Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 02.06.2017, Az.: 2 AR (Ausl) 44/17

Auslieferungshindernis bei Auslieferung in die Türkei nach dem Putschversuch 2016

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
02.06.2017
Aktenzeichen
2 AR (Ausl) 44/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 36743
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

1. Die Auslieferung eines Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung oder Strafvollstreckung in die Türkei ist trotz der dortigen aktuellen politischen Lage nicht grundsätzlich unzulässig.

2. Angesichts der aktuellen politischen Lage in der Türkei nach dem Putschversuch im Juli 2016 kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass die dortigen Haftbedingungen den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen widersprechen.

3. Solange im Einzelfall keine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung vorliegt, dass die den Verfolgten konkret erwartenden Haftbedingungen den europäischen Mindestanforderungen entsprechen, steht der Auslieferung ein Hindernis nach § 73 S. 1 IRG entgegen (Anschluss an KG Berlin, Beschluss vom 17. Januar 2017, - (4) 151 AuslA 11/16 (10/17)-).

4. Es ist angesichts der Erfahrungen anderer Gerichte im Auslieferungsverkehr mit der Türkei derzeit nicht zu erwarten, dass dieses Auslieferungshindernis zeitnah ausgeräumt werden kann, weshalb bereits die Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft nicht in Betracht kommt, solange eine entsprechende völkerrechtlich verbindliche Zusicherung fehlt (Anschluss an KG Berlin, Beschluss vom 17. Januar 2017, - (4) 151 AuslA 11/16 (10/17)-).

Tenor:

Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Celle auf Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft wird derzeit abgelehnt.

Gründe

I.

Die Republik Türkei betreibt die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung. Hierzu liegt eine Verbalnote der türkischen Republik vom 05. Mai 2017 vor. In dem Ersuchen wird die dem Verfolgten vorgeworfene Tat, wegen derer er vor dem 1. Schwurgericht zu B. angeklagt ist, zusammenfassend wie folgt beschrieben:

Am 27. April 2011 kam es zunächst zu einem verbalen Streit über die Befüllung einer Baugrube zwischen drei Mitgliedern der Familie O. einerseits und dem Verfolgten und vier seiner Familienangehörigen andererseits. Dieser Streit mündete in eine Schlägerei, im Rahmen derer sich der Verfolgte und seine Familienmitglieder jeweils mit einem Jagdgewehr bewaffneten, während zwei Angehörige der Familie O. jeweils ein Jagdgewehr bzw. eine Pistole in den Händen hielten. Bei dem folgenden, gegenseitigen Schusswechsel feuerte T. O. seine Familienmitglieder mit den Worten "schießt, lasst niemanden am Leben" an, während der Verfolgte gemeinsam mit seinen Begleitern in Tötungsabsicht mit Schrotkörnern auf alle drei Mitglieder der Familie O. schoss, so dass der Geschädigte S. O. von insgesamt 22 Schrotkörnern getroffen wurde.

Aufgrund seiner Abwesenheit wurde gegen den Verfolgten am 14. Februar 2017 Haftbefehl durch das 1. Schwurgericht zu B. erlassen.

Der Verfolgte befindet sich auf freiem Fuß und hat von dem Auslieferungsersuchen bisher keine Kenntnis.

Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat beantragt, die förmliche Auslieferungshaft anzuordnen.

II.

Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft ist derzeit abzulehnen.

Zwar erfüllt das mit Verbalnote vom 05. Mai 2017 (2017/.../...) übermittelte Auslieferungsersuchen die Anforderungen des Art. 12 EuAlÜbk. So liegt das Ersuchen in beglaubigter Ablichtung sowie in beglaubigter Übersetzung aus der türkischen Sprache vor und beinhaltet den Haftbefehl des 1. Schwurgerichts zu B. vom 14. Februar 2017, die Anklage der Staatsanwaltschaft zu B. vom 24. April 2015 sowie - unter Benennung der Tatzeit und des Tatortes - eine Darstellung der dem Verfolgten zur Last gelegten Tat und die Wiedergabe der anwendbaren Bestimmungen des türkischen Strafgesetzbuches.

Die Auslieferungsfähigkeit der verfolgten Straftat ist gegeben. Das dem Verfolgten vorgeworfene Verhalten ist sowohl nach türkischem Recht (Artikel 81 Abs.1, Artikel 35, Artikel 29 Abs. 1 des türkischen Strafgesetzbuches) als auch nach deutschem Recht als versuchter Totschlag (§§ 212, 22, 23 StGB) strafbar und ist nach dem Recht beider Staaten im Höchstmaß mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EuAlÜbk). Die Frage des möglichen Vorliegens einer Notwehrlage wäre im türkischen Strafverfahren im Rahmen der dortigen Hauptverhandlung zu klären.

Es besteht kein Anlass zur Annahme, dass nach dem Recht der Türkei oder nach deutschem Recht Vollstreckungsverjährung eingetreten ist (Art. 10 EuAlÜbk). Nach Mitteilung der türkischen Behörden tritt die Verfolgungsverjährung am 27. Oktober 2033 ein. Der Verfolgte besitzt nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Die dem Verfolgten vorgeworfene Tat weist aufgrund der Tatörtlichkeit zudem allein Bezüge zum Recht des ersuchenden Staates auf und es handelt sich weder um eine politische, militärische noch um eine fiskalische Straftat.

Der Senat vermag die Voraussetzungen für die Anordnung der Auslieferungshaft derzeit angesichts der aktuellen politischen Lage in der Türkei dennoch nicht anzunehmen. Zwar hält der Senat eine Auslieferung an die türkische Republik anders als das OLG Schleswig (Beschluss vom 22. September 2016 - 1 Ausl (A) 45/15 (41/15) -, juris) nicht für grundsätzlich unzulässig. Jedoch geht der Senat davon aus, dass ein der Auslieferung entgegenstehendes Hindernis derzeit nicht ausgeräumt werden kann (in einem vergleichbaren Fall auch KG, B. v. 17.01.2017, (4) 151 AuslA 11/16 (10/17), juris). Angesichts der aktuellen politischen und justiziellen Entwicklungen in der Türkei seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 und der Verhängung des Ausnahmezustandes ist anzunehmen, dass sich aufgrund der aus der Presse und aus Berichten von nichtstaatlichen Organisationen wie A. I. zu entnehmenden massenhaften Inhaftierungen die Haftbedingungen vor Ort jedenfalls teilweise erheblich verschlechtert haben (OLG München, B. v. 16.08.2016, 1 AR 252/16). Auch wenn dem Senat insoweit keine konkreten Zahlen bekannt sind, ist davon auszugehen, dass eine Vielzahl von Personen innerhalb eines kurzen Zeitraumes inhaftiert worden ist und somit jedenfalls erhebliche Bedenken bestehen, ob die vom Europäischen Menschengerichtshof für erforderlich gehaltenen Haftbedingungen tatsächlich in allen Justizvollzugsanstalten der Türkei derzeit eingehalten werden. Aufgrund der zu vermutenden Haftbedingungen vor Ort könnte der Auslieferung daher langfristig ein Hindernis nach § 73 Satz 1 IRG in Verbindung mit Art. 3 EMRK entgegenstehen (KG a. a. O.). Hinzu kommt, dass die Türkei mit Datum vom 21. Juli 2016 gemäß Art. 15 EMRK eine Deklaration beim Europarat hinterlegt hat und auf diese Weise die in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergeschriebenen Rechte eines Beschuldigten weitestgehend außer Kraft gesetzt hat. Zwar darf ein Vertragsstaat auch in diesem Fall nicht von dem in Art. 3 EMRK niedergelegten Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung abweichen. Jedoch kann der Senat angesichts der geschilderten politischen Lage vor Ort derzeit nicht ausschließen, dass die europäischen Mindeststandards für die Haftbedingungen in der Türkei zurzeit immer eingehalten werden können.

Dabei verkennt der Senat nicht, dass dem ersuchenden Staat im Rahmen der Rechtshilfe im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegen zu bringen ist (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. März 2016 - 2 BvR 348/16, - juris). In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des KG Berlin (Beschluss vom 17. Januar 2017- (4) 151 AuslA 11/16 (10/17) -, juris) und im Ergebnis auch des OLG München (Beschluss vom 16. August 2016 - 1 AR 252/16 - juris) hält es der Senat jedoch vor einer Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft für erforderlich, dass die türkische Regierung eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung über die den Verfolgten im konkreten Einzelfall erwartenden Haftbedingungen und zu deren Überprüfbarkeit durch deutsche Behördenvertreter mit folgendem Inhalt abgibt:

- Benennung der - in einer Entfernung von maximal 250 Kilometern zur Deutschen Botschaft oder zu einem Deutschen (General-)Konsulat befindlichen - Haftanstalt (genaue namentliche Bezeichnung der Haftanstalt), in die der Verfolgte nach erfolgter Auslieferung aufgenommen und in der er während der Dauer des Freiheitsentzugs inhaftiert sein wird;

- Zusicherung, dass die räumliche Unterbringung und die sonstige Gestaltung der Haftbedingungen in dieser Haftanstalt den europäischen Mindeststandards entsprechen und den Häftlingen dort keine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten droht;

- Beschreibung der Haftbedingungen in der namentlich benannten Haftanstalt, insbesondere im Hinblick auf: Zahl der Haftplätze, Gesamtzahl der Gefangenen, Anzahl, Größe und Ausstattung der Hafträume (insbesondere auch Angaben zu Fenstern, Frischluftzufuhr und Heizung), Belegung der Hafträume, Ausstattung der Haftanstalt mit sanitären Einrichtungen, Verpflegungsbedingungen, Art und Bedingungen des Zugangs der Häftlinge zu medizinischer Versorgung;

- Zusicherung, dass Besuche durch diplomatische oder konsularische Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Verfolgten während der Dauer seiner Inhaftierung - auch unangekündigt - möglich sind.

Zum jetzigen Zeitpunkt enthält das Ersuchen der türkischen Republik zu den aufgeführten Punkten lediglich eine allgemein gehaltene Erklärung, wonach der Verfolgte über alle Rechte verfügt, die sich aus den internationalen Übereinkommen, unter dessen Parteistaaten sich auch die Republik Türkei befindet, und dem inländischen Recht ergeben. Der Senat hat noch keine eigenen Erfahrungen zu der Frage, ob die türkische Seite bereit ist, darüber hinausgehende konkrete und verbindliche Erklärungen abzugeben. Jedoch ergibt sich aus Mitteilungen anderer Gerichte, dass eine derartige Bereitschaft derzeit offenbar gerade nicht besteht und insbesondere Besuche von Angehörigen der diplomatischen oder konsularischen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland von längerfristigen Ankündigungen abhängig gemacht werden. So hat das KG Berlin in seiner oben genannten Entscheidung mitgeteilt, dass in allen Fällen, in denen das Gericht in den vergangenen Monaten vergleichbare Entscheidungen zu treffen hatte, lediglich pauschale Zusicherungen seitens der türkischen Behörden abgegeben wurden, welche auch im Bewilligungsverfahren vom Bundesamt für Justiz nicht für ausreichend erachtet werden. Aus dieser Entscheidung ergibt sich zudem, dass auch das OLG München jedenfalls die Zulässigkeit der Auslieferung nicht hat feststellen können, weil die türkischen Behörden die erbetenen Zusicherungen nicht bzw. nicht in dem geforderten Umfang abgegeben und sich auf allgemein gehaltene Erklärungen zurückgezogen haben.

Nach alledem geht der Senat davon aus, dass langfristig ein die Zulässigkeit der Auslieferung betreffendes Hindernis vorliegen wird. Aus diesem Grund erachtet der Senat bereits die Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft derzeit nicht für angezeigt.

Der Senat geht jedoch davon aus, dass die Generalstaatsanwaltschaft den türkischen Behörden unter Mitteilung des vorliegenden Beschlusses die Gelegenheit geben wird, von den Anforderungen Kenntnis zu nehmen und die entsprechenden völkerrechtlich verbindlichen Zusicherungen abzugeben. Sollte eine den vorliegend aufgezeigten Ansprüchen genügende Erklärung entgegen der derzeitigen Erwartung des Senates abgegeben werden, wird der Senat erneut über das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft befinden und aufgrund des durch den Verfolgen gestellten Asylantrages in diesem Fall auch das Vorliegen eines Asylgrundes prüfen.