Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 03.12.2019, Az.: 2 Ws 352/19/19

Schwere des Vollstreckungsverfahrens entscheidend für Notwendigkeit der Beiordnung eines Verteidigers; Betreuung nur Indiz für fehlende Verteidigungsfähigkeit

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
03.12.2019
Aktenzeichen
2 Ws 352/19/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 54982
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2019:1203.2WS352.19.2WS355.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 30.10.2019 - AZ: 79 StVK 141/19
LG Hannover - 30.10.2019 - AZ: 79 StVK 142/19
LG Hannover - 30.10.2019 - AZ: 79 StVK 143/19
LG Hannover - 30.10.2019 - AZ: 79 StVK 144/19

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Der Umstand, dass der Verurteilte unter rechtlicher Betreuung steht, stellt für das Erfordernis der Beiordnung eines Verteidigers lediglich ein Indiz dar, das für sich allein genommen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung nicht zu begründen vermag. Vielmehr ist erforderlich, dass kumulativ noch weitere Gesichtspunkte hinzukommen.

  2. 2.

    Eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ergibt sich nicht allein aus dem Umstand, dass die Justizvollzugsanstalt im Rahmen des Verfahrens nach § 57 Abs. 1 StGB nacheinander mehrere divergierende Prognoseeinschätzungen abgegeben hat.

Tenor:

Die Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Vorsitzenden der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover vom 30. Oktober 2019 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Gründe

Die Beschwerde des Verurteilten richtet sich gegen den Beschluss des Vorsitzenden der 3. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover vom 30. Oktober 2019, mit dem dieser den Antrag auf Beiordnung der Rechtsanwältin F. als Pflichtverteidigerin zurückgewiesen hat.

I.

Der Verurteilte verbüßt seit dem 25. Oktober 2017 drei Gesamtfreiheitsstrafen von drei Monaten und zwei Wochen, einem Jahr und einem Jahr und neun Monaten sowie eine Freiheitsstrafe von vier Monaten im Wege der Anschlussvollstreckung in der JVA H.. Der gemeinsame Zweidritteltermin wird am 9. Januar 2020 erreicht sein, das Strafende ist auf den 24. Februar 2021 notiert.

Mit Schreiben vom 27. August 2019 beantragte er, die Vollstreckung der Reste der zeitigen Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen und ihm seine Wahlverteidigerin als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Die JVA H. befürwortete in ihrer Stellungnahme vom 11. September 2019 zunächst eine vorzeitige bedingte Entlassung zum 9. Januar 2019. Durch Schreiben vom 20. September 2019 teilte sie jedoch mit, dass der Verurteilte bei dem Versuch angetroffen worden sei, eine Urinprobe zu manipulieren. Sämtliche Lockerungen seien widerrufen und der Verurteilte aus dem offenen in den geschlossenen Vollzug verlegt worden. Einer vorzeitigen Entlassung werde aktuell nicht mehr zugestimmt.

Auf Hinweis der Strafvollstreckungskammer vom 19. September 2019 erklärte die Verteidigerin mit Schriftsatz vom 24. September 2019, dass eine Reststrafenaussetzung zum gemeinsamen Zweidritteltermin ausreichend sei. Bereits am 26. September 2019 beantragte der Verurteilte jedoch erneut, ihm seine Wahlverteidigerin analog § 140 StPO beizuordnen.

Durch weitere Stellungnahme vom 25. Oktober 2019 teilte die JVA H. nunmehr mit, dass eine vorzeitige Entlassung im Sinne des § 57 Abs. 1 StGB nur in Betracht komme, wenn der Verurteilte im Anschluss an die Entlassung umgehend die ambulante Behandlung in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in L. fortführe.

Mit Beschluss vom 30. Oktober 2019 lehnte der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer nach Anhörung der Staatsanwaltschaft den Beiordnungsantrag ab. Weder die Schwere der Tat noch die Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage ließen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen. Keiner der jeweiligen Strafreste belaufe sich über ein Jahr. Es seien keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass der Verurteilte in seiner Verteidigungsfähigkeit beschränkt sein könnte. Zuletzt habe er unter dem 17. Oktober 2019 eigenständig eine Strafvollzugseingabe verfasst.

Hiergegen richtete sich die Beschwerde des Verurteilten vom 5. November 2019, mit der er erstmals vortragen ließ, dass er unfähig sei, seine Verteidigung selbst vorzunehmen. Er befinde sich in ärztlicher Behandlung der Institutsambulanz der Psychiatrie L.. Überdies sei eine gesetzliche Betreuung eingerichtet, die u.a. den Aufgabenkreis Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten umfasse. Vor diesem Hintergrund sei es ihm nicht möglich, seine verfahrensgemäßen Rechte selbst wahrzunehmen.

Durch Beschluss vom 6. November 2019 half der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer der Beschwerde nicht ab. Der Verurteilte sei grundsätzlich zur Wahrnehmung seiner Interessen in der Lage, wie sein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Ablösung aus dem offenen Vollzug beispielhaft zeige.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Beschluss des Landgerichts Hannover vom 30. Oktober 2010 aufzuheben und dem Verurteilten Rechtsanwältin F. als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Im Rahmen einer Gesamtschau der Umstände sei von einem Fall der notwendigen Verteidigung auszugehen. Neben dem Umstand, dass dem Verurteilten eine Vollverbüßung von Freiheitsstrafen, die in der Summe die Dauer von einem Jahr überschritten, in Aussicht stehen dürfte, komme erschwerend hinzu, dass aufgrund der unstreitig bestehenden Betreuung des Verurteilten jedenfalls Zweifel an seiner Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, geboten seien. Allein, dass der Verurteilte sich im Einzelfall ausweislich seiner Strafvollzugseingabe gegenüber dem Gericht zu äußern in der Lage sei, vermöge die grundsätzlich bestehenden Zweifel nicht zu beheben.

II.

Die gemäß § 304 StPO statthafte Beschwerde ist zulässig, in der Sache führt sie jedoch nicht zum Erfolg.

Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verteidigers entsprechend § 140 Abs. 2 StPO im derzeit anhängigen Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung über die bedingte Entlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der zu vollstreckenden (Gesamt-)Freiheitsstrafen sind vorliegend nicht erfüllt.

Im Vollstreckungsverfahren ist in entsprechender Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere der Tat oder die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage bzw. die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, dies gebieten. Es ist insoweit allerdings nicht auf die Schwere oder die Schwierigkeit im Erkenntnisverfahren, sondern auf die Schwere des Vollstreckungsfalles für den Verurteilten oder auf besondere Schwierigkeiten der Sach- oder Rechtslage im Vollstreckungsverfahren abzustellen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 140 Rn. 33 m.w.N.). Die drei vorgenannten Merkmale sind einschränkend zu beurteilen, weil im Vollstreckungsverfahren in weitaus geringerem Maße als im Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Verurteilten besteht (vgl. BVerfG NJW 2002, 2773 [BVerfG 02.05.2002 - 2 BvR 613/02]).

Bei der Entscheidung, ob im Strafvollstreckungsverfahren wegen der Schwere des Vollstreckungsfalles ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, haben die Dauer der zu vollstreckenden Strafe sowie der Strafrest außer Betracht zu bleiben (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 07.06.2012- 1 Ws 234/12 -; OLG Hamm, StraFo 2002, 29 [OLG Hamm 17.04.2001 - 2 Ws 85/01]; OLG Celle, Beschluss vom 10.09.2019 - 2 Ws 258/19 -). Es ist unerheblich, dass dem Verurteilten bis zur Vollverbüßung noch ein Strafrest von mehr als einem Jahr droht.

Eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass vorliegend drei divergierende Einschätzungen der Vollzugsanstalt vorliegen und die Staatsanwaltschaft(-en) bislang keine abschließende Stellungnahme abgegeben haben. Zwar können eine unterschiedliche Beurteilung der Sach- oder Rechtslage sowie Schwierigkeiten bei der Ermittlung des zugrunde zu legenden Sachverhalts grundsätzlich die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich machen (vgl. Thomas/Kämper in: MüKo, 1. Aufl. 2014, StPO, § 140 Rn. 41). Hier beruhen jedoch die voneinander abweichenden prognostischen Einschätzungen der JVA H. auf dem Vorwurf, dass der Verurteilte versucht habe, eine Urinprobe zu manipulieren. Dieser im Vollzugsalltag keineswegs unübliche Vorwurf stellt keine tatsächliche oder rechtliche Komplikation dar, der nur durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers begegnet werden könnte.

Die Verteidigungsfähigkeit des Verurteilten richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen. Unfähigkeit zur Selbstverteidigung liegt immer dann vor, wenn der Verurteilte nicht in der Lage ist, seine Interessen selbst zu wahren oder zumindest erhebliche Zweifel an seiner Eignung hierzu bestehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, SPO, 61. Aufl. 2018, § 140, Rn. 30). Der Umstand, dass der Verurteilte unter rechtlicher Betreuung steht, stellt insoweit lediglich ein Indiz dar, das für sich allein genommen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Wahrnehmung der eigenen Interessen nicht zu begründen vermag. Vielmehr ist erforderlich, dass kumulativ noch weitere Gesichtspunkte wie etwa ein fortgeschrittenes Lebensalter des Verurteilten, eine erhebliche psychiatrische Erkrankung (z.B. hirnorganischer Abbau, intellektuelle Minderbegabung oder eine dissoziale Persönlichkeitsstörung), eine Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt für den Aufgabenkreis Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten oder aber die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt hinzukommen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14.08.2003 - 2 Ss 439/03 -; Beschluss vom 30.08.2000 - 2 Ws 201/00 -; Beschluss vom 05.11.1999 - 2 Ws 325/99 -). Solche Umstände liegen hier nicht vor.

Im Übrigen wird die Annahme einer ausreichenden Verteidigungsfähigkeit des Verurteilten dadurch gestützt, dass er in seinem selbst verfassten Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen seine Ablösung aus dem offenen Vollzug vom 17. Oktober 2019 den komplexen Sachverhalt in sich schlüssig darstellen, die bedeutsamen Gesichtspunkte darstellen und mit Daten belegen konnte. Dass dieses Schreiben von einer anderen Person verfasst worden sei und deshalb nicht ergänzend herangezogen werden könnte (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 05.10.2012 - 1 Ws 405/12 -), lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.

Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).