeit verlassen, weil es in Kapisa immer wieder Gefechte gegeben habe. Er habe dort keine Familie mehr. Afghanistan sei für ihn ein fremdes Land, in dem er keine Existenz habe. Im Iran würden neben seinen Eltern noch zwei Schwestern, drei Brüder, eine Tante und vier Onkel väterlicherseits und ein Onkel mütterlicherseits leben. Er sei dort illegal gewesen und zwei- oder dreimal festgenommen worden, aber mithilfe seiner iranischen Freunde wieder freigekommen. Nach dem achtjährigen Besuch einer privaten Schule habe er auf dem Bau gearbeitet. Er sei aus dem Iran fortgegangen, weil er dort keine Möglichkeit gehabt habe, sich weiterzubilden. Außerdem sei er ein guter Fußballspieler und habe dort keine Chance gehabt. Sein Vater und seine Onkel seien gegen das Fußballspielen gewesen, sein Vater habe ihn deshalb mehrmals misshandelt.

Mit Bescheid vom 06.10.2017 lehnte das Bundesamt es ab, den Kläger als asylberechtigt anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuzuerkennen (Nrn. 1 bis 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Nach Ablauf einer Ausreisefrist 30 Tagen drohte es dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nrn. 5 und 6). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, der Kläger habe bezogen auf Afghanistan, das er bereits als Kind verlassen habe, kein individuelles Verfolgungsschicksal vorgetragen und ein solches sei auch nicht erkennbar. Dem Kläger drohe auch kein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Asylgesetz (AsylG). Insbesondere würde die willkürliche Gewalt in den innerstaatlichen Konflikten in Afghanistan und namentlich in der Herkunftsprovinz des Klägers, Kapisa, nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche Niveau erreichen. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehe aufgrund der derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers nicht. Er sei jung, gesund und ledig, besitze eine achtjährige Schulbildung und Arbeitserfahrungen auf dem Bau. Da er keine familiären Bindungen habe, könne er sich in einer der großen Städte niederlassen, wo die humanitären Bedingungen im Gegensatz zu einigen abgeschiedenen Regionen befriedigend seien. Dass er Afghanistan bereits als Kind verlassen habe, stehe einer Rückkehr nicht entgegen. Ein Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen möge die Sicherung des Lebensunterhalts vereinfachen, sei aber nicht erforderlich, um zumindest eine bescheidene Existenz zu sichern. Maßgeblich sei, ob jemand den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht habe und eine der beiden Landessprachen spreche. Der Kläger habe sein gesamtes Leben in islamisch geprägten Staaten verlebt und beherrsche sowohl Dari als auch Paschtu. Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei angemessen. Der Kläger verfüge im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen seien.

Am 23.10.2017 hat der Kläger Klage erhoben. Er verweist auf seine Angaben in der Anhörung und führt ergänzend aus: Als Rückkehrer aus Europa werde er als „verwestlichte Person“ stigmatisiert. Ihm drohe deshalb sozialer Ausschluss und Verfolgung durch extremistische Gruppierungen. Zudem habe er ein erhöhtes Entführungsrisiko, weil Rückkehrern aus Europa unterstellt werde, dort an Geld gekommen zu sein und Unterstützungsnetzwerke zu haben. Jedenfalls bestehe ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, weil er im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan aufgrund der dortigen Versorgungs- und Sicherheitslage mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald verhungern würde oder ähnlichen existenzbedrohenden Gefahren ausgesetzt wäre. Der Zugang zu Arbeit, Wohnraum und überlebenswichtigen Ressourcen funktioniere in Afghanistan in der Regel über bestehende Kontakte zu klientelistischen Netzwerken, die er nicht habe. Ohne familiäre Unterstützung sei es ihm auch in einer Großstadt nicht möglich, sich ein Leben aufzubauen. Nach der weiteren Ausbreitung des innerstaatlichen Konflikts seien die große Zahl der Binnenvertriebenen zusammen mit der enormen Anzahl an Rückkehrern aus Pakistan und Iran zu einer extremen Belastung der ohnehin bereits überstrapazierten Aufnahmekapazitäten in den wichtigsten Städten geworden. Daneben sei die Wirtschaft seit dem Jahr 2012 massiv eingebrochen. Die Anzahl der Personen, die akut von humanitärer Hilfe abhängig sind, sei stark gestiegen. Die humanitären Indikatoren seien auf einem kritisch niedrigen Niveau, wobei die in den Städten lebenden Binnenvertriebenen und Rückkehrer aufgrund des mangelnden Zugangs zu sozialer Grundversorgung und zu Erwerbsmöglichkeiten besonders schutzbedürftig seien. Sie seien häufig gezwungen, in informellen Siedlungen mit beschränktem Zugang zu Wasser und Sanitäreinrichtungen zu leben. Die medizinische Versorgung sei aufgrund fehlender Medikamente, mangelhafter Klinikausstattung und fehlender Ärzte auch in Kabul unzureichend. Die Situation am Arbeitsmarkt sei ebenfalls äußerst schwierig. Die Arbeitslosenquote sei im Jahr 2015 auf 40% angestiegen. Die Bevölkerung in den Städten sei davon stärker betroffen, da ihr die Möglichkeit zur Subsistenzwirtschaft fehle. Zudem habe sich der wirtschaftliche Einbruch besonders auf den Dienstleistungssektor und das Baugewerbe ausgewirkt, wo Rückkehrer früher teilweise als Tagelöhner Arbeit hätten finden können. Aus einer Studie der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) ergebe sich, dass nur 23% aller Rückkehrer Arbeit finden könnten. Nach weiteren Studien betrage die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen 82% und in der Gesamtbevölkerung von Mazar-e-Sharif 70% und seien landesweit 90% der Arbeitnehmer in prekären Verhältnissen beschäftigt. Personen, die wie er nicht in Afghanistan aufgewachsen seien, hätten aufgrund ihrer mangelnden Kenntnisse der örtlichen Gepflogenheiten in dem Konkurrenzkampf um die spärlichen Arbeitsmöglichkeiten keine Chance. Das schweizerische Bundesverwaltungsgericht gehe ebenfalls von einer verschlechterten Sicherheits- und humanitären Lage in Kabul aus und nehme auch bei jungen, gesunden Männern an, dass sie ohne besondere begünstigende Faktoren wie ein tragfähiges soziales Netz in eine existenzbedrohende Situation geraten würden (Urt. v. 13.10.2017 - D-5800/2016 -). Spätestens seit Ausbruch der Corona-Pandemie müsse ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt werden. Neben den über 33.000 Infizierten sei von einer extrem hohen Dunkelziffer auszugehen. Es sei mit einer unkontrollierten Verbreitung und unzureichender medizinischer Versorgung zu rechnen. Angesichts der schlechten Lebensbedingungen sei auch bei jungen Erwachsenen ein schwerer Verlauf der Krankheit zu befürchten. Zudem nehme die humanitäre Not zu. Die Weltbank prognostiziere, dass die afghanische Wirtschaft um bis zu 4% schrumpfen werde. Afghanische Behörden gingen davon aus, dass bereits 2 Millionen Menschen aufgrund der Corona-Pandemie ihre Arbeit verloren hätten und dass die Arbeitslosenquote um 40% und die Armutsrate um 70% ansteigen werde. Eine Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt sei nicht zu erwarten, da aufgrund der Corona-Pandemie zahlreiche Wanderarbeiter aus dem Iran zurückgekehrt seien, die dort ihre Arbeit verloren hätten und nun auf den heimischen Markt für Gelegenheitsarbeiten drängen würden. Während üblicherweise lediglich 20% der Iranrückkehrer humanitäre Ankunftshilfe benötigten, werde diese aktuell von 100% der Rückkehrer in Anspruch genommen. Darüber hinaus sei zu befürchten, dass Rückkehrer aus Europa als potentielle Träger des Virus stigmatisiert würden. Zugleich seien die Lebensmittelpreise um bis zu 20% gestiegen, beinahe 12 Millionen Menschen seien von Nahrungsmittelunsicherheit bedroht.

In Bezug auf die zunächst begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung subsidiären Schutzes hat der Kläger die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.

Der Kläger beantragt nunmehr noch,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 06.10.2017 zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Afghanistan vorliegt,

höchst hilfsweise, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 09.07.2020 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung kann ein Urteil ergehen, da sie gemäß § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann.

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet. Die Beklagte ist zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu verpflichten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. In Bezug auf die Ziffern 4 bis 6 ist der Bescheid vom 06.10.2017 daher aufzuheben, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Dies umfasst das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. In besonderen Ausnahmefällen können auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Abschiebungszielstaat ein Abschiebungsverbot begründen. Hierzu hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt (BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 45/18 -, Asylmagazin 2019, 311, juris Rn. 11 f. m.w.N.; ähnlich auch Nds. OVG, Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 50 f.):

„Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei "nichtstaatlichen" Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein "verfolgungsmächtiger Akteur" (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 25; s.a. Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 13.12 - BVerwGE 147, 8 Rn. 25). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR <GK>, Urteil vom 13. Dezember 2016 - Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien - Rn. 174; EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 - C-578/16 PPU [ECLI:EU:C:2017:127], C.K. u.a. - Rn. 68); es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (s.a. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 11). In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim - Rn. 89 ff. und - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 90 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre".“

Ein Abschiebungsverbot besteht, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr ("real risk") läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jüngst klargestellt hat, ist ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent und kann daher nicht ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis verlangt werden, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (BVerwG, Beschl. v. 13.02.2019 – 1 B 2/19 –, juris Rn. 6 m.w.N.; ähnlich Nds. OVG, Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 52). Den Wahrscheinlichkeitsmaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit hat das Bundesverwaltungsgericht in einer nachfolgenden Entscheidung anlässlich der Prüfung drohender politischer Verfolgung weiter konkretisiert (Urt. v. 04.07.2019 – 1 C 31/18 –, juris Rn. 16):

„Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 19 Rn. 37).“

Nach diesen Maßgaben ist anzunehmen, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seines Rechts aus Art. 3 EMRK droht. Zwar geht das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht bislang davon aus, dass eine derartige Rechtsverletzung für einen alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann auch dann nicht generell gegeben ist, wenn er im Iran aufgewachsen ist (sog. "faktischer Iraner") und weder über ein soziales Netzwerk in Afghanistan noch über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder nennenswertes Vermögen verfügt (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Ls. 3 u. Rn. 94 ff.; ähnlich VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Ls. 3 u. Rn. 392 ff.; Sächs. OVG, Urt. v. 03.07.2018 - 1 A 215/18.A -, juris Rn. 43 ff., OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, juris Rn. 198 ff.; BayVGH, Beschl. v. 03.09.2019 - 13a ZB 19.33043 -, juris Rn. 6 f.; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 22.01.2020 - 13 A 11356/19 -, juris 2. Ls. u. Rn. 68 ff., OVG Bremen, Urt. v. 12.02.2020 - 1 LB 305/18 -, juris Ls. 4 u. Rn. 88 ff.; anders bereits HessVGH, Urt. v. 23.08.2019 - 7 A 2750/15.A -, juris). Angesichts der weiteren Verschlechterungen der Situation in der jüngeren Vergangenheit ist die Kammer jedoch der Auffassung, dass derzeit in Afghanistan so außergewöhnlich schlechte humanitäre Bedingungen vorliegen, dass ausnahmsweise auch für einen alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann eine reale Gefahr besteht, dass er weder in Kabul noch an anderen Orten in Afghanistan in der Lage sein wird, auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung und Unterkunft zu befriedigen, wenn er weder über ein leistungsfähiges und -bereites Netzwerk in Afghanistan noch über nachhaltige Unterstützung aus dem Ausland oder nennenswertes Vermögen verfügt (ähnlich oder weitergehend aufgrund der Änderungen der Situation wegen COVID-19 auch VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid v. 05.05.2020 - 21 K 19075/17.A -, juris Rn. 265 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 15.05.2020 - A 19 K 16467/17 -, juris Leitsatz und Rn. 99 ff.; VG Stuttgart, Urt. v. 18.05.2020 - A 1 K 18261/17 -; VG Freiburg, Urt. v. 22.05.2020 - A 10 K 573/17 -; VG Sigmaringen, Urt. v. 22.5.20 - A 2 K 7775/17- u. Urt. v. 8.6.20 - A 10 K 9182/17 -; VG Magdeburg, Urt. v. 28.5.20 - 4 A 123/20 MD -, jeweils V.n.b -; VG Cottbus, Urt. v. 29.05.2020 - 3 K 633/20 A -, juris Rn. 45 ff.; a.A. VG Freiburg, Urt. v. 19.05.2020 - A 8 K 9604/17 -, juris Ls. 1 u. Rn. 40 ff.; VG Stade, Urt. v. 12.05.2020 - 3 A 82/20 - u. Urt. v. 08.06.2020 - 6 A 1644/17 -; VG Oldenburg, Urt. v. 17.06.2020 - 5 A 6347/17 -; VG Osnabrück, Urt. v. 18.06.2020 - 1 A 794/17 -, jeweils V.n.b.). Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger derart verelenden wird, kann zwar nicht eindeutig beziffert werden. Sie liegt aber bei mindestens 50%. Angesichts der Schwere der drohenden Rechtsgutverletzungen, die von ernsthaften körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen bis hin zum Tod reichen können, würde ein besonnener und vernünftig denkender Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat daher nicht auf sich nehmen.

Diese Annahme beruht auf folgenden Erwägungen: Aufgrund der bereits jahrzehntelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen ist die humanitäre Situation in Afghanistan schon lange schlecht. Seit 2012 kam es - auch bedingt durch die Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes im Jahr 2014 - zu weiteren Einbrüchen der Wirtschaft. In Bezug auf die Integrationsmöglichkeiten von Rückkehrern ist von Bedeutung, dass es kein Sozialhilfesystem gibt, dass der Zugang zu Ressourcen wie Arbeit und Wohnraum überwiegend über soziale Netzwerke vermittelt wird und dass gegen Rückkehrer aus Europa aus verschiedenen Gründen erhebliche Vorbehalte bestehen (nachfolgend unter 1.). In den vergangenen zweieinhalb Jahren hat sich die humanitäre Situation weiter zugespitzt (nachfolgend unter 2.). Von der erneuten Verschärfung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sind Rückkehrer, insbesondere Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, besonders betroffen (nachfolgend unter 3.). Aus den bekannten Faktoren ist abzuleiten, dass es einem Rückkehrer aus dem Westen ohne unterstützendes Netzwerk in Afghanistan, Unterstützung aus dem Ausland oder eigenes Vermögen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht gelingen wird, seine Existenz auch nur notdürftig zu sichern (nachfolgend unter 4.).

1. Zur Darstellung der Lebensverhältnisse in Afghanistan und der spezifischen Schwierigkeiten, auf die Rückkehrer aus westlichen Ländern stoßen, wird auf die ausführliche Darstellung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 12.10.2018 verwiesen (- A 11 S 316/17 -, juris Rn. 205 ff., zu Besonderheiten der Lage in Kabul Rn. 364 ff.).

2. Seither hat sich die humanitäre Situation allerdings massiv weiter verschlechtert:

Die Sicherheitslage ist auch im Jahr 2019 sehr angespannt geblieben. Nach einem vergleichsweise ruhigen ersten Halbjahr sind die Opferzahlen im dritten Quartal des Jahres 2019 stark angestiegen, so dass insgesamt das hohe Vorjahresniveau beinahe wieder erreicht wurde (2018: 10.994 Opfer, davon 3.803 Tote, 2019: 10.392 Opfer, davon 3.403 Tote, United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA), Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict 2019, Februar 2020, S. 5 f.). Im Global Peace Index hat Afghanistan im Jahr 2019 Syrien vom letzten Platz verdrängt (Institute for Economics & Peace. Global Peace Index 2019: Measuring Peace in a Complex World, Juni 2019). Im ersten Quartal 2020 lag die Anzahl der landesweiten Opfer mit 1.293 Personen (533 Tote und 769 Verletzte) für den Vergleichszeitraum auf dem niedrigsten Stand seit 2012 (UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict 2020, First Quarter Report, S. 1). Seither stieg das Gewaltniveau aber wieder, so dass der UN-Generalsekretär dem Sicherheitsrat am 17.06.2020 von einer vergleichbaren Anzahl an Vorkommnissen wie im Vorjahreszeitraum berichtete (UN General Assembly, Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, Ziffer 18 ff.).

Weitere Faktoren für die Verschärfung der humanitären Situation waren eine schwere Dürre im zweiten Halbjahr 2018/Anfang 2019 sowie Überschwemmungen im Jahr 2019 (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA), Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 10; Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juli 2019, S. 5, 28).

Vor diesen Hintergründen sind zu den vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg für das Jahr 2017 berücksichtigten 501.000 neuen Binnenvertriebenen (Urt. v. 12.10.2018, a.a.O., Rn. 294) in den Jahren 2018 bis Mitte 2020 noch über 1,1 Millionen weitere Binnenvertriebene hinzugekommen (2018: 636.000, 2019: 398.000, UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 13; bis Ende Juni 2020: 88.530, UNOCHA, Afghanistan Weekly Humanitarian Update (22 June - 28 June 2020), S. 1). Außerdem kehrten aufgrund der Entwicklungen in den Nachbarländern über 1,6 Millionen Afghaninnen und Afghanen aus Iran und Pakistan zurück (2018: 821.000, 2019: 453.000, UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 13, bis Ende Juni 2020: 350.140, UNOCHA, Afghanistan Weekly Humanitarian Update (22 June - 28 June 2020), S. 1). Zudem drängen aufgrund des starken Bevölkerungswachstums aus demografischen Gründen jährlich ungefähr 400.000 weitere Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt (UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 9).

Hinzu kommen seit diesem Frühjahr die Herausforderungen der weltweiten Pandemie COVID-19. Die Zahl der bestätigten Infizierten und Todesfälle ist bislang zwar vergleichsweise niedrig. Am 08.07.2020 gab es 33.190 bestätigte Infizierte und 898 bestätigte Todesfälle. Allerdings ist angesichts der mangelhaften Testmöglichkeiten und des sozialen Stigmas von sehr viel höheren Dunkelziffern auszugehen. Aufgrund zahlreicher ungünstiger Faktoren wie der schlechten medizinischen Versorgung und den prekären Lebensverhältnissen, die wirksame Schutzmaßnahmen wie Hygiene und Distanz vereiteln, sehen sowohl die Internationale Organisation für Migration (IOM) als auch das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) für die Zukunft die Gefahr einer starken Ausbreitung. Das afghanische Gesundheitsministerium hält es für möglich, dass sich in den kommenden Monaten 26 Millionen Personen infizieren und über 100.000 sterben könnten. Bereits jetzt stoßen die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen (IOM: Large Scale COVID-19 Infections Feared in Afghanistan as IOM Scales Up Response, Pressemitteilung vom 05.05.2020, https://www.iom.int/news/large-scale-covid-19-infections-feared-afghanistan-iom-scales-response; EASO: Special Report: Asylum Trends and COVID-19, 07.05.2020; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA): Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 29.06.2020, S. 7; BAMF: Briefing Notes 29.06.2020, S. 1; BBC News: Coronavirus overwhelms hospitals in war-ravaged Afghanistan, https://www.bbc.com/news/world-asia-53198785, 30.06.2020). Gravierender als die Krankheit selbst sind bisher die Auswirkungen der dagegen ergriffenen Maßnahmen. Seit Ende März 2020 wurden Hotels, Restaurants, Schulen, Sportstätten etc. geschlossen, sukzessive insbesondere in den größeren Städten Ausgangssperren verhängt und Geschäfte geschlossen und der Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt. Anfang Juni wurde beschlossen, den landesweiten Lockdown für drei Monate zu verlängern. Er beinhaltet nunmehr noch die Schließung von Schulen und Universitäten, Hotels, Parks, Sporteinrichtungen u. ä., Verbote von Ansammlungen von mehr als zehn Personen und des Transports von mehr als vier Personen, eine Verpflichtung älterer Menschen, zuhause zu bleiben, eine Maskenpflicht und Abstandsregelungen. Regional werden teilweise strengere oder mildere Maßnahmen ergriffen. Zudem ist die Umsetzung unterschiedlich streng, wobei die Kontrollen in den größeren Städten stärker sein sollen. Seit Ende Juni sind internationale Flugverbindungen wieder aufgenommen worden, die Inlandsflüge blieben bislang ausgesetzt (BFA: Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 29.06.2020, S. 7 ff., 12 f; BAMF: Länderinformation COVID-19-Pandemie, Stand: 06/2020, S. 23 f.; UNOCHA: Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 01.07.2020 S. 1; BAMF: Briefing Notes 06.04.2020, S. 2, 11.05.2020, S. 2, 08.06.2020, S. 2, 15.06.2020, S. 1, 06.07.2020, S. 2). Infolge des Lockdowns sind viele Beschäftigungsmöglichkeiten für Tagelöhner entfallen, zugleich sind die Preise für Grundnahrungsmittel um 15% bis 40 % angestiegen (UNOCHA: Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 01.07.2020, S. 1). Durch die starke Betroffenheit des benachbarten Iran von COVID-19 hat auch eine hohe Zahl der dort lebenden afghanischen Tagelöhner ihre Arbeitsstellen verloren, so dass in großem Umfang die Transferleistungen dort lebender Angehöriger an ihre Familien in Afghanistan entfallen (BAMF, Briefing Notes 04.05.2020, S. 2).

Arbeitslosigkeit und Armut nehmen drastisch zu. Schon Ende 2019 lebten mehr als 80% der Bevölkerung unter der internationalen Armutsgrenze von 1,90 Dollar/Tag (UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 9). Laut dem afghanischen Arbeitsministerium sollen aufgrund der COVID-19-Pandemie weitere zwei Millionen Menschen arbeitslos geworden sein (BAMF: Briefing Notes 27.04.2020, S. 2, https://ariananews.af/afghanistans-surging-unemployment-triggered-by-coronavirus-outbreak/, 30.04.2020). Das afghanische Wirtschaftsministerium befürchtet einen coronabedingten Anstieg der Arbeitslosigkeit um 40% und der Armut um 70% (https://tolonews.com/business/union-2-million-afghans-lose-jobs-amid-covid-19, 02.05.2020). Die Weltbank geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 um 17% schrumpfen wird (UN General Assembly, Security Council: The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, 17.06.2020, Ziff. 51).

Die Ernährungssituation hat sich dramatisch verschlechtert. Während sich im Jahr 2017 7,5 Millionen Einwohner in den Phasen 3 („People in Crisis“) und 4 („People in Emergeny“) der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) befanden (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12.10.2018,a.a.O., Rn. 266), wurde dieser Bevölkerungsanteil für den Zeitraum von November 2019 bis März 2020 mit 14,28 Millionen Personen angesetzt und als eine wesentliche Ursache hohe Arbeitslosigkeit benannt (UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 14, 22; IPC: Afghanistan, Acute Food Insecurity Analysis August 2019 - Macht 2020, November 2019 S. 1, 10). Für April/Mai 2020 wird die Anzahl der Personen in akuter Ernährungsunsicherheit mit 13,4 Millionen angegeben (ca. 35% der Gesamtbevölkerung, 9,1 Mio in IPC Phase 3 „People in Crisis“ und 4,3 Mio in Phase 4 „People in Emergeny“). Damit liegt Afghanistan weltweit auf Platz 3 hinter Jemen und der Demokratischen Republik Kongo. In den urbanen Zentren wird sich die Situation voraussichtlich noch weiter verschlechtern, während in den ländlichen Regionen aufgrund der bevorstehenden Erntezeit eine gewisse Entspannung erwartet wird. Maßgeblicher Faktor ist die weitverbreitete Arbeitslosigkeit, die sich wegen des Wegfalls von Verdienstmöglichkeiten für Tagelöhner und kleine Händler aufgrund der Maßnahmen gegen COVID-19 noch verschlechtert hat (IPC: Afghanistan, Acute Food Insecurity Analysis April 2020 – November 2020, Mai 2020, S. 1 f., 13 ff.). Der Unterkunftsbedarf hat sich von 1 Million Schutzbedürftigen im Jahr 2019 auf 3,7 Millionen im Jahr 2020 vervielfacht (UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 36 f., 70).

Die Anzahl von Personen mit akutem humanitärem Hilfebedarf hat sich von 3,3 Millionen im Jahr 2018 auf 6,3 Millionen im Jahr 2019 mehr als verdoppelt und steigt prospektiv für das Jahr 2020 um beinahe 50 % auf 9,38 Millionen an (noch ohne Berücksichtigung von COVID-19, UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2018, Dezember 2017, S. 5f.; Humanitarian Needs Overview 2019, November 2018, S. 4f.; UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 4, 36). Das bedeutet fast eine Verdreifachung innerhalb der vergangenen zwei Jahre.

Gemäß dem INFORM-COVID-19-Risk-Index der Europäischen Kommission ist Afghanistan das Land mit dem fünfthöchsten Risiko von 190 untersuchten Ländern (nach der Zentralafrikanischen Republik, Somalia, Südsudan und Tschad). Dieser Index bewertet Länder anhand dessen, wie sehr sie von humanitären Krisen und Katastrophen betroffen sind und welche Kapazitäten sie haben, um diese zu bewältigen (BAMF: Briefing Notes 06.07.2020 S. 2).

3. Eine der stark betroffenen Bevölkerungsgruppen sind neben Binnenvertriebenen auch Rückkehrer aus dem Ausland (UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 36 f.).

a) Schon die Untersuchungen für Zeiträume bis zum Jahr 2018 haben ergeben, dass es ein Hauptproblem für Rückkehrer nach Afghanistan war, eine Erwerbstätigkeit zu finden (EASO, Afghanistan, Sozioökonomische Schlüsselindikatoren, Mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Masar-e Scharif und Herat, April 2019, S. 34 f. m.w.N.; außerdem United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), Voluntary Repatriation Update, November 2017 (Telefoninterviews im Juni 2017 mit 1.296 Flüchtlingen, die aus Pakistan u. Iran mit Unterstützung des UNHCR zurückgekehrt waren, 1 - 6 Monate nach Rückkehr: 34 % arbeitslos); AIHRC, The Returnees, An Overview of the Situation of Returnees in Afghanistan, Juni 2016, S. 10, 44, 48 (diese vom Kläger eingeführte Studie gibt Ergebnisse einer Untersuchung der IOM aus dem Jahr 2011 wieder, wonach nur 23 % der Rückkehrer Arbeit finden konnten); hingegen World Bank Group, UNHCR, Living Conditions and Settlement Decisions of Recent Afghan Returnees, Findings from an 2018 Phone Survey of Afghan Returnees and UNHCR Data, Juni 2019 (3.575 Interviews im Frühjahr 2018 mit Rückkehrern aus Pakistan 2014 - 2017: 13% arbeitslos, 44% haben Arbeit eigenständig gefunden, 56 % haben Arbeit innerhalb der ersten 6 Monate gefunden).

Bei einer Befragung ab November 2018 zeigte sich, dass sich die Nahrungsversorgung von Rückkehrern und Binnenvertriebenen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung deutlich verschlechtert hatte, wobei die im Jahr 2018 zurückgekehrten Personen noch größere Schwierigkeiten hatten als die im Jahr 2017 zurückgekehrten (UNHCR, Socio-economic Survey an Post-Distribution Monitoring 2019, S. 9 (14.477 Interviews: 51 - 65% der Rückkehrer und Binnenvertriebenen hatten in der letzten Woche eine Mahlzeit übersprungen oder die Nahrungseinnahme reduziert im Vergleich zu 22 % in der örtlichen Bevölkerung, bei einer Befragung im Jahr 2017 hatten die Anteile 27 - 55% bei den Rückkehrern/Binnenvertriebenen und 42% bei der örtlichen Bevölkerung betragen)).

b) Zu der im Verhältnis zu den Rückkehrern aus Pakistan und Iran kleinen Gruppe der Rückkehrer aus Europa erbrachten vier von fünf Studien sogar, dass - trotz teilweise vorhandener sozialer Netzwerke - jeweils über die Hälfte der Befragten keine Arbeit gefunden hatte. Lediglich in der ältesten Studie waren „nur“ 40% arbeitslos geblieben. Zwar sind alle fünf Studien nicht repräsentativ, entfalten aber aufgrund ihrer klaren Tendenz und in Ermangelung anderweitiger Erkenntnisse mindestens Indizwirkung (Refugee Support Network (RSN), After Return, Documenting the Experiences of Young People forcibly removed to Afghanistan, April 2016, S. 41 ff. (25 Interviews mit abgeschobenen ehemals Minderjährigen aus Großbritannien von 2014 bis 2015: 40% arbeitslos, 40% unregelmäßige Arbeit, Tagelöhner, Arbeit gegen Kost u. Logis, allerdings hielten 76% ihre Arbeitssituation für so desolat, dass sie Afghanistan wieder verlassen müssten); REACH, Mixed Migration Platform (MMP), Migration from Afghanistan to Europe (2014-2017), Drivers, Return an Reintegration, Oktober 2017, S. 21 (28 Interviews: Mehrheit arbeitslos, 5 arbeiteten bedarfsdeckend); BAMF/IOM, Geförderte Rückkehr aus Deutschland: Motive und Reintegration, September 2019, S. 20, 27, 52 f. u. Anlage zum Schriftsatz der Beklagten vom 06.03.2020, Bl. 119 f. der Gerichtsakte (Befragung Februar - Oktober 2018 von freiwilligen Rückkehrern mit StarthilfePlus, die Deutschland Februar 2017 - April 2018 verlassen hatten: von 950 Afghanen holten 502 die 2. Rate ab, 91 nahmen an der Befragung teil, 66% erzielten keinerlei Einkommen aus Beschäftigung, (in der Gruppe der 18-30 Jährigen 60%), 34% hatten eine Arbeit, 21% erzielten ein Einkommen, das zur Bedarfsdeckung ausreichte); Mixed Migration Center (MMC), Distant Dreams, Unterstanding the Aspirations of Afghan Returnees, Januar 2019 (56 Interviews im Herbst 2018: Mehrheit arbeitslos, bei den anderen viel vorübergehende oder schlecht bezahlte Beschäftigung); Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 8-9/2019, S. 276, 282 f. (Datenerhebung von 47 Männern: Lediglich einem war es durch Vermittlung seines Onkels gelungen, über einen gewissen Zeitraum Arbeit zu finden, durch die er sich hauptsächlich finanzieren konnte. Vier weitere hatten zwar auch Beschäftigungen (mindestens zwei davon über Netzwerke) gefunden, aber nur kurzfristig. Die übrigen lebten von privater Unterstützung außerhalb Afghanistans (40), Krediten (2), Unterstützung durch die Familie in Afghanistan (2) und Kriminalität (1)); Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO), Deportation to Afghanistan: A Challenge to State Legitimacy and Stability?, November 2019, S. 17 (50 Interviews von April bis November 2018: 84% arbeitslos)).

c) Ein Großteil der Rückkehrer und Binnenvertrieben siedelt sich in den größeren Städten an und konkurriert dort um immer knapper werdende Ressourcen.

Im Hinblick auf die drei großen Städte Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif hat das EASO auf der Basis von Erkenntnissen bis November 2018 dargestellt, dass diese jeweils einen großen zugewanderten Bevölkerungsanteil und diverse Beschäftigungsmöglichkeiten aufweisen (EASO, Afghanistan, Sozioökonomische Schlüsselindikatoren, Mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Masar-e Scharif und Herat, April 2019, S. 18 - 20). Allerdings wurden auch Quellen referiert, wonach alle drei Städte und ihre Provinzen das Ziel starker Zuwanderung waren (ebenda, S. 17 - 20). In Kabul habe die große Zahl der Rückkehrer die Aufnahmekapazität der Regierung und der NRO an ihre Grenzen gebracht. Laut einer Studie des Oxford Committee for Famine Relief (OXFAM) seien die meisten befragten Rückkehrer von Verwandten abhängig gewesen, um Unterkunft und andere Unterstützung zu erhalten. In der Regel könnten sie nur gelegentlich als Taglöhner arbeiten und die meisten würden nicht jeden Tag eine Arbeit finden können. Die Lage habe sich in den letzten Jahren durch höhere Preise, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Kriminalität verschlechtert, die Beschäftigungslage sei alarmierend und die Armut nehme zu (EASO ebenda, S. 18, 35, 40). Herat sei am stärksten von Binnenvertriebenen und Rückkehrern betroffen. Diese hätten nur unzureichenden Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und begrenzte Beschäftigungsmöglichkeiten und die zuletzt eingetroffenen Binnenvertriebenen würden zu Zehntausenden unter prekären Bedingungen in Notunterkünften leben. Die hohe Aufnahmekapazität Herats stehe aufgrund der wachsenden Zahl von Rückkehrern und Binnenvertriebenen unter Druck. Auch in Herat und Mazar-e-Sharif würden sich Rückkehrer und Binnenvertriebene vorwiegend als Tagelöhner verdingen, sofern Arbeit für sie vorhanden sei (ebenda, S. 19, 36, 43). Alle drei Städte seien besonders von der Zunahme der Armut seit 2011 betroffen gewesen, was auf die Binnenvertriebenen und Rückkehrer zurückgehen könne. Kabul und Mazar-e-Sharif seien im Hinblick auf die Ernährungssicherheit als „unter Druck stehend“ und Herat als „in der Krise“ eingestuft worden (ebenda S. 39 f., 44). Das Österreichische Rote Kreuz (ÖRK) und das Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (ACCORD) haben Quellen referiert, wonach es für Binnenvertriebene und Rückkehrer in Mazar-e-Sharif sehr schwierig sei, Zugang zu Arbeitsplätzen zu erhalten, und die Möglichkeiten für Gelegenheitsarbeiten in der Provinz Balkh sehr begrenzt seien (ÖRK, ACCORD, Afghanistan: Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif (Provinz Balkh) und Kabul 2010-2018, Dezember 2018, S. 143 ff.).

Im August 2018 hat der UNHCR in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender darauf hingewiesen, dass die Provinzhauptstädte angesichts der Bevölkerungszuströme aus dem In- und Ausland an die Grenze ihrer Aufnahmekapazität gelangt seien (S. 125 f.) und ist bei einer exemplarischen Prüfung von Kabul als interner Flucht- oder Neuansiedlungsalternative zu dem Ergebnis gelangt, dass angesichts der damaligen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage eine interne Schutzalternative in dieser Stadt grundsätzlich nicht verfügbar sei (S. 126 ff.). Insoweit hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht allerdings zutreffend festgestellt, dass der UNHCR nicht den Maßstab einer Verletzung von Art. 3 EMRK zugrunde gelegt hat und dass er in den Richtlinien zugleich davon ausgegangen ist, dass alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne besondere Gefährdungsfaktoren unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben können, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen (Nds. OVG, Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 113 ff.). Das EASO hat die Schlussfolgerung des UNHCR nicht gezogen, sondern die Auffassung vertreten, dass es von den individuellen Umständen abhänge, ob eine Niederlassung in einer der drei großen Städte vernünftigerweise erwartet werden könne, insbesondere vom Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk oder finanziellen Mitteln (Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019, S. 135 ff.).

Zwischenzeitlich hat sich die Konkurrenz um knappe Ressourcen wie Erwerbsarbeit und Unterkunft insbesondere in den städtischen Räumen durch das Bevölkerungswachstum, Zuwanderung aus ländlichen Regionen und den massiven Andrang von Binnenvertriebenen und Rückkehrern erneut weiter verschärft (UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 10; IDMC, german humanitarian assistance, A different kind of pressure, The cumulative effects of displacement and return in Afghanistan, Januar 2020, S. 17). So ist der Anstieg des Bedarfs an akuter humanitärer Hilfe in der Region Kabul mit 180% vom Jahr 2019 zum Jahr 2020 auch besonders eklatant (UNOCHA, Humanitarian Needs Overview 2020, Dezember 2019, S. 36 f.). Die Provinzen Kabul, Herat und Balkh werden von der IPC für die Zeiträume von August 2019 bis November 2020 der Phase 3 („People in Crisis“) zugeordnet (IPC, Acute Food Insecurity Analysis, August 2019 - March 2020, November 2019, S. 1, 9f.; April 2020 – November 2020, Mai 2020, S. 1 f., 13 ff.)). Angesichts der weiteren Entwicklung hat der UNHCR im Dezember 2019 seine Auffassung bekräftigt, dass in Kabul generell keine interne Schutzalternative bestehe (Afghanistan: Compilation of Country of Origin Information (COI) Relevant for Assessing the Availability of an Internal Fligth, Relocaton oder Protection Alternative (IFA/IRA/IPA) to Kabul, S. 9 ff.).

Interviews einer finnischen Fact-Finding Mission in Kabul im April 2019 haben seinerzeit bereits ergeben, dass es nach Auffassung der befragten Experten auf dem erschöpften Arbeitsmarkt in Kabul ausgeschlossen war, ohne Netzwerke Arbeit zu finden. Viele Rückkehrer würden unter den Brücken oder auf den Straßen enden. Auch in den sehr prekären „Kabul Informal Settlements“ würden Rückkehrer aus Europa leben (weniger als 2 % der Bewohner, das wären bis zu 1.100; Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 11 f., 14 - 17, zu den Vorbehalten gegenüber Rückkehrern aus Europa S. 20 f.).

Diese Entwicklung ist aktuell durch die Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 und den damit verbundenen Einbruch von Erwerbsmöglichkeiten noch stark dramatisiert worden. Erneut werden Rückkehrer aus dem Westen besonders hart getroffen, da ihnen neben den bereits erwähnten Vorbehalten zusätzlich unterstellt wird, COVID-19 einzuschleppen (Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27.03.2020, S. 2; UNOCHA: Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 20.05.2020, S. 4; BAMF, Briefing Notes 27.04.2020, S. 2).

Auch wenn sich die Situation auf dem Tagelöhnermarkt durch die zu erwartenden Lockerungen der Maßnahmen voraussichtlich wieder etwas verbessern wird, ist doch auf der Basis der Prognosen des afghanischen Wirtschaftsministeriums und der Weltbank sowie der Risikobeurteilung durch die Europäische Kommission (vgl. oben unter 2.) anzunehmen, dass die Einschnitte durch COVID-19 die afghanische Wirtschaft längerfristig schwächen werden. Eine Rückkehr zu dem bereits vorher äußert angespannten Niveau ist daher nicht absehbar.

4. Aus diesen zur Überzeugung der Kammer feststehenden Umständen und Entwicklungen ist die Prognose abzuleiten, dass es mittlerweile auch einem alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann nach seiner Rückkehr aus Europa mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht gelingen würde, auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung und Unterkunft zu befriedigen, wenn er weder über ein leistungsfähiges und leistungsbereites Netzwerk in Afghanistan noch über nachhaltige Unterstützung aus dem Ausland oder nennenswertes Vermögen verfügt. Diese Voraussage stützt sich auf die Kumulation der bekannten ungünstigen Faktoren: Der Zugang zu den überlebensnotwendigen Ressourcen ist ohne versorgendes Netzwerk grundsätzlich nur über Erwerbseinkommen möglich, Rückkehrer haben schlechtere Chancen auf dem ohnehin schwachen Arbeitsmarkt, gegen Rückkehrer aus dem Westen bestehen besondere Vorbehalte und die Orte, wo der Arbeitsmarkt überhaupt teilweise für Personen ohne Netzwerk zugänglich ist, sind durch verschiedene Entwicklungen in den letzten Jahren (Migration aus dem In- und Ausland, Bevölkerungswachstum, zuletzt zusätzlich Einbruch des Tagelöhnermarktes durch Einschränkungen zur Bekämpfung von COVID-19) massiv überlaufen. Danach ist es zwar nicht ausgeschlossen, dass auch ein Rückkehrer aus dem Westen ohne tragfähige Beziehungen gelegentlich eine Beschäftigung als Tagelöhner erhält. Deutlich wahrscheinlicher ist aber, dass sich einer der zahlreichen einheimischen Bewerber auf dem stark umkämpften Arbeitsmarkt gegen ihn durchsetzt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass große Übereinstimmung darüber besteht, dass für den Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten Netzwerken ausschlaggebende Bedeutung zukommt (vgl. nur VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 243 ff.; Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juli 2019, S. 31; Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 11 f., 15 ff.). Soweit die Rechtsprechung davon ausgeht, dass in Kabul zumindest für Gelegenheitsarbeiten auch unabhängig von bestehenden Netzwerken ein Arbeitsmarkt vorhanden ist (vgl. z.B. Nds. OVG im Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 106; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris Rn. 44), stützt sie sich auf eine vom EASO wiedergegebene mündliche Aussage eines nicht näher bezeichneten lokalen Mitarbeiters einer westlichen Botschaft in einem Gespräch im April 2017. Im Übrigen beschrieb der Mitarbeiter bereits damals auch, dass viele Personen an den Treffpunkten erscheinen, aber nicht jeder Arbeit erhält (EASO, COI Report, Afghanistan Networks, Februar 2018, S. 28).

a) Die zugänglichen Rückkehrhilfen und humanitären Hilfen ermöglichen einen gewissen zeitlichen Aufschub der zu befürchtenden Verelendung, vermindern die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts aber nur unwesentlich (ähnlich in Bezug auf die Anfang 2017 erhältlichen Unterstützungsleistungen BayVGH, Urt. v. 23.03.2017 - 13a B 17.30030 - AuAS 2017, 175, juris Ls. 3 u. Rn. 24). Sie schaffen weder einen Zugang zum Arbeitsmarkt noch wird die Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkunft nachhaltig gesichert.

aa) Es ist nicht ersichtlich, dass es Unterstützungsangebote gibt, mit denen die Schwierigkeit überwunden werden kann, dass die raren Arbeitsmöglichkeiten in erster Linie über Beziehungen vergeben werden.

In dem Länderinformationsblatt der IOM, das die Beklagte mit Schriftsatz vom 06.03.2020 vorgelegt hat, wird unter „Unterstützung bei der Arbeitsmarktsuche“ lediglich auf Internetadressen mit der Veröffentlichung freier Stellen hingewiesen. Unter dem Punkt „Arbeitslosenunterstützung“ wird mitgeteilt, dass es keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit gebe. Das Arbeitsministerium und die NGO ACBAR würden lediglich Beratung bieten. Es wird ausdrücklich festgehalten, dass es für Rückkehrende oder vulnerable Gruppen keine spezifische Unterstützung auf dem Arbeitsmarkt bzw. keine Organisation gebe, die sich auf sie spezialisiere. Rückkehrende oder vulnerable Personen mit beruflichen Qualifikationen und Vorerfahrung könnten meist in Eigeninitiative entweder in der Privatwirtschaft oder in öffentlichen Projekten Arbeit finden. Daneben wird unter „Konkrete Unterstützung für Rückkehrende“ pauschal auf Unterstützung durch den UNHCR und das Afghanistan Center for Excellence (ACE) verwiesen. Der UNHCR bietet allerdings nur Hilfe für rückkehrende anerkannte Flüchtlinge (vor allem aus Pakistan und Iran), für andere Rückkehrer ist die IOM zuständig (Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 11 f.; BFA, Analyse der Staatendokumentation, Afghanistan, Informationen zu sozioökonomischen Faktoren in der Provinz Herat auf Basis von Interviews im Zeitraum von November 2018 bis Jänner 2019, S. 70, auf S. 60 ff. werden auch weitergehende Angebote der IOM beschrieben, diese betreffen aber wohl nicht Rückkehrer aus Deutschland). Das ACE ist offenbar ein Beratungsunternehmen für verschiedene Akteure im politischen Entwicklungsprozess, auch im Bereich „Human Resources“. Zu Hilfsangeboten für Arbeitssuchende oder Rückkehrer war bei einer kurzen Internetrecherche des Gerichts nichts in Erfahrung zu bringen. Unter dem Unterpunkt „Finanzielle Unterstützung zur Existenzgründung“ wird in dem Länderinformationsblatt der IOM auf private Banken verwiesen. Unter „Mikrokredite“ wird ausgeführt, dass eine steigende Anzahl von Instituten Mikrofinanzleistungen mit unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen anbiete. Rückkehrende, insbesondere Frauen, würden regelmäßig Unterstützung durch Mikrofinanzleistungen erhalten, jedoch oft zu vergleichsweise hohen Zinsen.

Das Auswärtige Amt teilt im Lagebericht mit, die IOM würde Rückkehrern Begleitung bei der Reintegration einschließlich Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder Gewährung eines Anstoßkredits anbieten (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juli 2019, S. 29). Es ist davon auszugehen, dass sich dieses Angebot auf die soeben dargestellten Informationen in der Broschüre der IOM beschränkt.

Auf der vom Bundesamt und der IOM betriebenen Internetseite, auf die die Beklagte verwiesen hat (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan#downloads), finden sich mehrere Reintegrationsprogramme, die teilweise auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt ansetzen.

Das European Return an Reintegration Network(ERRIN) bietet in Afghanistan durch die Non-Profit-Organisation International Returns and Reintegration Assistance (IRARA) Sachleistungen im Wert von bis zu 2.000 Euro pro Person an. Diese können auch „job placement assistance“ und „business start-up assistance“ umfassen. Für vulnerable Personen werden sogar maßgeschneiderte Lösungen im Wert von bis zu 3.000 Euro angeboten, allerdings fallen junge Männer nicht unter diese Gruppe. Welchen Inhalt die Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche oder die Unterstützung bei der Existenzgründung haben kann, ist nicht ersichtlich. Zudem kommt es wohl zu Wartezeiten von drei bis neun Monaten, weil es Schwierigkeiten mit dem Vertragsanbieter gab (Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 12).

Das Programm Startfinder wird im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) von der Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) durchgeführt. Es bietet in Zusammenarbeit mit der IOM vor Ort Unterstützung bei der Arbeitssuche und Informationen zu beruflicher Weiterbildung, die in Balkh und Takhar stattfindet. Welche Inhalte die Unterstützung bei der Arbeitssuche hat, lässt sich dem Internetauftritt nicht entnehmen. Der Verweis auf die IOM lässt vermuten, dass es nicht über deren Angebot (s.o.) hinausgeht.

Ein weiteres Programm des BMZ ist „Perspektive Heimat“, das vor Ort in Beratungszentren konkrete Jobangebote machen will. Laut einer Karte auf der Homepage des BMZ gibt es im westlichen Afghanistan ein eröffnetes Beratungszentrum und im östlichen Teil des Landes ein Zentrum in Planung. Dem darunterliegenden Text zufolge wird hingegen in Afghanistan (in Kabul) die Beratung in Zusammenarbeit mit der IOM angeboten. In einem Positionspapier des BMZ aus Mai 2019 wird als Ziel für die Zukunft formuliert, dass um jedem Rückkehrer ein Jobangebot machen zu können, verstärkt Partnerschaften mit deutschen und lokalen Unternehmen eingegangen werden und eine direkte Arbeitsvermittlung für Rückkehrer über die Beratungszentren angeboten werden sollen. Dieses Programm geht nach Ansicht der Kammer hinsichtlich der Vermittlung von Arbeitsplätzen für Rückkehrer in die richtige Richtung, scheint aber zumindest in Afghanistan noch nicht wirksam implementiert zu sein.

bb) Direkte Unterstützung mit Geld und möglicherweise auch mit Unterkunft wird angeboten, ist aber nicht nachhaltig.

So können freiwillige Rückkehrer bereits am Flughafen 1.000 Euro erhalten (Starthilfe) und nach sechs bis acht Monaten über die IOM weitere 1.000 Euro ausgezahlt bekommen (StarthilfePlus). Die Lebenshaltungs- und Mietkosten werden von der IOM in ihrem Länderinformationsblatt für einen sehr guten Lebensstandard in Kabul mit ca. 640 Euro angegeben, für ländliche Gebiete mit der Hälfte davon. Daher wird man für ein Leben am Rande des Existenzminimums deutlich weniger Geld benötigen. Gleichwohl werden die Mittel aber nach einigen Monaten aufgebraucht sein, zumal auch mit nicht planbaren Ausgaben wie Krankheitskosten oder Bestechungsgeldern gerechnet werden muss. Überdies ist äußerst zweifelhaft, ob Rückkehrer sich mit diesen Mitteln derzeit Unterkunft in Hotels oder Teehäusern verschaffen können. Offiziell sind Hotels und ähnliche Einrichtungen noch bis mindestens Anfang September 2020 geschlossen (s.o. unter 2.). Aus der Mitteilung, dass die Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie Berichten zufolge nicht konsequent umgesetzt würden (BAMF, Briefing Notes 01.07.2020, S. 2), kann nicht ohne Weiteres der Schluss gezogen werden, dass damit Übernachtungsmöglichkeiten in den großen Städten wieder zur Verfügung stünden. Nach Angaben von Frau Stahlmann in einem Vortrag im Mai 2020 waren Hotels und Teehäuser geschlossen und wusste sie von drei im März 2020 abgeschobenen Personen, die obdachlos geworden seien (ACCORD, Afghanistan: Covid-19, Fokusrecherche vom 05.06.2020).

Früher konnten Rückkehrer zunächst zwei Wochen im Spinzar Hotel unterkommen. Dieses Angebot besteht aber seit April 2019 nicht mehr. Stattdessen zahlt die IOM ca. 147 Euro aus, zumindest, wenn sie die Rückkehrer für vulnerabel hält (Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 12; Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 8-9/2019, S. 285). Weitere unmittelbare humanitäre Hilfen können Personen von IOM erhalten, die als besonderes vulnerabel angesehen werden (Fact-Finding Mission ebenda). Das dürfte auf gesunde junge Männer nicht zutreffen.

Über ERRIN bzw. IRARA kann „longer-term housing support“ in Anspruch genommen werden, allerdings innerhalb des maximalen Leistungsrahmens von 2.000 Euro und möglicherweise mit Wartezeiten von drei bis neun Monaten (s.o. unter aa)).

Gestützt auf eine Quelle aus dem Jahr 2017 führt der VGH Baden-Württemberg (Urt. v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 355) noch an, dass die Afghanistan Migrants Advice and Support Organisation (AMASO) Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen biete. Ein Bericht über eine Fact Finding Mission des BFA im September 2017 teilt unter Berufung auf einen Facebook-Eintrag mit, AMASO betreibe ein Schutzhaus, das von privaten Spendern finanziert werde (BFA, Fact Finding Mission Report Afghanistan, April 2018, S. 46). Davon berichtet die finnische Fact-Finding Mission aus April 2019 nichts, vielmehr zitiert sie AMASO mit der Einschätzung, dass viele Rückkehrer in einem Leben unter den Brücken endeten, weil es keine staatlichen Angebote oder Unterstützungssysteme für sie gebe (Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 12).

Schließlich setzt die afghanische Regierung seit 2017 auch einen Aktionsplan für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge um, der unter anderem eine Vergabe von Land an Rückkehrer beinhaltet (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: Juli 2019, S. 28). Dieser läuft aber wohl schleppend und nicht flächendeckend an und wird im Rahmen der Rückkehr- bzw. Integrationshilfen weder vom Auswärtigen Amt noch vom Bundesamt oder der IOM erwähnt. Der BFA-Länderbericht beschreibt, dass es sich um Land in der jeweiligen Heimatprovinz handelt, dass die bedürftigsten Fälle prioritär behandelt werden sollen, dass das Verfahren sehr korruptionsanfällig ist und dass häufig der Zugang zu Infrastruktur, Dienstleistungen und Erwerbsmöglichkeiten schwierig ist (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 29.06.2020, S. 340 f.).

Die Encashment Center des UNHCR, die in einigen neuen Entscheidungen angesprochen werden, stehen Rückkehrern aus Europa nicht offen. Hier handelt es sich um ein Angebot für Afghanen, die insbesondere im Iran und in Pakistan als Flüchtlinge registriert sind (zur Zuständigkeitsaufteilung zwischen UNHCR u. IOM vgl. Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 11 f.; auch das Voluntary Repatriation Update des UNHCR aus Dezember 2019 spricht von „refugees“ und entsprechend verhältnismäßig niedrigen Zahlen).

Daneben existieren noch allgemeine humanitäre Programme der afghanischen Regierung, des UNHCR und anderer Organisationen. Die Mittel reichen jedoch nicht aus, um alle bedürftigen Personen zu unterstützen. Deshalb erhalten vorrangig Personen Zugang, die als besonders vulnerabel eingestuft werden (BFA, Analyse der Staatendokumentation, Afghanistan, Informationen zu sozioökonomischen Faktoren in der Provinz Herat auf Basis von Interviews im Zeitraum von November 2018 bis Jänner 2019, S. 70; Zur Lücke zwischen aktuellem Bedarf (1,13 Milliarden US-Dollar) und vorhandenen Mitteln (230,1 Millionen US-Dollar): UNOCHA, Afghanistan Weekly Humanitarian Update (22 June - 28 June 2020), S. 1)).

cc) Insgesamt werden die vielen Programme nicht nur für Personen ohne unterstützendes Netzwerk als wenig hilfreich bewertet.

Zu den zahlreichen Reintegrationsangeboten hat der UNHCR gegenüber der finnischen Fact-Finding Mission die Einschätzung geäußert, dass es sich dabei angesichts des Bedarfs nur um einen Tropfen auf den heißen Stein handele und dass viele Angebote lediglich an der Oberfläche kratzen würden (Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 17). Das EASO zitiert einen Forscher mit der Bewertung, dass viele Rückkehr- und Wiedereingliederungsprogramme nicht langfristig zur Existenzsicherung und zu gesicherten Unterkünften geführt hätten (EASO, Afghanistan, Sozioökonomische Schlüsselindikatoren, Mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Masar-e Scharif und Herat, April 2019, S. 34). Soweit Reintegrationsprogramme in den Studien über Rückkehrer aus dem Westen erwähnt wurden, wurden sie aufgrund verschiedener Hürden wenig in Anspruch genommen und hatten nur geringe positive Effekte (RSN, After Return, Documenting the Experiences of Young People forcibly removed to Afghanistan, April 2016, S. 41 (keine der interviewten Personen hatte über die in Anspruch genommenen Dienste eine Arbeit gefunden); Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 8-9/2019, S. 283 f. (von 47 Personen, von denen es Auskünfte dazu gibt, haben nur 7 Rückkehrhilfen durch ERRIN erhalten, weder Rückkehrhilfen noch andere humanitäre Hilfen wurden als hauptsächliche finanzielle Sicherung angegeben, eine Person war auf Vermittlung der IOM für 6 Wochen in einem Studentenwohnheim untergekommen); AHRDO, Deportation to Afghanistan: A Challenge to State Legitimacy and Stability?, November 2019, S. 8 (keiner der 50 interviewten Abgeschobenen hatte von irgendwelchen Integrationsprogrammen profitiert); eine ausführliche Analyse der staatlichen und internationalen Hilfen sowie der Rückkehrprogramme findet sich im Gutachten von Stahlmann vom 28.03.2018 für das VG Wiesbaden zum Az. 7 K 1757/16.WI.A auf S. 235 - 239).

b) Eine weitere Sachverhaltsaufklärung ist nicht angezeigt. Bei unsicherer Tatsachengrundlage muss das Gericht die Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage umfassend auswerten und aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen. Dabei sind gewisse Prognoseunsicherheiten als unvermeidlich hinzunehmen und stehen einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht (BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 – 1 C 31/18 –, juris Rn. 22). Das ist hier der Fall.

Zwar mag man in Bezug auf die Studien über Rückkehrer aus dem westlichen Ausland bemängeln, dass die Anzahl der Untersuchten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Rückkehrer aus Europa und der Türkei zu gering sei (so hinsichtlich der Studie von Frau Stahlmann zuletzt Nds. OVG, Beschl. v. 12.12.2019 - 9 LA 452/19 -, juris Rn. 15). Allerdings hat etwa Frau Stahlmann überzeugend dargelegt, dass es aus praktischen, datenschutzrechtlichen und ethischen Gründen kaum möglich ist, eine größere Gruppe zu beforschen, weil die Identitäten der Abgeschobenen nicht bekannt sind und offene Nachforschungen in Afghanistan aufgrund der Vorbehalte gegenüber Rückkehrern aus dem Westen zu einem Sicherheitsrisiko für die Betroffenen führen (Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 8-9/2019, S. 277). Die Schwierigkeit, dass die Identität der Rückkehrer nicht bekannt ist, haben die beteiligten Behörden und Organisationen wie das Bundesamt oder die IOM zwar nicht. Hier fehlen allerdings Gelder, um ein systematisches Monitoring zu ermöglichen (Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 12). Zudem haben auch sie Probleme mit zu geringen Rückläuferzahlen und anderen möglicherweise verzerrenden Faktoren (BAMF/IOM, Geförderte Rückkehr aus Deutschland: Motive und Reintegration, September 2019, S. 24 ff.).

Dass keine Berichte über die Verelendung alleinstehender junger Rückkehrer aus Europa vorliegen (vgl. Nds. OVG im Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 106), wird angesichts der Beschreibung des akuten humanitären Bedarfs von Rückkehrern des UNOCHA im Humanitarian Needs Overview 2020 und den Ergebnissen der finnischen Fact-Finding Mission, die die vorwiegend jungen männlichen Rückkehrer aus Europa mit umfassen, nicht uneingeschränkt aufrechterhalten werden können. Weitergehende Dokumentationen sind nicht zu erwarten. Zum einen geht eine Verelendung typischerweise mit einem Abbruch des Informationsflusses einher (vgl. Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 8-9/2019, S. 285). Zum anderen werden viele Betroffene die existentielle Not dadurch abzuwenden versuchen, dass sie erneut illegal ausreisen (entsprechende „migration cycles“ sind durchaus dokumentiert) oder zu „landestypischen Alternativen der Existenzsicherung für erwachsene Männer ohne unterstützungsfähige und -willige soziale Netzwerke“, nämlich Kriminalität oder dem Anheuern bei Aufständischen greifen, die sich aufgrund der damit verbundenen Selbstbezichtigung kaum dokumentieren lassen (vgl. Stahlmann, ebenda; zu Anwerbungen durch kriminelle Gruppen oder Terrormilizen auch Interview mit Hadi Marifat, „Die deutsche Abschiebepolitik hat keinen Bezug zur Realität“, Zeit Online v. 27.11.2019; eine Existenzsicherung, die nur durch kriminelles Handeln erlangt werden kann, hat das Bundesverwaltungsgericht zumindest bei der Prüfung einer inländischen Fluchtalternative für inakzeptabel gehalten: Urt. v. 01.02.2007 - 1 C 24/06 -, juris Rn. 11).

5. Nach der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat die Kammer die Überzeugung gewonnen, dass er in Afghanistan nicht an ein familiäres Netzwerk anknüpfen kann. Seine Eltern, Tanten und Onkel leben ebenso wie die meisten seiner Geschwister seit vielen Jahre im Iran. Den letzten Grundbesitz in Afghanistan haben sie zur Finanzierung der Ausreise des Klägers und seines jüngeren Bruders über einen Mittelsmann verkauft. Die älteste Schwester wohnt zwar wahrscheinlich in der Herkunftsprovinz des Klägers in Afghanistan. Da sie gegen den Willen des Vaters mit dem Sohn einer anderen Familie weggelaufen ist, als der Kläger noch ein kleines Kind war, besteht zu ihr aber kein Kontakt. Die Schwiegereltern der zweitältesten Schwester des Klägers besaßen ein Haus in Kabul, haben dieses aber ebenfalls schon vor ihrer Ausreise im Jahr 2015 veräußert, um mit dem Erlös ihre Flucht nach Deutschland zu bezahlen. Der Schwiegervater der Schwester ist zwischenzeitlich verstorben. Der Kläger kann auch nicht auf nachhaltige wirtschaftliche Unterstützung aus dem Ausland hoffen. Seine Familie im Iran lebt dort illegal. Seine beiden älteren Brüder finanzieren ihre eigenen Familien und die Eltern und jüngeren Geschwister mit Gelegenheitsarbeiten auf dem Bau. Zu den Tanten und Onkeln im Iran - die dort wohl ebenfalls illegal leben - hat der Kläger aufgrund der familiären Vorgeschichte keine Beziehung. Die beiden in Deutschland lebenden Geschwister können den Kläger nicht unterstützen, da sie selbst Sozialleistungen beziehen. Eigenes Vermögen hat der Kläger, der in der Bundesrepublik ebenfalls von Sozialleistungen lebt, nicht.

Daneben bestehen bei dem Kläger keine individuellen Besonderheiten, aufgrund derer zu erwarten wäre, dass er auch ohne Netzwerk oder Unterstützung aus dem Ausland Fuß fassen könnte. Zwar spricht er mindestens eine der Landessprachen, hat eine zumindest einfache Schulbildung und im Iran bereits als Tagelöhner auf Baustellen gearbeitet. Diese Umstände allein reichen aber wie erörtert in der aktuellen Situation nicht aus, um die beachtliche Gefahr der Verelendung abzuwenden. Hinzu kommt, dass der Kläger sich lediglich als Kleinkind in Afghanistan aufgehalten hat, dass er prägende Jahre als Jugendlicher und Heranwachsender in der Bundesrepublik verbracht hat und dass es ihm selbst auf dem deutschen Arbeitsmarkt trotz gewisser Bemühungen nicht gelungen ist, eine Arbeitsstelle zu finden.

6. Nach alledem ist die Beklagte zu der Feststellung zu verpflichten, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf Afghanistan vorliegt. Neben der Ablehnung, ein nationales Abschiebungsverbot festzustellen, in Ziffer 4 des angegriffenen Bescheides müssen folglich auch die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (mit dem damit konkludent angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot, vgl. dazu Nds. OVG, Urt. v. 06.05.2020 - 13 LB 190/19 -, juris 55 m.w.N.) in den Ziffern 5 und 6 aufgehoben werden.

7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2 VwGO, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat. Im Übrigen hat die Beklagte gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten zu tragen. Die Aufteilung orientiert sich an den Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts im Beschluss vom 29.06.2009 - 10 B 60/08 u.a. - (juris Rn. 9).

Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 Zivilprozessordnung (ZPO).