Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 26.04.2006, Az.: 2 B 131/06

Aufenthaltsbefugnis; Aufenthaltserlaubnis; Aussetzung zur Bewährung; Ausweisungsgrund; befristete Aufenthaltserlaubnis; Bewährung; Bewährungszeit; Bleiberecht libanesischer Staatsangehöriger; Erhalt des Hauptschulabschlusses; Ermessensentscheidung; Fiktionswirkung; Fortgeltung als Aufenthaltserlaubnis; Jugendstrafe; libanesischer Staatsangehöriger; Niederlassungserlaubnis; Schulabschluss; schulischer Bildungsabschluss; Sicherung des Lebensunterhaltes; staatliche Hilfe; staatliche Leistungen; Straffälligkeit; strafrechtliche Verurteilung; unabhängiges Aufenthaltsrecht; ungesicherter Lebensunterhalt

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
26.04.2006
Aktenzeichen
2 B 131/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 53186
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Aufenthaltstitel nach § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.

Gründe

1

Der am ... geborene Antragsteller ist libanesischer Staatsangehöriger. Er reiste im Jahre 1985 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde bestandskräftig mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 5. August 1986 abgelehnt.

2

Seit dem 10. Dezember 1990 erhielt er aufgrund einer Altfallregelung von der Antragsgegnerin befristete Aufenthaltsbefugnisse. Zuletzt mit Bescheid vom 1. November 2004 verlängert die Antragsgegnerin den Aufenthaltstitel bis zum 31. Oktober 2005. Unter dem 9. August 2005 beantragte der Antragsteller die Verlängerung seines Aufenthaltstitels.

3

Der Antragsteller ist mehrfach vorbestraft.

4

Mit Urteil des Amtsgerichts D. vom 23. Februar 1999 wegen einer am 15. November 1997 begangenen räuberischen Erpressung zu einer sechsmonatigen Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs;

5

mit Urteil des Amtsgerichts D. vom 9. Mai 2000 wegen einer am 21. Februar 2000 begangenen gefährlichen Körperverletzung u.a. zu zwei Wochen Dauerarrest;

6

mit Urteil des Amtsgerichts D. vom 8. November 2001 wegen einer am 13. Mai 2001 begangenen gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde und

7

mit Urteil des Amtsgerichts D. vom 17. Februar 2004 wegen einer am 11. Mai 2003 begangenen gefährlichen Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. In der Sozialprognose dieses Urteils berücksichtigte das Gericht zugunsten des Antragstellers eine Ausbildung in einer Holzwerkstatt, aus der er mittlerweile ausgeschlossen wurde. Die Bewährungsfrist wurde auf drei Jahre festgesetzt und endet am 16. Februar 2007. Die Antragsgegnerin ermahnte den Antragsteller in den Jahren 1999 bis 2003 mehrfach sich straffrei zu führen, andernfalls er ausgewiesen werde.

8

Seit dem 7. Dezember 2005 nimmt der Antragsteller an einem Kurs zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses in Abendform bei der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben teil. Er besucht ausweislich einer Bescheinigung der Bildungsvereinigung vom 31. März 2006 den Kurs recht regelmäßig und es kann davon ausgegangen werden, dass er den Hauptschulabschluss erfolgreich erlangen wird. Der Kurs endet im Juli 2006.

9

Mit Bescheid vom 19. Januar 2006 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag des Antragstellers vom 9. August 2005 auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels ab, forderte ihn zur Ausreise aus dem Bundesgebiet bis zum 31. März 2006 auf und drohte für den Fall der nicht freiwilligen Befolgung die Abschiebung in den Libanon an. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen an, die Aufenthaltsbefugnis könne nicht verlängert werden, weil der Antragsteller Ausweisungsgründe im Sinne von § 55 AufenthG erfülle. Er sei weder sozial noch wirtschaftlich in die hiesigen Verhältnisse integriert und familiäre Bindungen bestünden in der Bundesrepublik nicht.

10

Hiergegen hat der Antragsteller am 20. Februar 2006 Klage erhoben und am 6. März 2006 einen einstweiligen Rechtsschutzantrag gestellt.

11

Zur Begründung führt er aus, bei den seinen Verurteilungen zugrunde liegenden Straftaten habe es sich um jugendtypische Verfehlungen gehandelt. Er habe eingesehen, dass er sein Leben ändern müsse. Zwischen 2001 und Februar 2006 habe er verschiedene Arbeitsverhältnisse gehabt. Ein neuerliches Arbeitsangebot habe er wegen der angefochtenen Verfügung der Antragsgegnerin nicht annehmen können.

12

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

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die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 20. Februar 2006 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Januar 2006 anzuordnen.

14

Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Sie meint, der Antragsteller sei nicht integriert. Trotz wiederholter Verwarnungen sei er immer wieder straffällig geworden. Er habe weder einen Schul- noch einen Ausbildungsabschluss. Mehrere Maßnahmen habe er abgebrochen. Die derzeitige Schulausbildung habe er erst begonnen, nachdem sie ihn zu der beabsichtigten Versagung der Verlängerung des Aufenthaltstitels angehört habe. Bei der unter dem 1. November 2004 erfolgten Verlängerung der Aufenthaltsbefugnis bis zum 31. Oktober 2005 sei sie noch davon ausgegangen, dass der Antragsteller in der Holzwerkstatt versuche seinen Hauptschulabschluss zu erwerben. Erst mit Schreiben seines Bewährungshelfers vom 30. August 2005 habe sie davon Kenntnis erhalten, dass er, der Antragsteller, aus dieser Maßnahme ausgeschlossen worden sei.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Beschlussfassung gewesen.

18

II. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist wegen der Fiktionswirkung, die seinem Verlängerungsantrag vom 9. August 2005 gemäß § 81 Abs. 3 AufenthG zukommt und aufgrund derer sein Aufenthalt bis zu einer Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt gilt, statthaft. Er beurteilt sich nach § 80 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, da die Abschiebungsandrohung und Ausreiseaufforderung als Maßnahme der Vollstreckung kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist

19

Der auch sonst zulässige Antrag ist begründet.

20

Bei der vom Gericht im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eigenständig vorzunehmenden Ermessensentscheidung überwiegt das Interesse des Antragstellers, einstweilen vom Vollzug des Bescheides der Antragsgegnerin vom 19. Januar 2006 verschont zu bleiben, das von der Antragsgegnerin vertretene öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug dieses Bescheides. Denn der angefochtene Bescheid ist aller Voraussicht nach rechtswidrig und an der sofortigen Vollziehung rechtswidriger Verwaltungsakte besteht ein öffentliches Interesse nicht.

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Der Antragsteller hat derzeit aller Voraussicht nach einen Anspruch auf ermessensgerechte Entscheidung der Antragsgegnerin über die Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Der eine Verlängerung des Aufenthaltstitels des Antragstellers ablehnende Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Januar 2006 ist daher im Zeitpunkt dieser Entscheidung voraussichtlich rechtswidrig.

22

Die dem Antragsteller mit Verfügung vom 1. November 2004 erteilte Aufenthaltsbefugnis wirkt nach Inkrafttreten des AufenthG zum 1. Januar 2005 gemäß § 101 Abs. 2 AufenthG als Aufenthaltserlaubnis fort. Gemäß § 8 Abs. 1 AufenthG finden auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis dieselben Vorschriften Anwendung wie auf die Erteilung. Zu Unrecht verengt die Antragsgegnerin ihren Blick hierbei darauf, dass der Antragsteller seine Aufenthaltsbefugnisse im Zuge einer Bleiberechtsregelung für libanesische Staatsangehörige erhalten hat. Denn mittlerweile verfügt er über ein eigenes, hiervon unabhängiges Aufenthaltsrecht. Dieses ergibt sich aus § 26 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG und richtet sich auf die Erteilung einer zunächst bis zum Schulabschluss befristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 1 AufenthG.

23

Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 Sätze 1 bis 3 AufenthG erfüllt der Antragsteller nicht. Sein Lebensunterhalt ist nicht gesichert, er ist vielmehr auf staatliche Hilfe angewiesen (§ 26 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 9 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG). Zudem ist er in den letzten drei Jahren zu einer Jugendstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden (§ 9 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG). Er kann sich jedoch auf § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG berufen.

24

Danach kann für Kinder, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres nach Deutschland eingereist sind, § 35 AufenthG entsprechend angewandt werden. Der mittlerweile volljährige Antragsteller ist als zweijähriges Kind in die Bundesrepublik eingereist.

25

Gemäß § 35 Abs. 1 AufenthG ist einem minderjährigen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, abweichend von § 9 Abs. 2 eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er im Zeitpunkt der Vollendung seines 16. Lebensjahres seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist. Da der Antragsteller volljährig ist, findet diese Vorschrift auf ihn unmittelbar nicht Anwendung. Das Gleiche gilt gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG jedoch, wenn der Ausländer volljährig und seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis ist, er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und sein Lebensunterhalt gesichert ist oder er sich in einer Ausbildung befindet, die zu einem anerkannten schulischen oder beruflichen Bildungsabschluss führt.

26

Diese Voraussetzungen erfüllt der volljährige Antragsteller, der seit Dezember 1990 einen als Aufenthaltserlaubnis fortgeltenden Aufenthaltstitel besitzt, der deutschen Sprache mächtig ist und derzeit einen Kurs mit dem Ziel besucht, den Hauptschulabschluss zu erlangen. Auf die Motivation für diesen Kursbesuch kommt es nach der Rechtslage nicht an.

27

Dieser Anspruch ist nicht nach § 35 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgeschlossen. Zwar ist dies der Fall, wenn beim Ausländer ein auf seinem persönlichen Verhalten beruhender Ausweisungsgrund vorliegt (Nr. 1) oder er in den letzten drei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Jugendstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist (Nr. 2). Diese Tatbestände erfüllt der Antragsteller infolge der strafrechtlichen Verurteilungen, zuletzt mit Urteil des Amtsgerichts D. vom 17. Februar 2004. Nach § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG wird jedoch, wenn im Falle des Satzes 1 Nr. 2 die Jugendstrafe, wie hier, zur Bewährung ausgesetzt ist, die Aufenthaltserlaubnis in der Regel bis zum Abschluss der Bewährungszeit (das ist hier der 16. Februar 2007) verlängert. Diese auf den Ausschlussgrund nach § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 begrenzte Regelung erfasst hier auch den vom Antragsteller erfüllte Ausschlussgrund nach § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Denn der vom Antragsteller durch sein persönliches Verhalten verwirklichte Ausweisungsgrund ist der eines nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoßes gegen Rechtsvorschriften im Sinne von § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Dieser hat jedoch in Gestalt des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, auf den § 35 Abs. 3 Satz 3 AufenthG Bezug nimmt, eine Spezialregelung erfahren. Dadurch erfasst die Bestimmung mit ihrer Bezugnahme auf § 35 Abs. 3 Nr. 2 auch den Ausschlussgrund des § 35 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG.

28

Dass der Antragsteller zur Sicherung seines Lebensunterhalts zudem auf staatliche Leistungen angewiesen ist, spielt gemäß § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG keine rechtlich bedeutsame Rolle, da er sich derzeit in einer Ausbildung befindet, die zu einem anerkannten schulischen Bildungsabschluss führt.

29

Zwar steht damit noch nicht fest, ob die Antragsgegnerin verpflichtet ist, den Aufenthaltstitel des Antragstellers jedenfalls bis zum Erhalt des Hauptschulabschlusses zu verlängern. Denn § 26 Abs. 4 Satz 4 AufenthG eröffnet der Antragsgegnerin eine Ermessensentscheidung. Dennoch ist die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers anzuordnen, weil die Antragsgegnerin die dargestellten rechtlichen Aspekte bisher nicht gewürdigt hat und ihr Bescheid vom 19. Januar 2006 damit ermessensfehlerhaft ist. Dies rechtfertigt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 20. Februar 2006. Ob ein Anspruch besteht, wird im Hauptsacheverfahren zu klären sein.

30

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

31

Die Streitwertentscheidung stützt sich auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. In Anbetracht der Vorläufigkeit der begehrten Regelung reduziert sich der für das Hauptsacheverfahren angesetzte Streitwert um die Hälfte.