Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 30.09.2013, Az.: 1 Ws 372/13 (StrVollz)

Elektronisches Produkterkennungssystem mit Sprachausgabe (Barcodelesegerät) als ein Hilfsmittel im Sinne von § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 5 NJVollzG

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
30.09.2013
Aktenzeichen
1 Ws 372/13 (StrVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 51462
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2013:0930.1WS372.13STRVOLLZ.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - AZ: 50 StVK 393/13

Fundstelle

  • ZfStrVo 2014, 66

Amtlicher Leitsatz

Auch im Strafvollzug kann ein elektronisches Produkterkennungssystem mit Sprachausgabe (Barcodelesegerät) ein Hilfsmittel im Sinne von § 57 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 NJVollzG sein, wenn die Versorgung eines sehbehinderten Gefangenen mit dem Gerät im Einzelfall erforderlich und wirtschaftlich ist. Dies ist aber bei einem Gefangenen im geschlossenen Vollzug der Sicherheitsstufe 2 zu verneinen, weil dort unabhängig von der Sehbehinderung wesentliche Entfaltungsmöglichkeiten von vornherein nicht bestehen, zu deren Erschließung das Barcodelesegerät einem sehbehinderten Menschen eigentlich dienen soll.

In der Strafvollzugssache
des C. U. V.,
geboren am xxxxxx 1969 in E.,
zurzeit in der Justizvollzugsanstalt W.
- Antragstellers -
gegen die Justizvollzugsanstalt W.,
vertreten durch den Anstaltsleiter
- Antragsgegnerin -
wegen Bewilligung eines Barcodelesegeräts
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig vom 7. August 2013 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxx und die Richter am Oberlandesgericht xxxxxx und xxxxxx am 30. September 2013
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die Rechtsbeschwerde wird auf Kosten des Antragstellers als unbegründet verworfen.

  2. 2.

    Der Streitwert wird auf 300,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe und befindet sich derzeit im geschlossenen Vollzug der Sicherheitsstufe 2. Er ist wegen einer Sehbehinderung zu 100 % schwerbehindert und verfügt aktuell über ein Restsehvermögen von unter 2 % beidseitig, das ihm eine grobe Kontrast- und Hell-Dunkel-Wahrnehmung ermöglicht. Er ist mit einem Blindenstock sowie einem elektronischen Schreib- und Lesegerät mit Braillezeile versorgt. Durch den angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 22. Mai 2013, die Vollzugsbehörde zu verpflichten, dem Antragsteller ein elektronisches Produkterkennungssystem mit Sprachausgabe (Barcodelesegerät) des Typs "Einkaufs-Fuchs" zur Verfügung zu stellen, als unbegründet abgelehnt.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit der auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Rechtsbeschwerde.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

1. Sie ist zulässig, weil es geboten ist, die Nachprüfung der Entscheidung zur Fortbildung des Rechts zu ermöglichen (§ 116 Abs. 1 StVollzG). Der Senat hat die maßgebliche Rechtsfrage bislang nicht entschieden.

2. Die Rechtsbeschwerde ist indes nicht begründet.

a) Eine den formellen Anforderungen nach § 118 Abs. 2 Satz 2 StVollzG genügende Verfahrensrüge ist nicht erhoben worden. Soweit der Antragsteller eine Verletzung der Aufklärungspflicht wegen unterbliebenen Einholens einer augenärztlichen Stellungnahme rügt, teilt er in der Rechtsbeschwerde nicht mit, zu welchem voraussichtlichen und für ihn günstigen Ergebnis die unterlassene Beweisaufnahme geführt hätte.

b) Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung auf die in zulässiger Form erhobene Sachrüge deckt keinen Rechtsfehler auf. Die Strafvollstreckungskammer hat zu Recht darauf erkannt, dass der Antragsteller keinen Rechtsanspruch auf die Versorgung mit dem beantragten Barcodelesegerät hat.

aa) Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 NJVollzG hat der Gefangene Anspruch auf Krankenbehandlung, die nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 der Vorschrift auch die Versorgung mit Hilfsmitteln umfasst, soweit dies nicht mit Rücksicht auf die Kürze des Freiheitsentzugs unverhältnismäßig ist und soweit Belange des Vollzuges nicht entgegenstehen (Abs. 2 Satz 2). Für Art und Umfang der Krankenbehandlung gelten gemäß § 59 Satz 1 NJVollzG die Vorschriften des SGB V und die aufgrund dieser Vorschriften getroffenen Regelungen entsprechend, soweit im NJVollzG nichts anderes bestimmt ist. Eine nähere Bestimmung zur Versorgung der Gefangenen mit Hilfsmitteln, wie sie in § 59 StVollzG enthalten ist, hat der Niedersächsische Landesgesetzgeber bewusst nicht vorgenommen, weil nach seinem Willen mit der vorgenannten Verweisung die Regelung des § 33 SGB V über die Hilfsmittel entsprechende Anwendung findet (vgl. LT-Drucks. 15/3565 S. 138).

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind.

Das Bundesozialgericht hat bereits entschieden, dass das hier streitgegenständliche Barcodelesegerät ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB Vsein kann, weil es grundsätzlich geeignet ist, die Auswirkungen einer Sehbehinderung im Bereich der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens auszugleichen bzw. zu mildern; es muss aber jeweils festgestellt werden, ob die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V) und wirtschaftlich (§ 12 Abs. 1 SGB V) ist (BSG, Urteil vom 10. März 2011 - B 3 KR 9/10 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 33).

Auch das Erfordernis der Wirtschaftlichkeit nach § 12 Abs. 1 SGB V gilt nach dem Willen des Niedersächsischen Landesgesetzgebers über den Verweis in § 59 Satz 1 NJVollzG im Strafvollzug entsprechend (vgl. LT-Drucks. aaO S. 140). Dementsprechend besteht ein Anspruch des Gefangenen auf Versorgung mit Blick auf die Erforderlichkeit im Einzelfall nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen dürfen gemäß § 12 Abs. 1 SGB Vnicht bewilligt werden (vgl. BSG aaO).

bb) Die Strafvollstreckungskammer hat im vorliegenden Fall sowohl die Erforderlichkeit als auch die Wirtschaftlichkeit zutreffend verneint.

Des Einholens einer ärztlichen Stellungnahme bedurfte es dazu nicht. Der Versorgungsanspruch nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB Vbesteht weder allein aufgrund einer ärztlichen Verordnung noch aufgrund der Auflistung dieses Gerätes im Hilfsmittelverzeichnis. Wie den Krankenkassen steht der Vollzugsbehörde vielmehr ein eigenes Entscheidungsrecht zu, ob ein Hilfsmittel nach Maßgabe des § 33 SGB Vzum Ausgleich einer bestehenden Behinderung im Einzelfall erforderlich ist (vgl. BSG aaO). Im vorliegenden Fall beruht die Ablehnung der Bewilligung nicht auf medizinischen Fragen, die der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedurft hätten, sondern auf den Besonderheiten der Lebensgestaltung im geschlossenen Vollzug der Sicherheitsstufe 2. Diese ermöglichen dem Antragsteller nämlich wesentliche Entfaltungsmöglichkeiten nicht, zu deren Erschließung das Barcodelesegerät einem sehbehinderten Menschen nach der Rechtsprechung des Bundesozialgerichts dienen soll.

Da das Barcodelesegerät ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich darstellt, ist es nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft, wozu u.a. das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums gehören (BSG aaO). Das allgemeine Grundbedürfnis des selbständigen Wohnens umfasst die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die notwendig sind, um ohne fremde Hilfe im häuslichen Umfeld verbleiben zu können. Die mit dem Barcodelesegerät abrufbaren Informationen ermöglichen einem sehbehinderten Menschen einen weitgehend selbständigen Einkauf von Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs und damit eine überwiegend selbständige Haushaltsführung; allerdings müssen nicht entschlüsselbare Informationen über den Preis und die Mindesthaltbarkeit von Lebensmitteln weiterhin im Geschäft erfragt werden. Daneben dient das Gerät im persönlichen Umfeld der Orientierung in der Wohnung sowie der selbständigen Organisation und Führung des Haushaltes durch Verwendung der mitgelieferten Strichcode-Etiketten. Auf diese Weise kann nahezu jeder Gegenstand im persönlichen Umfeld eines sehbehinderten Menschen gekennzeichnet und die individuell vergebene Information jederzeit abgerufen werden (BSG aaO).

Ob ein Barcodelesegerät im Einzelfall erforderlich ist, ist aber abhängig von der persönlichen Lebensführung und den Lebensverhältnissen des jeweiligen Betroffenen (BSG aaO). Sowohl der Umfang der konkreten Nutzung des Barcodelesegerätes unter Berücksichtigung seiner Einsatzmöglichkeiten als auch die im Rahmen der Wirtschaftlichkeit vorzunehmende Kosten-Nutzen-Analyse bedingen deshalb, dass es trotz der Bedeutung der durch ein Barcodelesegerät vermittelten Information für sehbehinderte Menschen in Anbetracht des hohen Anschaffungspreises von ca. 3.000 € einer relativ häufigen Nutzung des Gerätes pro Tag bedarf, um dessen Wirtschaftlichkeit bejahen zu können (BSG aaO). Diese hat die Strafvollstreckungskammer hier zutreffend verneint.

Der gesamte Bereich des selbständigen Einkaufens entfällt nämlich im vorliegenden Fall. Denn in der Anstalt, in der der Antragsteller einsitzt, findet ein sog. Zettel-einkauf statt; d.h. die Gefangenen müssen auf einem vorgefertigten Blatt die Produkte eintragen, die sie erwerben möchten. Die daneben als Grundbedürfnis verbleibende selbständige Organisation und Führung eines Haushaltes kann allenfalls mit erheblichen Einschränkungen angenommen werden. Der Antragsteller hat lediglich einen Haftraum zur Verfügung und erhält eine vollständige Grundversorgung mit Nahrungsmitteln. Ein Besitz gefährlicher Stoffe, die er verwechseln könnte (z.B. Reinigungsmittel mit ätzenden Flüssigkeiten), ist ihm schon aus Gründen der Sicherheit der Anstalt untersagt. Der Haftraum darf gemäß § 21 NJVollzG nur in angemessenem Umfang mit eigenen Sachen ausgestattet werden und auch nur, soweit dadurch die Übersichtlichkeit nicht beeinträchtigt wird. Der Antragsteller ist - wie übrigens auch die nichtsehbehinderten Gefangenen - bereits aus Gründen des Vollzugs in vielerlei Hinsicht auf die Hilfe Dritter, insbesondere der Vollzugsbediensteten, angewiesen. Das wesentliche Ziel der Hilfsmittelversorgung, den behinderten Menschen von der Hilfe anderer weitgehend bzw. deutlich unabhängiger zu machen (BSG aaO), kann in seinem Fall also nicht in gleicher Weise verwirklicht werden wie bei einem behinderten Menschen in Freiheit.

Aus den vorgenannten Gründen liegt in der Ablehnung der Bewilligung auch keine Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Denn der Antragsteller ist nicht der Gruppe sehbehinderter Menschen gleichzusetzen, denen das Barcodelesegerät in einem seinem hohen Anschaffungspreis entsprechenden Umfang ein selbständiges Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums ermöglicht.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 2 Satz 1 StVollzG.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 1 Abs. 1 Nr. 8, 52 Abs. 1, 60, 65 GKG.