Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 30.05.2001, Az.: 6 A 1/01
Ritalin; sonderpädagogischer Förderbedarf; Sonderschule; Verhaltensstörung
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 30.05.2001
- Aktenzeichen
- 6 A 1/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 39547
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 68 SchulG ND
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger können eine Vollstreckung durch die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe des festgesetzten Vollstreckungsbetrages abwenden, sofern nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
Der am ... 1993 geborene Sohn H. der Kläger wurde im August 1999 schulpflichtig. Von Mai 1998 bis Januar 1999 hatte er den Heilpädagogischen Kindergarten der Lebenshilfe G. besucht. Vor einer Einschulung in die für ihn zuständige Grundschule beantragten die Kläger auf Empfehlung des Heilpädagogischen Kindergartens und eines Schulpsychologen die Durchführung eines Verfahrens zur Feststellung, ob bei dem Kind ein sonderpädagogischer Förderbedarf gegeben sei. In der an der P. in G. durchgeführten Untersuchung kam der Sonderschullehrer P. in seinem Beratungsgutachten vom 26. April 1999 zu dem Ergebnis, dass der Sohn der Kläger im Hinblick auf die bei ihm festgestellte Entwicklungsverzögerung in den Bereichen der Sprache, der auditiven Merkfähigkeit, des mathematischen Basiswissens, der Wahrnehmung von Raum-Lage-Beziehungen, der Auge-Hand-Koordination, der Gleichgewichtsfähigkeit sowie vor allem im sozial-emotionalen Bereich und der Gruppenfähigkeit einer sonderpädagogischen Förderung bedürfe.
Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 12. Mai 1999 fest, dass bei dem Sohn der Kläger ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliege, und wies ihn mit Wirkung vom 01. August 1999 der P. (Sonderschule für Lernhilfe) in G. zu. Seitdem besuchte der Schüler in einem Klassenverband von sieben Schülern zunächst die Klasse 1 LH und derzeit die zweite Jahrgangsstufe der P..
Am 20. Januar 2000 beschloss die Klassenkonferenz der Klasse 1 LH der P., ein Verfahren zu der Feststellung einzuleiten, ob sich der sonderpädagogische Förderbedarf verändert habe. In dem Bericht der Schule, der dem Antrag an die Beklagte beigefügt war, wurden insbesondere das Arbeitsverhalten, das Sozialverhalten und die Lernstände in den Bereichen Lesen, Schreiben und Mathematik beschrieben. Hervorgehoben wurden darin das geringe Selbstvertrauen des Schülers, die Neigung zum Stören und zur Arbeitsverweigerung in einigen Bereichen sowie zu Aggressionen gegenüber Mitschülern und den Lehrkräften, wenn der Schüler sich provoziert fühle und die Beherrschung verliere.
In dem Beratungsgutachten vom 5. Mai 2000 kam die Sonderschullehrerin R. zu dem Ergebnis, dass der Sohn der Kläger in allen Einzelsituationen ausdauernd, konzentriert, sorgfältig und umgänglich mitgearbeitet, aber in Gruppensituationen eine äußerst niedrige Frustrationsgrenze gezeigt habe. Schon geringe Anlässe hätten trotz einer medikamentösen Behandlung mit Ritalin Wut- und Gewaltausbrüche gegen Mitschüler zur Folge gehabt und ein Einschreiten der Lehrkräfte erforderlich gemacht. Die Aggressionen wendeten sich dann gegen den Erwachsenen, der mit einem absolut respektlosen Verhalten beschimpft, beleidigt, bedroht und auch tätlich angegriffen werde. Solche "Ausraster" und eine gänzliche Verweigerung der Mitarbeit seien vorprogrammiert, wenn der Ablauf des Schulvormittags nicht auf das tägliche Befinden des Schülers abgestimmt werde. In einer ihm ungewohnten Gruppe werde von vornherein die Mitarbeit verweigert. Zur Zeit sei der Schüler auch den Anforderungen einer kleinen Lerngruppe nicht gewachsen. Eine Therapie zur Aufarbeitung seiner Probleme sei unumgänglich. Die Gutachterin empfahl, den Schüler zum nächstmöglichen Termin in eine Erziehungshilfeklasse umzusetzen, ihn bis dahin aber noch in seinem derzeitigen Klassenverband der Schule für Lernhilfe zu belassen.
Mit Bescheid vom 24. Juli 2000, den Klägern mit einfachem Brief zugegangen am 26. Juli 2000, stellte die Beklagte fest, dass bei dem Sohn der Kläger ein veränderter sonderpädagogischer Förderbedarf vorliege. Die Beklagte ordnete außerdem an, dass der Schüler zunächst an der P. verbleibe, bis eine seinem Förderbedarf angemessene Beschulungsform (Schule für Erziehungshilfe mit Lernbehindertenzweig) gefunden worden sei. Hiergegen erhoben die Kläger am 25. August 2000 Widerspruch, den die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 01. Dezember 2000 - zugestellt am 05. Dezember 2000 - als unbegründet zurückwies. In dem Widerspruchsbescheid ist hervorgehoben worden, dass hinsichtlich der weiteren Beschulung des Schülers zu gegebener Zeit ein entsprechender Bescheid ergehen werde.
Am 05. Januar 2001 haben die Kläger den Verwaltungsrechtsweg beschritten. Zur Begründung der Klage tragen sie vor:
Entgegen der Auffassung der Beklagten sei ihr Sohn nicht verhaltensgestört und könne durchaus weiterhin an dem Unterricht der P. teilnehmen. Er sei sehr wohl gruppenfähig, so dass es nicht der Beschulung an einer Schule für Erziehungshilfe mit Lernhilfezweig bedürfe. Dies werde ein schulpsychologisches Gutachten ergeben, das eingeholt werden müsse. Wie seine Klassenlehrerin bestätigen könne, habe sich die Situation erheblich gebessert. Eine umfassende Begutachtung sei bisher unterblieben. Der Sohn befinde sich in ständiger ärztlicher und psychologischer Betreuung.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 01. Dezember 2000 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie entgegnet:
Mit Bescheid vom 12. Mai 1999 sei bestandskräftig festgestellt worden, dass der Sohn der Kläger die P. im Zweig der Lernhilfe zu besuchen habe. Wegen der von dem Schüler ausgehenden erheblichen Verhaltensstörungen sei hierzu eine Überprüfung durchgeführt worden, die mit dem Bescheid vom 24. Juli 2000 zu der Feststellung geführt habe, dass ein insoweit veränderter Förderbedarf vorliege. In dem Bescheid sei jedoch verfügt worden, dass der Schüler vorerst weiterhin an der P. verbleibe, bis eine angemessene andere Schulform gefunden worden sei. Es sei nicht erkennbar, wogegen die Kläger sich wendeten.
Mit Verfügung des Gerichts vom 26. Februar 2001 ist der Beklagten aufgegeben worden, den derzeitigen Sachstand hinsichtlich des Verhaltens des Sohnes der Kläger darzulegen. Wegen der Stellungnahme wird auf den Bericht der Klassenlehrerin des Schülers vom 28. März 2001 sowie auf eine ergänzende Äußerung der Schulleiterin der P. verwiesen.
In der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2001 wurde im Hinblick auf den gegenwärtigen Sachstand eine Klagrücknahme durch die Kläger erörtert. Der Prozessbevollmächtigte der Kläger behielt sich eine Äußerung bis zum 21. Mai 2001 vor; bis zum Ablauf dieser Frist ist eine diesbezügliche Prozesserklärung dem Gericht jedoch nicht zugegangen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten (vier Hefter) Bezug genommen. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne eine (weitere) mündliche Verhandlung erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage, über die mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne eine weitere mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) und gemäß § 6 VwGO durch den Einzelrichter entschieden werden kann, ist nicht begründet.
Nach den §§ 68 Abs. 1, 14 Abs. 2 Satz 1 und 60 Abs. 1 Nr. 4 und 5 des Niedersächsischen Schulgesetzes - NSchG - i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 21.01.1999 (Nds.GVBl. 1999, 10) sind Schüler und Schülerinnen, die wegen körperlicher, geistiger oder psychischer Beeinträchtigungen oder einer Beeinträchtigung ihres sozialen Verhaltens einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen und diese Förderung nicht an einer Schule einer anderen Schulform erfahren können, für die Dauer ihrer Beeinträchtigung zum Besuch der für sie geeigneten Sonderschuleinrichtung verpflichtet. Soweit es die organisatorischen, personellen und sächlichen Gegebenheiten erlauben, soll die Erziehung und Unterrichtung nach Möglichkeit gemeinsam mit den nicht beeinträchtigten Schülerinnen und Schülern der jeweiligen Schulform erfolgen (§ 4 NSchG). Hierzu können im ersten bis zum zehnten Schuljahrgang der allgemeinbildenden Schulen Integrationsklassen eingerichtet werden, in denen die Leistungsanforderungen auf die unterschiedlichen Lernfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet sind (§ 23 Abs. 4 NSchG).
Das Verfahren über die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderungsbedarfs ist in der Verordnung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderungsbedarfs vom 01. November 1997 (Nds.GVBl. 1997, 458) - FeststellungsVO - geregelt. Diese Verordnung sieht vor, dass die Schulbehörde (Bezirksregierung) über eine sonderpädagogische Förderung unter Berücksichtigung eines Lernstandsberichts der Schule, des Beratungsgutachtens der für eine Förderung in Betracht zu ziehenden Sonderschule und der Empfehlungen einer Förderungskommission, soweit sie auf Antrag der Erziehungsberechtigten zu bilden ist, entscheidet. Nach Maßgabe dieser Bestimmungen wurde der Sohn der Kläger zu Beginn seiner Schulpflicht einer Überprüfung unterzogen und mit Wirkung vom 01. August 1999 einer Sonderschule für Lernhilfe zugewiesen. Seitdem nimmt der Schüler am Unterricht einer Klasse für Lernhilfe an der P. in G. teil. Wegen der im Verlauf des ersten Schuljahres wiederholt aufgetretenen Verhaltensauffälligkeiten des Schülers wurde sodann ein Verfahren zur Feststellung, ob ein insoweit veränderter sonderpädagogischer Förderbedarf vorliege, durchgeführt mit dem Ergebnis, dass diese Verhaltensauffälligkeiten zusätzlich zu den Maßnahmen der Lernhilfe eine Betreuung durch eine geeignete Einrichtung der Erziehungshilfe erforderten. Von der Zuweisung des Schülers zu einer derartigen Einrichtung wurde jedoch ausdrücklich abgesehen und der Schüler vorerst weiterhin an der P. in G. belassen.
Die Entscheidung der Beklagten, die sich hier auf die Feststellung eines veränderten sonderpädagogischen Förderbedarfs beschränkt, ist zu Recht getroffen worden. Bei der vom Gericht uneingeschränkt nachprüfbaren Entscheidung ist zum einen darauf abzustellen, ob sie gerechtfertigt war, als sie getroffen wurde. Darüber hinaus ist der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gegebene Sachverhalt insoweit zu berücksichtigen, als die Feststellung zu der Bedürftigkeit des Schülers, in einer besonderen Weise pädagogisch gefördert zu werden, durch eine in der Zwischenzeit eingetretene Entwicklung widerlegt oder bestätigt worden ist (OVG Lüneburg, Beschl. vom 31.03.1981 - 13 OVG A 38/80 -; VG Braunschweig, Urt. vom 25.11.1998 - 6 A 6226/98 -). Die Tatbestandsmerkmale der besonderen pädagogischen Förderungsbedürftigkeit sind - soweit sie durch Feststellungen im sonderpädagogischen Beratungsgutachten belegt werden - unbestimmte Rechtsbegriffe, die der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle in vollem Umfang unterliegen und keinen behördlichen Beurteilungsspielraum enthalten (OVG Lüneburg, Urt. vom 02.09.1980, 13 OVG 26/80; VG Braunschweig, Urt. vom 25.11.1998, a.a.O., m.w.N.).
Nach dem Ergebnis des sonderpädagogischen Überprüfungsverfahrens ist davon auszugehen, dass der Sohn der Kläger erhebliche Verhaltensauffälligkeiten aufweist und auch deshalb einer besonderen pädagogischen Förderung bedarf. Der Ausbildungsgang des Schülers ist von Beginn an von Verhaltensproblemen gekennzeichnet gewesen. Auch wenn bei den vor Beginn der Schulpflicht durchgeführten Untersuchungen zunächst die bei dem Schüler festgestellten Entwicklungsverzögerungen im Vordergrund gestanden haben, wurden im sozial-emotionalen Bereich bereits Auffälligkeiten sichtbar und traten im Verlauf des Schulunterrichts massiv auf. Das mit einer Arbeitsverweigerung einhergehende aggressive Verhalten des Schülers, das nicht selten über die verbalen Entgleisungen hinaus zu körperlichen Attacken gegenüber den Mitschülern und auch Lehrkräften geführt hat, hat sich seitdem nicht maßgeblich verändert. Die im Beratungsgutachten vom 05. Mai 2000 herausgestellten Verhaltensauffälligkeiten vorwiegend in Situationen, in denen der Schüler sich - zumeist unbegründet - bedrängt fühlt, er mit einer von ihm als ungewohnt empfundenen Gruppensituation konfrontiert wird oder der Schüler in eine Gemeinschaftsaktion einbezogen werden soll, haben sich auch im Verlauf der zweiten Jahrgangsstufe nicht maßgeblich abgeschwächt. Dies wird aus den im Rahmen des Klageverfahrens eingeholten Stellungnahmen der Lehrkräfte, die den Schüler derzeit unterrichten, deutlich. Auch die vor etwa einem Jahr begonnene medikamentöse Behandlung mit einem das Aggressionsverhalten dämpfenden Wirkstoff vermochte eine wesentliche Verhaltensänderung nicht herbeizuführen. Das unsubstantiierte Bestreiten der Kläger gibt dem Gericht keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen.
Da die Beklagte eine Entscheidung über die Zuweisung des Sohnes der Kläger an eine andere Sonderschulform ausdrücklich nicht getroffen, sondern verfügt hat, dass der Schüler vorerst weiterhin am Unterricht des Klassenverbandes teilzunehmen habe, in dem er sich derzeit befindet, bedarf es einer Entscheidung darüber, ob der Förderbedarf des Schülers einen Schulwechsel erfordert, nicht. Für die gerichtliche Klärung dieser Frage besteht ein schutzwürdiges Interesse der Kläger erst dann, wenn die Beklagte eine derartige Entscheidung über den sonderpädagogischen Förderungsbedarf getroffen hat. Sollte eine solche Entscheidung nicht zeitnah zu dem Abschluss dieses gerichtlichen Verfahrens getroffen werden, wird im Hinblick auf die sich möglicherweise veränderte Sachlage zu prüfen sein, ob ein erneutes Verfahren zur Feststellung des Förderbedarfs durchzuführen ist.
Die Klage ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Nebenentscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.