Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 02.11.2009, Az.: L 6 U 131/05

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
02.11.2009
Aktenzeichen
L 6 U 131/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2009, 35103
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2009:1102.L6U131.05.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 31.05.2005 - AZ: S 14 U 103/01

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 31. März 2005 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) Nr 1317 der Anlage zur BKV (Polyneuropathie oder Encephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) und die Gewährung von Rente.

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Der 1939 geborene Kläger arbeitete von April 1963 bis Oktober 1987 in der Lackiererei bei F. in G ...

3

Am 12. Juli 1988 verspürte er Brechreiz, heftigen Druck im Kopf (keine Schwindelerscheinungen, keine Doppelbilder, jedoch verschwommenes Sehen), Atemnot und ein Taubheitsgefühl der gesamten linken Gesichtshälfte. Bei der Ankunft im Krankenhaus H. gab er an, eine ähnliche Symptomatik seit über zwei Jahren zu haben (anfallsweise heftigste Kopfschmerzen, nur verschwommenes Sehen, Ohrensausen, Gleichgewichtsstörungen). Bei der stationären Beobachtung (bis 28. Juli 1988) bot der Kläger verschiedene neurologische flüchtige Erscheinungen. Das neurologische Konsil ergab den Verdacht auf eine Multiple Sklerose. Anschließend wurde der Kläger vom 3. bis 12. August 1988 in der Neurologischen Klinik der I. stationär behandelt. Aufgrund der Anamnese, des klinischen und des laborchemischen Befundes handele es sich um einen Zustand nach passageren Durchblutungsstörungen des Hirnstamms (Bericht I. vom 28. September 1988). Bei der Kontrolluntersuchung am 20. Oktober 1988 war der neurologische Untersuchungsbefund unauffällig (Bericht vom 21. März 1989).

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In der Folgezeit war der Kläger in Behandlung wegen Schmerzen im Wirbelsäulenbereich und in beiden Kniegelenken, wegen nachlassendem Hörvermögen und Ohrgeräuschen. Am 25. Juli 1994 erfolgte die Entfernung eines Bandscheibenvorfalls L4/5, seit Mai 1994 war der Kläger arbeitsunfähig, seit Dezember 1994 bezog er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

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Am 29. November 1994 wandte sich der Kläger an die Beklagte und zeigte als BK eine "Stammhirn- und Rückenmarksschädigung durch Vergiftung" an. Prof Dr J. (I.) habe 1988 eine "Rückenmarksschädigung mit Stammhirnbeteiligung durch Vergiftung" festgestellt. Er habe erstmals 1974 Kopfschmerzen und Schwindelanfälle bemerkt (Angaben vom 8. Februar 1995). Nach den Ermittlungen des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) war der Kläger von 1962 bis 1987 gegenüber Lösungsmitteln exponiert (Bericht des Dipl.-Ing. K. vom 30.August 1995). Die Beklagte zog medizinische Unterlagen bei, ua den Befundbericht des behandelnden Arztes L. und Unterlagen der LVA M ... Im Gutachten vom 2. April 1995 (für die LVA) teilte der Psychiater N. eine deutliche Diskrepanz zwischen den geklagten bzw demonstrierten Beschwerden und den objektivierbaren bzw nachvollziehbaren Befunden mit. Dies sei aber nicht Ausdruck einer neurotischen Persönlichkeitsstörung oder einer demonstrativen Haltung. Es bestehe vielmehr ein pseudoneurasthenisches Syndrom als Ausdruck einer hirnorganischen Leistungsfunktionsstörung.

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Die Beklagte holte das neurologische Gutachten (mit elektromyographischem, elektroneurographischem und elektroencephalographischem Zusatzgutachten) von Prof Dr O. vom 18. Mai 1996 ein. Dort gab der Kläger an, er leide seit Beginn der 80er Jahre unter Beschwerden, während der Arbeit sei ihm einige Male schlecht geworden, zu einem Anfall mit Bewusstseinstrübung oder Ohnmacht sei es nicht gekommen, die Beschwerden seien zuhause und im Urlaub stärker gewesen als bei der Arbeit. Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungen erschienen orientierend nicht eingeschränkt, anders nach den Testergebnissen, wobei die Mitarbeit bei den Tests nicht immer in ausreichendem Maße zu beurteilen sei. Auch unter Berücksichtigung der Diskrepanzen lägen Hinweise darauf vor, dass Hirnleistungsveränderungen vorhanden seien, die mit der Annahme einer hirnorganisch bedingten Veränderung der cerebralen Informationsverarbeitung vereinbar seien. Eine andere Ursache sei nicht nachweisbar. Dies und die lange Exposition seien Argumente für eine beruflich bedingte Encephalopathie. Der Gutachter bejahte eine BK Nr 1303 (Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol) und schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 20 vH.

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Dagegen schätzte Dr P. in seiner Stellungnahme vom 21. Oktober 1996 die MdE auf 30 vH und wies darauf hin, dass eine neue BK (BK Nr 1317) in Vorbereitung sei. In seiner Stellungnahme vom 7. Januar 1997 wandte Dr Q. ua ein, dass die Expositionshöhe nicht bekannt sei. Der Umstand, dass wesentliche Beschwerden erst nach Ende der Exposition aufgetreten seien, spreche gravierend gegen einen ursächlichen Zusammenhang, ebenso das anfallsartige Auftreten. Im weiteren Verlauf ermittelte die Beklagte weiterhin zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen (Bericht des Dipl.-Ing. K. vom 5. März 1997: typische Messergebnisse aus der Lackiererei von 1980 - 1985) und holte den Bericht der I. vom 28. September 1988 ein.

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1998 erlitt der Kläger eine Herzerkrankung, deshalb musste die wegen des Vorliegens neuer Unterlagen erforderliche weitere Begutachtung zunächst verschoben werden. In dem Gutachten von Prof Dr O. vom 21. Mai 1999 (mit neuropsychologischem Gutachten des Dipl.-Psych. R. vom 17. März 1999) wies der Gutachter darauf hin, dass der Befund "Durchblutungsstörungen im Hirnstamm" nicht gesichert sei. Die beim Kläger bestehende kognitive Symptomatik sowie die Antriebs- und Affektstörungen seien typisch für eine diffuse Hirnschädigung, wie sie auch nach toxischen Einflüssen beschrieben werde. Auf Anregung von Dr Q. ermittelte die Beklagte weiter zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen (Bericht des Dipl.-Ing. S. vom 9. September 1999: durchschnittliche Konzentrationen oder eine Aussage zur Häufigkeit von Spitzenwerten können auch aus den Originalmessergebnissen nicht abgeleitet werden) und holte das arbeitsmedizinische Gutachten von Prof Dr T./Dr U. vom 6. Juli 2000 ein. Bei der gutachterlichen Untersuchung gab der Kläger an, es sei Ende der 80er Jahre am Arbeitsplatz wiederholt zu Übelkeit und Schwindel gekommen. Bei Lösemittelkontakt habe er sich wohler gefühlt. Die Fremdanamnese seiner Ehefrau ergab, dass ihr seit mehreren Jahren Persönlichkeitsveränderungen aufgefallen seien, der Kläger sei vermehrt gereizt, insbesondere in arbeitsfreien Zeiten. Bei beruflichem Kontakt zu Lösungsmitteln sei er weniger gereizt gewesen. Die Gutachter diagnostizierten ein organisches Psychosyndrom bzw ein pseudoneurasthenisches Syndrom mit kognitiven Funktionseinschränkungen. Bei den testpsychologischen Untersuchungen waren die Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistungen deutlich eingeschränkt. Diese Einschränkungen seien im Zusammenhang mit Lösungsmittelexposition verschiedentlich nachgewiesen worden. Dennoch müssten sie als relativ unspezifisch interpretiert werden. Abzuklären sei, ob auch eine Depression bestehe. Die geplante psychiatrische Begutachtung konnte nicht durchgeführt werden, weil dem Kläger der Weg wegen seiner Herzerkrankung zu weit war. Nach der Auffassung der Gutachter ist eine BK Nr 1317 nicht wahrscheinlich, weil insgesamt mehr gegen als für einen Zusammenhang spreche. Für einen Zusammenhang sprächen das typische Krankheitsbild, die langjährige Exposition und das Auftreten unspezifischer Krankheitssymptome unter bestehender Exposition. Dagegen sprächen die ermittelte Höhe der Belastung, die fehlende Abgrenzung einer depressiven Erkrankung und der Krankheitsverlauf.

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Mit Bescheid vom 22. Februar 2001 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK Nr 1317 ab. Beim Kläger bestehe eine unspezifische Erkrankung des zentralen Nervensystems, die in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehe (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2001).

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Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig hat das SG die Unterlagen von Dr L. beigezogen und das arbeitsmedizinische Gutachten von Prof Dr V./Dr W. vom 11. Juni 2003 eingeholt. Bei der Untersuchung hat der Kläger angegeben, er habe seit dem Ereignis 1988 einen dicken Kopf, seitdem habe er wiederholt Kopfschmerzen und Schwindelanfälle, sei wiederholt beim Werksarzt gewesen und habe erstmals seit 1988 eine Vergesslichkeit bemerkt. Bei der Arbeit sei ihm wiederholt schlecht geworden, rauschähnliche Zustände seien jedoch nicht eingetreten. Die Sachverständigen diagnostizierten eine diffuse Hirnfunktionsstörung mit Einschränkung von kognitiver und mnestischer Fähigkeit. Vor dem Hintergrund der arbeitstechnischen Ermittlungen seien die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt. Der Zusammenhang sei auch unwahrscheinlich: Die Beschwerdesymptomatik müsse während des Expositionszeitraums auftreten, hier lägen keine eindeutigen Belege vor, die Krankheitsauszüge wiesen keine relevante Diagnose aus, die Vorsorgeuntersuchungen seien unauffällig gewesen. Allein die anamnestischen Angaben (Schwindel und Kopfschmerzen seit 1974) wären mit einer BK Nr 1317 zu vereinbaren. Allerdings fehlten wichtige anamnestische Hinweise wie Alkoholintoleranz und häufig pränarkotische Symptome im unmittelbaren Zusammenhang mit der Exposition (Benommenheit, Trunkenheit, Müdigkeit, Übelkeit, Brechreiz, aber auch Zustände von Euphorie), die die Annahme von lösemittelexpositionsbedingten Beschwerden stützen könnten. Im Rahmen der psychiatrischen Zusatzuntersuchung durch Prof Dr X./Dr Y. vom 14. Januar 2003 (mit neuropsychologischem Zusatzgutachten von Prof Dr Z. vom 29. Dezember 2002) fielen im Gespräch eine Einschränkung des Kurzzeitgedächtnisses und eine Herabsetzung der Konzentrationsfähigkeit auf. Klinisch und testpsychologisch seien Einschränkungen der kognitiven und mnestischen Fähigkeiten nachweisbar. Die Symptome seien vereinbar mit einer diffusen Hirnschädigung.

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Außerdem hat das SG auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das arbeitsmedizinisch-internistische Gutachten von Prof Dr AA./Dr AB. vom 9. Dezember 2004 eingeholt. Dort gab der Kläger an, während der Lackiertätigkeit sei ihm manchmal schwindlig geworden, etwa fünf- bis sechsmal in den 25 Jahren. Manchmal habe er beim Lackieren auch Kopfschmerzen gehabt. Er habe schon vorher seit 1985/1986 leichte Schwächeanfälle gehabt, auch Kribbeln in den Beinen und Missempfindungen im Gesicht. Seit dem Kollaps 1988 habe er eine Verschlechterung des Gedächtnisses und der Konzentrationsleistung sowie Kopfschmerzen (dicker Kopf) bemerkt. Die dazu befragte Ehefrau hat angegeben, der Kläger habe sich schon seit Mitte der 70er Jahre verändert, die Gedächtnislücken und das Durcheinanderbringen seien ihr schon damals aufgefallen. Die Sachverständigen diagnostizierten ein hirnorganisches Psychosyndrom. Von besonderer Bedeutung sei, dass die Arbeitshandschuhe des Klägers von Lösungsmitteln häufiger durchfeuchtet waren, dh eine zusätzlich perkutane Aufnahme stattgefunden habe. Es handele sich deshalb um eine rechtserhebliche Lösungsmittelbelastung über eine Dauer von 25 Jahren. Wissenschaftlicher Konsens bestehe darin, dass mindestens 10 Jahre andauernde erhebliche Lösungsmittelbelastungen während der Exposition oder innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr nach Expositionsende zu einer leichten, allenfalls mittelgradig ausgeprägten hirnorganischen Symptomatik führen könnten. Die Erkrankung 1988 sei keine Folge einer Lösungsmittelintoxikation. Diese könnte aber ebenfalls eine hirnorganische Symptomatik erklären. Es kristallisierten sich somit zwei potentielle Ursachen der Encephalopathie heraus. Die Schadstoffbelastung sei Mitursache, wenn eine ausreichende Exposition stattgefunden habe. Das müsse das Gericht entscheiden. Bei Berücksichtigung einer (kumulativen) mindestens 10-jährigen grenzwertüberschreitenden inhalativen und einer zusätzlichen 25-jährigen perkutanen Lösungsmittelbelastung, dem Auftreten einer Symptomatik während der Exposition und dem Einsetzen einer hirnorganischen Symptomatik wie Vergesslichkeit bereits vor dem Ereignis 1988 sei eine BK Nr 1317 gegeben. Die MdE betrage dann seit 12. Juli 1988 20 vH.

12

Das SG hat das Gutachten von Dr AC. vom 7. März 2005 nach Aktenlage eingeholt. Der Sachverständige hat eine BK Nr 1317 verneint. Wegen der Voruntersuchungen, die alle zu dem gleichen Ergebnis kamen, sei zweifelsfrei von Einschränkungen der Gedächtnisfunktion, der Konzentration, der Aufmerksamkeit und in dem Bereich der exekutiven Funktionen auszugehen. Das Beschwerdebild sei vereinbar mit dem Vorliegen einer lösungsmittelinduzierten Encephalopathie. Es sei aber keine relevante Exposition belegbar. Außerdem sei die 1988 aufgetretene Durchblutungsstörung des Hirnstamms ein wesentlicher außerberuflicher Risikofaktor bzw Ursache für die noch geklagte Beschwerdesymptomatik.

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Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger das Schreiben von Dr AD. vom 23. März 2005 vorgelegt, in dem dieser eine BK Nr 1317 bejaht. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 31. März 2005 abgewiesen: Beim Kläger bestehe zwar eine Encephalopathie, es lasse sich aber kein Zusammenhang mit seiner Tätigkeit herstellen. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien nicht bewiesen. Außerdem spreche die Hirnstammdurchblutungsstörung dagegen.

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Gegen dieses am 8. April 2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12. April 2005 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiter verfolgt.

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Der Kläger beantragt,

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1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 31. März 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2001 aufzuheben,

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2. festzustellen, dass eine bei ihm diagnostizierte Encephalopathie Folge einer Berufskrankheit Nr 1317 der Anlage zur BKV ist,

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3. die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente in Höhe von mindestens 20 vH der Vollrente zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 31. März 2005 zurückzuweisen.

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Im vorbereitenden Verfahren sind Unterlagen von Dr AD. und von Dr L. beigezogen worden. Außerdem ist das neurologisch-neuropsychologische Gutachten von Prof Dr AE. vom 30. März 2008 nebst ergänzender Stellungnahme vom 13. Juni 2009 eingeholt worden.

22

Der Sachverständige ist anders als die vorbefassten Gutachter und Sachverständigen zu der Auffassung gekommen, dass die beim Kläger bisher auf dem Boden von testpsychologischen Befunden postulierte Encephalopathie in nicht unerheblichem Maße durch aggravierendes/simulierendes Verhalten erklärt werden kann. Die testpsychologische Untersuchung des Klägers ergebe zahlreiche Auffälligkeiten, die nicht als Folge einer hirnorganischen Erkrankung interpretiert werden könnten. Es sei möglich, dass eine gewisse Beeinträchtigung von höheren Hirnfunktionen vorhanden sei. Diese lasse sich aber nicht von den vorhandenen Antwortverzerrungstendenzen abgrenzen. Keiner der früheren Gutachter und Sachverständigen habe Testverfahren verwendet, die eine Aggravation/Simulation aufdecken können.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, des Vorbringens der Beteiligten und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

Entscheidungsgründe

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Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente, weil sich nicht feststellen lässt, dass bei ihm eine BK Nr 1317 der Anlage zur BKV (Polyneuropathie oder Encephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) vorliegt.

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1. Es steht nicht im Sinne des nach den Grundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen Vollbeweises fest, dass beim Kläger eine in der BK Nr 1317 genannten Erkrankungen besteht. Eine Polyneuropathie ist bei den zahlreich durchgeführten Untersuchungen und Begutachtungen von keinem Arzt diagnostiziert worden. Darauf hat Prof Dr AE. in seiner ergänzenden Stellungnahme zu Recht hingewiesen. Eine Encephalopathie ist ebenfalls nicht bewiesen. Eine toxische Encephalopathie äußert sich durch diffuse Störungen der Hirnfunktion. Konzentrations- und Merkschwächen, Auffassungsschwierigkeiten, Denkstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oft mit Antriebsarmut, Reizbarkeit und Affektstörungen stehen im Vordergrund (vgl. dazu Merkblatt zu der BK Nr 1317, abgedruckt bei Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, III. Krankheitsbild und Diagnose). Der psychopathologische Befund muss durch psychologische Testverfahren objektiviert werden, die das Alter des Patienten berücksichtigen. Wichtige anamnestische Hinweise sind Alkoholintoleranz und häufige pränarkotische Symptome im unmittelbaren Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition (Benommenheit, Trunkenheit, Müdigkeit, Übelkeit, Brechreiz, aber auch Zustände von Euphorie). Im vorliegenden Fall ist indes eine Encephalopathie nicht durch aussagekräftige Untersuchungsbefunde nachgewiesen. Dies ergibt sich aus dem schlüssigen Gutachten des Prof Dr AE ... Aufgrund der Tendenz des Klägers zur Antwortverzerrung kann eine sichere Aussage zu neurokognitiven Funktionsstörungen nicht getroffen werden. Es ist lediglich möglich, dass eine gewisse Beeinträchtigung höherer Hirnfunktionen vorhanden ist. Diese lässt sich aber nicht von den vorhandenen Antwortverzerrungen abgrenzen. Eine bloße Möglichkeit reicht aber zur Anerkennung einer BK nicht aus. Prof Dr AE. hat darauf aufmerksam gemacht, dass Messdaten aus testpsychologischen Untersuchungen auch von der Mitarbeit des Untersuchten abhängig sind und durch bewusste oder unbewusste Aggravation oder Simulation manipuliert werden können. Der Patient müsse in den ihm vorgelegten Aufgaben nur etwas langsamer reagieren, sich vermeintlich etwas weniger erinnern oder etwas weniger Aufgaben lösen. Patienten mit aus Hirnverletzungen resultierenden neurokognitiven Funktionsstörungen zeigten spezifische Muster bei der Testdiagnostik, die sich von simulierten oder verdeutlichten Funktionsdefiziten unterscheiden. Simulierende Probanden verfügten meist nicht über hinreichende Kenntnisse, um komplexe neuropsychologische Syndrommuster psychometrisch stimmig darzustellen und diese gleichzeitig plausibel mit ihren vorgetragenen Beschwerden und beobachtbarem Verhalten abzugleichen. Die im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung durchgeführte testpsychologische Untersuchung des Klägers ergab zahlreiche Punkte, die nicht als Folgen einer hirnorganischen Erkrankung interpretiert werden können, sondern für ein antwortverzerrendes Verhalten sprechen (vgl. dazu die Aufstellung der Punkte a.) bis g.) unter der Überschrift "Nachweis von simulierendem Verhalten beim Untersuchten"). Es liegen damit Hinweise vor, die zusammengefasst eindeutig für eine nicht optimale Mitarbeit des Klägers sprechen und eine Aggravation/Simulation belegen. Entgegen der Ansicht des Klägers ist der Senat nicht an der Verwertung dieses Gutachtens gehindert. Auch wenn Prof Dr AE. dem Kläger im Gespräch nur einige Fragen gestellt und die testpsychologische Untersuchung nicht persönlich durchgeführt hat, liegt kein Verstoß gegen § 407a Abs 2 ZPO vor. Nach dieser Vorschrift ist der Sachverständige zwar nicht befugt, den Auftrag auf einen anderen zu übertragen. Er kann sich aber der Mitarbeit einer anderen Person bedienen, diese hat er namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben, falls es sich nicht um Hilfsdienste von untergeordneter Bedeutung handelt. Ein unverwertbares Gutachten liegt erst dann vor, wenn die Grenze der erlaubten Mitarbeit überschritten ist. Dies ist der Fall, wenn aus Art und Umfang der Mitarbeit eines anderen Arztes gefolgert werden kann, der beauftragte Sachverständige habe seine - das Gutachten prägenden und regelmäßig in einem unverzichtbaren Kern von ihm selbst zu erbringenden - Zentralaufgaben nicht selbst wahrgenommen, sondern delegiert (BSG Beschlüsse vom 17. November 2006 - B 2 U 58/05 B; 30. Januar 2006 - B 2 U 358/05 B und vom 15. Juli 2004 - B 9 V 24/03 B, SozR 4-1750 § 407 a Nr 2). Davon kann hier nicht die Rede sein.

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Der Sachverständige Prof Dr AE. hat im Gutachten vom 30. März 2008 angezeigt, dass die testpsychologische Untersuchung von Frau Dipl Psych AF. vorgenommen und gemeinsam mit ihm ausgewertet wurde. Aufgrund der Fragestellung (Vorliegen einer Encephalopathie) bestand die nunmehr gerügte Untersuchung allein aus der Anwendung verschiedener Testverfahren, die im Gutachten im Einzelnen beschrieben werden. Die Durchführung derartiger Tests gehörte nicht zum Kern der von dem Sachverständigen persönlich zu leistenden Aufgabe. Diese bestand vielmehr in der Auswertung der während des gesamten Verfahrens erhobenen und beigezogenen Befunde und in der Beantwortung der Frage, ob Gesundheitsschäden bestehen, die sich mit der beruflichen Tätigkeit des Klägers in einen ursächlichen Zusammenhang bringen lassen. Dieser Aufgabe ist der Sachverständige nachgekommen. Den erforderlichen Umfang der Untersuchung kann der Kläger als medizinischer Laie nicht beurteilen. Dies gilt auch für die Frage, ob und in welche Richtung die von ihm geforderten Pausen die Testergebnisse beeinflusst hätten.

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Entgegen der Ansicht des Klägers ist Prof Dr AE. nicht der einzige Gutachter, der Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Klägers hat: Nach den Angaben des Psychiaters N. ergab sich insgesamt eine deutliche Diskrepanz zwischen den geklagten bzw demonstrierten Beschwerden und den objektivierbaren bzw nachvollziehbaren Befunden. Bei der Untersuchung durch Prof Dr O. war die Mitarbeit während der Testdurchführung nicht immer in ausreichendem Maße zu beurteilen. Es fiel auf, dass die kognitiven Leistungen in den Untertests rechnerisches Denken, allgemeines Verständnis, Gemeinsamkeitenfinden oder Figurenlegen und Zahlen-Symbol-Test sehr niedrig ausfielen, dass andererseits diese gravierenden Defizite bei der orientierenden Untersuchung nicht in diesem Maße zu erkennen waren. Auch Dipl-Psych. R. hat im neuropsychologischen Zusatzgutachten vom 17. März 1999 darauf hingewiesen, dass der Kläger der Untersuchung zunächst eher ablehnend gegenübertrat (wieder der Idiotentest) und zunächst auch wenig anstrengungsbereit schien. Auch der neuropsychologischen Untersuchung durch Prof Dr Z. stand der Kläger eher ablehnend gegenüber (schon wieder der Idiotentest). Auch Prof Dr AG. haben mitgeteilt, dass bei der Lungenfunktionsprüfung nur eine eingeschränkte Mitarbeit zu verzeichnen war. Der Einsatz von Verfahren zur Diagnostik von Antwortverzerrungen ist im vorliegenden Fall auch methodisch nicht ausgeschlossen. Denn die Lebensführung des Klägers (selbstständiges Ausführen des Hundes, selbstständiges Durchführen von Gartenarbeiten) und seine detaillierten Aussagen bei den Begutachtungen sprechen gegen eine schwerwiegende Demenz, bei der Tests zur Antwortverzerrung nur mit Einschränkung einsetzbar wären (erg. Stellungnahme Prof. Dr. AE.).

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Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht deshalb, weil andere Gutachter und Sachverständigen hirnorganische Veränderungen bejahen und von einer Encephalopathie ausgehen. Denn diese Gutachten überzeugen den Senat insoweit nicht. Der Psychiater N. hat eine hirnorganische Leistungsfunktionsstörung (pseudoneurasthenisches Syndrom) diagnostiziert. Er hat aber keine eigenen Befunde - erst recht keine Testergebnisse - mitgeteilt, die diese Diagnose belegen. Er hat sich vielmehr auf den Bericht der I. aus dem Jahr 1989 bezogen, in dem von einer passageren Stammhirndurchblutungsstörung ausgegangen wird. Auch letztere Diagnose ist jedoch nach den Ausführungen von Prof Dr AE. nicht gesichert, weil Kopfschmerzen, Ohrensausen und vor allem Atemnot nicht zu dieser Diagnose passen. Prof Dr O. weist im Gutachten vom 18. Mai 1996 ausdrücklich darauf hin, dass Diskrepanzen zwischen den vom Kläger geklagten Beschwerden und den objektivierbaren Hirnleistungsveränderungen bestehen. Es überzeugt deshalb nicht, wenn er die Diagnose "toxische Encephalopathie" eben mit diesen - wenig aussagekräftigen - Testergebnissen begründet und diese - eher vorsichtig und als nur fragliche Diagnose zu verwerten - als Hinweise bezeichnet "dass Hirnleistungsveränderungen vorhanden sind, die mit der Annahme einer hirnorganisch bedingten Veränderung der cerebralen Informationsverarbeitung vereinbar sind". Im Gutachten vom 21. Mai 1999 ist er dem Hinweis nicht nachgegangen, dass der Kläger erneut bei der neuropsychologischen Untersuchung wenig anstrengungsbereit war. Die Untersuchungen durch Prof Dr O. schlossen keine Verfahren ein, die es gestattet hätten, eine Aggravationstendenz oder Simulationstendenz nachzuweisen. Darauf hat Prof Dr AE. zu Recht hingewiesen. Prof Dr AH. haben ein organisches Psychosyndrom bzw ein pseudoneurasthenisches Syndrom unklarer Genese mit kognitiven Funktionseinschränkungen (Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistungen) diagnostiziert. Sie haben zwar ausgeführt, dass eine Simulation des Klägers nicht erkennbar gewesen sei. Nach den Ausführungen von Prof Dr AE. ist es allerdings schwierig bzw unmöglich, eine Antwortverzerrung ohne Anwendung von speziellen Verfahren nachzuweisen. Einschlägige Gedächtnistests wurden jedoch bei der Untersuchung nicht durchgeführt, gleichwohl eine Störung der entsprechenden Funktionen unterstellt. Der beratende Arzt der Beklagten Dr Q. hat die Diagnose von Prof Dr AH. übernommen, da er sich für nur eingeschränkt kompetent hält, die psychologischen Tests zu beurteilen (Stellungnahme vom 22. Juli 1999). Bei der neuropsychologischen Untersuchung durch Prof Dr Z., die dem Gutachten von Prof Dr AI. zugrunde lag, wurden ebenfalls keine Testverfahren verwendet, die eine Aggravation/Simulation aufdecken könnten. Außerdem wurde die Plausibilität der beobachteten kognitiven Minderleistungen (demgegenüber im Wortpaaretest (mnestische Fähigkeiten) "erstaunlicherweise" ein durchschnittliches Ergebnis) nicht durch klinische Überlegungen geprüft. Darauf hat Prof Dr AE. hingewiesen. Auch Prof Dr AA./Dr AB. haben keine ausreichenden Untersuchungen durchgeführt. Die Sachverständigen haben zudem selbst auf eingeschränkte Untersuchungsbedingungen (technische Gründe) hingewiesen und nicht hinreichend erklärt, wieso sich gleichwohl "insgesamt" Hinweise für eine erworbene hirnorganische Leistungseinschränkung ergeben haben sollen. Dr AC. hat sein Gutachten nach Aktenlage erstellt. Er geht nur deshalb von Einschränkungen der Gedächtnisfunktion, der Konzentration, der Aufmerksamkeit und in dem Bereich der exekutiven Funktionen aus, weil die zahlreichen Voruntersuchungen/Vorbegutachtungen hinsichtlich des medizinischen Beschwerdebildes letztlich alle zu dem gleichen Ergebnis kamen. Eine eigene kritische Prüfung der Schlüssigkeit der Vorgutachten enthält das Gutachten des Sachverständigen nicht.

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2. Da schon das Vorliegen des erforderlichen Krankheitsbildes nicht bewiesen ist, musste der Senat nicht aufklären, ob die Exposition des Klägers gegenüber Lösemitteln in der Lackiererei (1963 bis 1987) geeignet war, eine solche Erkrankung zu verursachen. Die Auswertung der vorliegenden Unterlagen ergibt allerdings, dass auch die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung einer BK Nr 1317 zu verneinen wären: Nach den Ermittlungen des TAD der Beklagten ergaben die Messergebnisse aus der Lackiererei von 1980 bis 1985, dass die Grenzwerte zum größten Teil deutlich unterschritten wurden. Nach den Ausführungen des Dipl.-Ing. K. vom 5. März 1997 sind diese Messungen auch repräsentativ für den Zeitraum ab 1963, da sich in dieser Zeit nichts Grundlegendes geändert habe. Die Messungen seien in Kabinen mit Absaugung personenbezogen vor der Aktivkohlefiltermaske durchgeführt worden, so dass die Exposition deutlich niedriger anzunehmen sei. Der Kläger hat gegenüber Dipl.-Ing. K. angegeben, den Atemschutz immer getragen zu haben. Biologisches Material des Klägers, das Aufschluss über die Menge der von seinem Körper aufgenommenen Stoffe geben könnte, liegt nicht vor. Aus den vorliegenden Unterlagen lassen sich auch keine anamnestischen Hinweise auf eine relevante Exposition gegenüber Lösungsmitteln entnehmen. Solche Hinweise wären Alkoholintoleranz und häufige pränarkotische Symptome in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition (Benommenheit, Trunkenheit, Müdigkeit, Übelkeit, Brechreiz aber auch Zustände von Euphorie). Nach den arbeitsmedizinischen Untersuchungen (1977 bis 1987) war der Kläger für die Tätigkeit geeignet. Erst die Untersuchung "Lärm" am 8. April 1987 ergab gesundheitliche Bedenken. Dies war nach den Angaben des Klägers vom 29. November 1994 auch der Grund für die Umsetzung Ende Oktober 1987. Es liegen keine Angaben über Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers wegen neurologischer Krankheitsbilder vor (Aufstellung der BKK F. über den Zeitraum 1966 bis 1994). Ärztliche Unterlagen aus den Jahren 1963 bis 1987 liegen nicht mehr vor. Dr AD. (Schreiben vom 23. März 2005 und 27. November 2006) kennt den Kläger erst seit 1988. Dr L. hat in seinen Schreiben vom 20. Februar 1995 und 24. Mai 2002 zwar über eine 25-jährige Behandlung berichtet. Diese ist aber im Wesentlichen von seinem Vater als Praxisvorgänger durchgeführt worden. Er führt zwar auch Beschwerden wie Schwindelanfälle, Vergesslichkeit und Kopfschmerzen an, daraus lässt sich aber nicht entnehmen, dass diese Beschwerden gehäuft während der Exposition gegenüber Lösungsmitteln auftraten. Dies ergibt sich zudem auch nicht durchgängig aus den anamnestischen Angaben des Klägers gegenüber den Gutachtern und Sachverständigen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.