Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 25.09.2013, Az.: 1 Ws 375/13 (StrVollz)

Anwendung der Mehrbedarfsregelung des § 30 Abs. 1 SGB XII bei der Bemessung von Taschengeld für Strafgefangene nach § 43 NJVollzG (hier: 100% Schwerbehinderung aufgrund einer Sehbehinderung)

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
25.09.2013
Aktenzeichen
1 Ws 375/13 (StrVollz)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 45639
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2013:0925.1WS375.13STRVOLLZ.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 16.08.2013 - AZ: 50 StVK 256/13

Fundstellen

  • NStZ 2014, 537
  • Rpfleger 2014, 101-102
  • ZfSH/SGB 2014, 36-37
  • ZfStrVo 2014, 66

Amtlicher Leitsatz

Die Mehrbedarfsregelung des § 30 Abs. 1 SGB-XII ist bei der Bemessung von Taschengeld für Strafgefangene nach § 43 NJVollzG nicht anzuwenden.

In der Strafvollzugssache
des C. U. V.,
geboren am xxxxxx 1969 in E.,
zurzeit in der Justizvollzugsanstalt W.
- Antragstellers -
gegen die Justizvollzugsanstalt W.,
vertreten durch den Anstaltsleiter
- Antragsgegnerin -
wegen Erhöhung des Taschengeldes
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig vom 16. August 2013 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxx und die Richter am Oberlandesgericht xxxxxx und xxxxxx am 25. September 2013
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die Rechtsbeschwerde wird auf Kosten des Antragstellers als unbegründet verworfen.

  2. 2.

    Der Streitwert wird auf 300,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Er ist wegen einer Sehbehinderung seit dem 1. Oktober 2010 unbefristet als zu 100 % schwerbehindert anerkannt mit den Merkzeichen G, H und RF. Durch den angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 6. Februar 2013, die Vollzugsbehörde zu verpflichten, das dem Antragsteller gewährte Taschengeld aufgrund seiner Schwerbehinderung rückwirkend ab dem 1. Oktober 2010 um 17 % zu erhöhen, als unbegründet abgelehnt.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit der Rechtsbeschwerde. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts und macht insbesondere geltend, dass die Regelung des § 30 Abs. 1 SGB XII über die Anerkennung eines Mehrbedarfs für Schwerbehinderte, die die Feststellung des Merkzeichens G nachweisen, auch zu seinen Gunsten anzuwenden sei.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

1. Sie ist zulässig, weil es geboten ist, die Nachprüfung der Entscheidung zur Fortbildung des Rechts zu ermöglichen (§ 116 Abs. 1 StVollzG). Der Senat hat die maßgebliche Rechtsfrage bislang nicht entschieden.

2. Die Rechtsbeschwerde ist indes nicht begründet.

a) Eine den formellen Anforderungen nach § 118 Abs. 2 Satz 2 StVollzG genügende Verfahrensrüge ist nicht erhoben worden. Soweit der Antragsteller eine Verletzung des rechtlichen Gehörs rügt, weil die angefochtene Entscheidung auf eine Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 20. August 2013 Bezug nehme, die ihm vorab nicht zur Kenntnis gegeben worden sei, ist nicht nachvollziehbar dargelegt worden, inwieweit die angefochtene Entscheidung, die bereits vom 16. August 2013 datiert, hierauf beruhen kann. Eine derartige Stellungnahme befindet sich auch nicht an der im Beschluss angegebenen Fundstelle in den Akten.

b) Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung auf die in zulässiger Form erhobene Sachrüge deckt keinen Rechtsfehler auf. Die Strafvollstreckungskammer hat im Ergebnis zutreffend darauf erkannt, dass der Antragsteller keinen Rechtsanspruch auf Erhöhung des ihm gewährten Taschengeldes hat.

Gemäß § 43 NJVollzG ist einem Gefangenen auf Antrag ein angemessenes Taschengeld zu gewähren, soweit er unverschuldet bedürftig ist. Die Vorschrift entspricht nach dem Willen des Gesetzgebers § 46 StVollzG in der gemäß § 199 Abs. 1 StVollzG gültigen Fassung mit einigen redaktionellen Änderungen, die der Präzisierung dienen (LT-Drucks. 15/3565 S. 125). Da die Höhe des Taschengeldes bundesrechtlich nur in der VV zu § 46 StVollzG geregelt ist, sieht § 44 NJVollzG die Ermächtigung zum Erlass einer Verordnung über die Höhe des Taschengeldes vor (LT-Drucks. aaO). Allerdings ist eine solche Verordnung bislang nicht erlassen worden. Daher gelten nach der Übergangsregelung des § 201 Abs. 1 NJVollzG die Vorschriften des StVollzG über die Bemessung des Arbeitsentgeltes und der Ausbildungsbeihilfe sowie die Strafvollzugsvergütungsordnung fort. Davon umfasst ist auch die Bemessung des Taschengeldes nach der VV zu § 46 StVollzG. Diese wird zwar nicht ausdrücklich in der Übergangsregelung erwähnt. Nach den Gesetzesmaterialien soll die Übergangsregelung aber "weiterhin" die Anwendung der "entsprechenden bundesrechtlichen Regelungen" ermöglichen, damit insoweit kein rechtloser Zustand eintritt (LT-Drucks. 15/3565 S. 226). Das Taschengeld beträgt nach Abs. 2 Satz 1 der VV zu § 46 StVollzG 14 % der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 StVollzG. Die Berechnung der Eckvergütung selbst ist verfassungsgemäß (vgl. BVerfG NJW 2002, 2023 [BVerfG 24.03.2002 - 2 BvR 2175/01]).

Die Taschengeldregelungen in § 43 NJVollzG bzw. § 46 StVollzG sind abschließend; weder sie noch die Berechnungsvorschriften sehen eine Erhöhung des Taschengeldes im Fall einer Schwerbehinderung vor. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist auch § 30 Abs. 1 SGB XII, wonach für Personen, die die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 noch nicht erreicht haben, aber voll erwerbsgemindert nach SGB VI sind und durch einen Bescheid der nach § 69 Abs. 4 SGB IX zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX die Feststellung des Merkzeichens G nachweisen, ein Mehrbedarf von 17 % der Regelbedarfsstufe anerkannt wird, auf die Bemessung des Taschengeldes nach § 43 NJVollzG nicht anzuwenden. Die Bestimmung des § 30 Abs. 1 SGB XII setzt nämlich die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 27 SGB XII voraus und knüpft an die dafür vorgesehenen Regelbedarfsstufen an. Aufgrund des Nachrangprinzips gemäß § 2 Abs. 2 SGB XII und der abschließenden Regelungen in § 43 NJVollzG und § 46 StVollzG besteht jedoch kein ergänzender Sozialhilfeanspruch für Strafgefangene (vgl. OLG Hamburg NStZ-RR 2009, 127 [OLG Hamburg 17.11.2008 - 3 Vollz (Ws) 64/08]; OVG Münster ZfStrVo 1988, 364; Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubentahl, StVollzG 6. Aufl. § 46 Rn. 1; Arloth StVollzG 3. Aufl. § 46 Rn. 6).

Auch eine entsprechende Anwendung von § 30 Abs. 1 SGB XII auf den vorliegenden Fall scheidet aus. Es fehlt bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Der Bundesgesetzgeber hat das Taschengeld unter Entlehnung dieses Begriffs aus dem Sozialhilferecht gerade für den Fall eingeführt, dass einem Gefangenen "aus Gründen seines Alters, seiner Gebrechlichkeit oder Krankheit Arbeit nicht zugewiesen werden kann" (vgl. BT-Drucks. 7/918 S. 69). Hiernach bleibt kein Raum für die Anerkennung eines Mehrbedarfs auf Grund einer vollen Erwerbsminderung.

Es liegt auch keine vergleichbare Interessenlage vor. Denn der Mehrbedarf nach § 30 SGB XII dient mit der Anknüpfung an den Regelbedarf der Sicherung des Lebensunterhalts, also der Grundversorgung, die der Gefangene von der Vollzugsbehörde bereits auf andere Weise erhält. Demgegenüber soll das Taschengeld dem Gefangenen nur "ein Minimum an Mitteln zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse" verschaffen (vgl. BT-Drucks. aaO). Es dient also gerade nicht der Grundversorgung.

Aus den vorgenannten Gründen liegt in der Ablehnung der Erhöhung auch keine Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Denn der Antragsteller ist nicht der Gruppe voll erwerbsgeminderter Menschen gleichzusetzen, die allein auf sich gestellt außerhalb einer Einrichtung ausschließlich mit den Leistungen der Sozialhilfe ihren gesamten Lebensunterhalt bestreiten müssen (vgl. BVerfGK 14, 99). Dies zeigt sich auch daran, dass die Ermittlung der Regelbedarfsstufen für die Hilfe zum Lebensunterhalt, auf die § 30 SGB XII sich bezieht, völlig anderen Regeln folgt als die Bemessung des Taschengeldes für Strafgefangene. Während die Regelbedarfsstufen gemäß § 28 Abs. 2 SGB XII nach den tatsächlichen Verbrauchsausgaben unterer Einkommensstufen ermittelt werden, berechnet sich das Taschengeld als ein Bruchteil der Eckvergütung nach § 43 Abs. 2 StVollzG. Es dient nämlich nur als Ausgleich dafür, dass ein Gefangener aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, weder Arbeitsentgelt noch Ausbildungshilfe erhält (vgl. Laubenthal aaO Rn. 8). Diese Ausgangslage ist aber bei allen unverschuldet bedürftigen Gefangenen - behinderten und nicht behinderten - gleich.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 2 Satz 1 StVollzG.

Die Festsetzung des Streitwert beruht auf §§ 1 Abs. 1 Nr. 8, 52 Abs. 1, 60, 65 GKG.