Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 23.10.2002, Az.: 1 B 77/02

Aufnahmeeinrichtung; Ersatzzustellung; formlose Mitteilung; Gemeinschaftseinrichtung; Heimleitung; Mitwirkungspflichten; Postverteilung; Sondervorschriften; Wohnheim; Zugang; Zugangsfiktion; Zustellung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
23.10.2002
Aktenzeichen
1 B 77/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 43633
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Ein Flüchtlingswohnheim ist keine Aufnahmeeinrichtung iSv § 10 Abs. 4 AsylVfG.

2. Eine Wohneinrichtung ohne Heimleitung ist keine "Gemeinschaftseinrichtung" iSv § 178 ZPO, so dass eine Ersatzzustellung nach dieser Vorschrift nicht möglich ist.

3. Die Entgegennahme eingehender Post durch Sozialarbeiter erfüllt nicht die Anforderungen an eine förmliche (Ersatz-) Zustellung.

Gründe

1

Die Antragstellerin war in Zeit vom 2. bis 9. Oktober offenkundig auf Reisen und vorübergehend nicht in ihrem Wohnheim im {A.}. Damit konnte die in § 31 Abs. 1 S. 2 AsylVfG vorgeschriebene Zustellung an sie persönlich jedenfalls nicht erfolgen.

2

Die Sondervorschrift des § 10 Abs. 4 AsylVfG über Zustellungen innerhalb von Aufnahmeeinrichtungen durch Postverteilung kommt hier nicht zum Zuge, da es sich bei dem Wohnheim im {A.} nicht um eine Aufnahmeeinrichtung im gesetzlich vorausgesetzten Sinne handelt. Die Antragstellerin ist aus der Zentralen Anlaufstelle {B.} an die Stadt {C.} überwiesen und hier in einem Wohnheim untergebracht worden, das nicht mehr als „Aufnahmeeinrichtung“ zu betrachten ist. Nach Entlassung aus der Erstaufnahmeeinrichtung und Durchführung der landesinternen Verteilung findet § 10 Abs. 4 keine Anwendung mehr (Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 3. Auflage, § 10 Rdn. 30).

3

Auch die Sonderregelung des § 10 Abs. 2 AsylVfG, über welche die Antragstellerin mit Aushändigung der „Wichtigen Mitteilung“ am 9. Juli 2002 ordnungsgemäß informiert worden ist (§ 10 Abs. 7 AsylVfG), dürfte hier nicht eingreifen. Sie geht ihrem Sinn und Zweck nach auf ungesicherte Lebensverhältnisse von Asylbewerbern zurück, an denen es im vorliegenden Fall fehlt. Denn die Antragstellerin ist ihren Mitwirkungspflichten aus § 10 Abs. 1 AsylVfG - Mitteilung bzw. Wechsel der Anschrift - in der erforderlichen Weise nachgekommen und hat dafür gesorgt, dass sie behördliche Mitteilungen stets erreichen können. Auch hat sie für die Zeit ihrer Abwesenheit einen Empfangsberechtigten benannt (§ 10 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 AsylVfG): Indem sie bei der zuständigen Ausländerbehörde eine „Erlaubnis zum vorübergehenden Verlassen des Bereichs der Aufenthaltsgestattung“ gemäß § 58 AsylVfG beantragt und auch erhalten hat (Erlaubnis v. 1. Oktober 2002), hat sie diese Behörde über ihre zeitweilige Abwesenheit benachrichtigt, was wegen der engen Zusammenarbeit von Ausländerbehörde und Bundesamt (vgl. indiziell § 54 AsylVfG) auch als Benachrichtigung der Antragsgegnerin gelten muss (vgl. Marx, aaO., § 10 Rdn. 15 a.E.). Denn als behördenbekannt gelten alle Daten, die - ggf. per Computer - in den Machtbereich der jeweiligen Behörde gelangen, wobei keine Rolle spielt, ob sie zur Kenntnis genommen werden (Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 10 AsylVfG Rdn. 16). Unter diesen Umständen kann davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin für die Zeit ihrer Abwesenheit darauf vertraut hat, dass ihr entweder wichtige Post seitens der Antragsgegnerin erst gar nicht zugestellt werden wird oder aber die zuständige Ausländerbehörde als Empfangsberechtigte für solche Post gelten kann, was der Antragsgegnerin als Kenntnis (objektiv) zuzurechnen ist. Damit kommen die Sonderregeln des § 10 Abs. 2 AsylVfG hier nicht zum Zuge.

4

Gemäß § 10 Abs. 5 AsylVfG bleiben allerdings die Vorschriften über Ersatzzustellungen unberührt. Eine Ersatzzustellung könnte hier zwar nach § 11 Abs. 1 VwZG in Betracht kommen, aber das Erfordernis, dass ein im Hause wohnender Hauswirt oder Vermieter zur Annahme der Post bereit war, dürfte nicht erfüllt sein. Diese Form der Zustellung ist denn von der Postbediensteten auch nicht gewählt worden (vgl. Urkunde: „Gemeinschaftseinrichtung“). Aber auch eine Ersatzzustellung nach § 178 ZPO (in der im BGBl. Teil III Nr. 310-4 veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geänd. durch Art. 1 des Gesetzes v. 23.7. 2002, BGBl. I, 2850) dürfte hier nicht erfolgt sein. Denn es ist schon nicht zweifelsfrei, ob es sich bei dem Flüchtlingswohnheim im {A.} überhaupt um eine „Einrichtung“ in dem Sinne handelt, wie das § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO vorausgesetzt. Nach Auskunft der zuständigen Sachbearbeiterin der Stadt {C.} gibt es seit Übernahme der Wohneinrichtung, die früher in privater Hand war, durch die Stadt {C.} einen „Leiter“, an den zugestellt werden könnte, gerade nicht mehr. Es verhält sich offenbar so, dass in dem Wohnheim zwei Sozialarbeiter/innen - u.a. Frau {D.}- tätig sind, die sich um die Bewohner, soweit ihnen das möglich ist, kümmern, sie betreuen und ihnen helfen (u.a. auch bei Schulaufgaben). Eingehende Post wird von den Sozialarbeitern/innen zunächst entgegengenommen, auf einer täglich ausgehängten Liste vermerkt und später an die Bewohner dann - ggf. gegen Unterschrift - ausgehändigt. Das Verfahren ähnelt dem des § 10 Abs. 4 AsylVfG, ohne dass dessen Voraussetzungen erfüllt sind (s.o.). Daneben gibt es in dem Heim noch einen Hausmeister und eine Putzfrau. Ob dieses Wohnheim mit seiner dargestellten Struktur eine Gemeinschaftseinrichtung in dem von § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO vorausgesetzten Sinne ist, erscheint somit sehr zweifelhaft. Denn eine Einrichtungsstruktur mit einer Leitung des Heimes fehlt. Demzufolge konnte der Bescheid vom 26. September 2002 auch nicht iSv § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO an den „Leiter der Einrichtung“ (ersatzweise) zugestellt werden. War eine solche Zustellung aber nicht möglich, so auch nicht eine solche an einen „dazu ermächtigten Vertreter“. Denn mangels Leiter kann es auch keinen dazu (vom Leiter) ermächtigten Vertreter geben. Die hier praktizierte Entgegennahme der Post durch Sozialarbeiter/innen mit anschließender Weitergabe an die jeweiligen Empfänger ist keine förmliche Zustellung, bei der z.B. der Tag der Aushändigung an die Empfänger festgestellt werden könnte.

5

Soweit eine Heilung der mithin mißlungenen Zustellung nach § 9 VwZG durch den tatsächlichen Empfang in Betracht gezogen werden und dabei der allgemeine Rechtsgedanke, der früher in dem inzwischen aufgehobenen § 9 Abs. 2 VwZG zum Ausdruck kam, beiseite gelassen werden könnte, wäre allerdings die Antragsgegnerin für den genauen Tag der Aushändigung beweispflichtig („nachweislich“). Es ist nicht erkennbar, dass der Antragsgegnerin eine Festlegung des Tages der Aushändigung und ein entsprechender Beweis iSv § 9 VwZG möglich wäre. Das aber wäre für die korrekte Berechnung einer Klage- und Antragsfrist (§ 74 Abs. 1 AsylVfG) erforderlich.