Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 28.11.2019, Az.: 2 AR 15/19
Erlass eines Sicherungshaftbefehls; Offensichtlich unzulässiger oder unbegründeter Antrag
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 28.11.2019
- Aktenzeichen
- 2 AR 15/19
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 51364
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
- § 56f Abs. 1 Nr. 2 StPO
Fundstelle
- StV 2020, 511
Amtlicher Leitsatz
Eine Befassung im Sinne des § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO liegt bereits dann vor, wenn beim Gericht ein Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Sicherungshaftbefehls gem. § 453c StPO eingeht. Dies gilt selbst dann, wenn der Antrag unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist.
Tenor:
Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover ist für die Entscheidung über den Antrag der Staatsanwaltschaft Stade vom 12. Juni 2018, die durch Strafbefehl des Amtsgerichts Geestland vom 26. April 2016, Geschäftszeichen 4a Cs 152 Js 3670/16, gewährte Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, zuständig.
Gründe
I.
Durch den seit dem 03. Oktober 2017 rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts Geestland vom 26. April 2016 im Verfahren 4a Cs 152 Js 3670/16 wurde gegen den Angeklagten wegen Betruges in 9 Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Mit Bewährungsbeschluss vom selben Tage wurde die Bewährungszeit auf 3 Jahre festgesetzt und dem Verurteilten aufgegeben, während der Bewährungszeit jeden Wechsel seiner Wohnung oder jeden nicht nur kurzzeitigen Wechsel seines Aufenthaltes dem Gericht unter Angabe des Geschäftszeichens sofort unaufgefordert schriftlich mitzuteilen.
Mit Vermerk vom 23. Oktober 2017 teilte die Polizeiinspektion C. mit, die bekannte Meldeanschrift des Verurteilten sei aufgrund zweier zu vollstreckender Haftbefehle aufgesucht worden; der Verurteilte sei dort offenkundig nicht mehr wohnhaft, sein Aufenthaltsort unbekannt. Der Verurteilte wurde zudem von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet.
Vor diesem Hintergrund beantragte die Staatsanwaltschaft Stade bereits am 23. November 2017 den Erlass eines Sicherungshaftbefehls, weil der Verurteilte in die Illegalität abgetaucht sei und gegen die Meldeauflage verstoße. Einen Antrag auf Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung formulierte die Staatsanwaltschaft zunächst nicht.
Das Amtsgericht Geestland erließ daraufhin am 05. Dezember 2017 den beantragten Sicherungshaftbefehl gem. § 453c StPO. Der Verurteilte wurde am 05. Juni 2018 festgenommen und der JVA H. zugeführt. Ausweislich des am 13. Juni 2018 zu den Akten gelangten Vollstreckungsblattes verbüßte er zunächst eine widerrufene Freiheitsstrafe von 2 Monaten aus einer Verurteilung vom 29. November 2016 wegen Diebstahls. Im Anschluss war eine 5-monatige Freiheitsstrafe aus einer Verurteilung durch das Amtsgericht Hannover vom 06. Juni 2018 notiert, wobei die dieser Verurteilung zugrundeliegenden Taten in der Bewährungszeit begangen wurden und die dem Verfahren zugrundeliegende Antragsschrift der Staatsanwaltschaft Hannover am 12. Juni 2018 zum Bewährungsheft gelangte. Im Vollstreckungsblatt waren sodann weitere Ersatzfreiheitsstrafen sowie die Sicherungshaft aus dem Haftbefehl des Amtsgerichts Geestland vom 05.12.2017 notiert.
Am 12. Juni 2018 beantragte die Staatsanwaltschaft Stade fernmündlich, die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, da der Verurteilte beharrlich gegen seine Meldeauflage verstoßen habe (vgl. Bl. 29R). Am selben Tage wurde der Verurteilte in die JVA S. verlegt.
Mit Beschluss vom 28. Juni 2018 hob das Amtsgerichts Geestland den Sicherungshaftbefehl vom 05. Dezember 2017 auf. In der Folgezeit ersuchte das Amtsgericht Geestland zunächst das Landgericht Hildesheim um mündliche Anhörung des Verurteilten zum beantragten Bewährungswiderruf; nachdem das Landgericht Hildesheim auf die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover gem. § 462a StPO hingewiesen hatte, ersuchte das Amtsgericht Geestland die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover um Übernahme der Bewährungsaufsicht, was diese indes ablehnte.
Der Verurteilte wurde schließlich am 05. November 2018 in die JVA C. verlegt, woraufhin das Amtsgericht Geestland die weiteren nach § 453 StPO zu treffenden Entscheidungen gem. § 462a Abs. 1 StPO am 15. August 2019 an die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle abgab, die die Bewährungsaufsicht durch Beschluss vom 29. August 2019 übernahm und mit Beschluss vom 05. November 2019 die weiteren nach § 453 StPO zu treffenden Entscheidungen gem. § 462a Abs. 1 StPO wiederum an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover abgab.
Mit Verfügung vom 15. November 2019 lehnte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover die Übernahme erneut ab, weil die einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigenden Umstände erst am 12. Juni 2018 und damit zu einem Zeitpunkt bekannt geworden seien, als sich der Verurteilte bereits in der JVA S. befunden habe.
Mit Verfügung vom 19. November 2019 hat die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle die Akten dem Senat zur Bestimmung der Zuständigkeit gem. § 14 StPO vorgelegt hat.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt zu beschließen, dass das Landgericht Hannover für die Nachtragsentscheidung zuständig sei.
II.
Der Senat ist gemäß § 14 StPO als gemeinsames oberes Gericht der Landgerichte Lüneburg und Hannover zur Entscheidung über den negativen Kompetenzkonflikt berufen.
III.
Für die Entscheidung über den Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft Stade vom 21.12.2018 ist die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover zuständig.
Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine Befassung im Sinne des § 462a Abs. 1 S.1 StPO vor, wenn Tatsachen aktenkundig werden, die eine Entscheidung - hier die über die Frage des Widerrufs der Bewährung aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Geestland vom 26. April 2016 - unter Umständen erforderlich machen (vgl. statt vieler BGH v. 19.06.2013 - 2 ARs 227/13, NStZ-RR 2013, 390 [BGH 19.06.2013 - 2 ARs 227/13; 2 AR 156/13]).
Zwar weist die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover zutreffend darauf hin, dass die Verurteilung durch das Amtsgericht Hannover vom 06. Juni 2018 sowie der Umstand, dass die der Verurteilung zugrundeliegenden Taten in der Bewährungszeit begangen wurden, erstmals am 12. Juni 2018 und damit zu einem Zeitpunkt aktenkundig wurden, als sich der Verurteilte nicht mehr in der JVA H. befand. Bis zur Verlegung des Verurteilten von der JVA H. in die JVA S. am 12. Juni 2018 wurden zudem keine Hinweise auf andere, innerhalb der Bewährungszeit begangene Straftaten aktenkundig. Bis zu diesem Zeitpunkt war lediglich bekannt geworden, dass der Verurteilte unbekannten Aufenthaltes war und dem Amtsgericht Geestland als bewährungsaufsichtsführendem Gericht seine postalische Erreichbarkeit nicht bekannt gegeben hatte. Der Hinweis der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover, eine Strafaussetzung zur Bewährung allein deshalb komme "nicht ernsthaft in Betracht", findet in der Rechtsprechung, in der bereits die bewährungsrechtliche Einordnung einer Anweisung der Wohnsitzwechselanzeige äußerst umstritten ist (vgl. hierzu: einerseits OLG Köln, Beschluss vom 28. März 2006 - 2 Ws 123/06 -, juris, OLG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 21. Januar 2008 - 1 Ws 44/08 -, juris; a.A.: Senat, Beschluss vom 24.9.2003 - 2 Ws 328/03, NStZ 2004, 627; vgl. auch OLG Frankfurt, Beschluss vom 29.6.2007 - 3 Ws 624/07, NStZ 2009, 39; Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, StGB § 56c Rn. 6), jedenfalls teilweise Bestätigung.
Der Senat kann vorliegend indes sowohl die bewährungsrechtliche Einordnung einer Anweisung der Wohnsitzwechselanzeige offenlassen, als auch die Frage, ob das Verhalten des Verurteilten, seinen Aufenthaltsort und seine Erreichbarkeit für das Gericht zu verschweigen, einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 56f Abs. 1 Nr. 2 StGB rechtfertigen könnte, denn ein Gericht ist mit einer Frage im Sinne des § 462a StPO bereits immer dann befasst, wenn ein Antrag eingeht, der eine gerichtliche Tätigkeit veranlasst (BGH, Beschluss vom 08. Dezember 2016 - 2 ARs 5/16 -, juris; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 462a, Rn. 16; BGH, Beschluss vom 15. Oktober 1975 - 2 ARs 296/75 -, BGHSt 26, 214-217). Dies gilt selbst dann, wenn der Antrag unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist (KK-StPO/Appl, 8. Auflage 2019, StPO, § 462a, Rn. 18; OLG Hamm, Beschluss vom 06. Juni 2013 - III-3 Ws 117/13 -, juris; BGH, 18. Februar 1999, 2 ARs 94/99; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01. Oktober 1981 - 5 Ws 159/81 -, juris).
Hieran gemessen lag bereits mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft Stade vom 23.11.2017 auf Erlass eines Sicherungshaftbefehls gegen den Verurteilten ein "Befasstsein" im Sinne von § 462a StPO vor. Daran vermag der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft zunächst keinen Widerrufsantrag stellte, sondern diesen erst am 12. Juni 2018 fernmündlich formulierte, als der Verurteilte bereits in der JVA S. aufgenommen worden war, nichts zu ändern, denn der beantragte Sicherungshaftbefehl gem. § 453c StPO setzt voraus, dass der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht (Meyer/Goßner-Schmitt, 62. Auflage 2019, § 453c, Rn. 3; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, aaO, § 453c, Rn. 5). Mithin ist bereits aus dem Antrag auf Erlass eines Sicherungshaftbefehls eindeutig ersichtlich, dass die Staatsanwaltschaft bereits zum damaligen Zeitpunkt einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung für erforderlich erachtete. Dies ergibt sich auch aus dem Umstand, dass der später am 12. Juni 2018 formulierte Widerrufsantrag allein auf den Verstoß gegen die Anweisung der Wohnsitzwechselanzeige gestützt wurde. Ferner veranlasste der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Sicherungshaftbefehls auch eine gerichtliche Tätigkeit im Hinblick auf den etwaigen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, denn das Amtsgericht musste sich angesichts dessen zwangsläufig auch mit den Voraussetzungen des § 56f StGB auseinandersetzen. Dieser Verpflichtung ist das Amtsgericht auch nachgekommen und hat den von der Staatsanwaltschaft begehrten Sicherungshaftbefehl erlassen und diesen allein auf den unbekannten Aufenthalt des Verurteilten und seine fehlende Erreichbarkeit für das Gericht gestützt.
Mit Aufnahme des Verurteilten zur Verbüßung von Strafhaft in der JVA H. vom 05. Juni 2018 war mithin die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover mit dem im Raum stehenden Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung befasst. Da ein Zuständigkeitswechsel zu einer anderen Strafvollstreckungskammer so lange nicht eintritt, wie jene Strafvollstreckungskammer noch nicht abschließend über die Frage befunden hat, mit der sie befasst wurde, bevor der Verurteilte in eine zum Bezirk der anderen Strafvollstreckungskammer gehörende Justizvollzugsanstalt aufgenommen worden ist (vgl. BGH v. 14.08.1981 - 2 ARs 174/81, NJW 1981, 2776), lassen die späteren Verlegungen des Verurteilten in die Justizvollzugsanstalten S. und C. die Zuständigkeit des Landgerichts Hannover für den beantragten Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung unberührt.
Hinsichtlich des weiteren Verfahrens weist der Senat darauf hin, dass die Entscheidung über den bereits vor fast eineinhalb Jahren gestellten Antrag auf Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nunmehr äußerst zeitnah zu treffen sein wird, denn die das Strafverfahrensrecht beherrschende Beschleunigungsmaxime gilt grundsätzlich auch im Vollstreckungsverfahren (vgl. Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, aaO, § 449 Rn 6), so dass über den Widerruf der Strafaussetzung unverzüglich zu befinden ist (Senat, Beschluss vom 20. November 2018, 2 Ws 443/18; Fischer, StGB, 66. Auflage 2019, § 56f Rn. 19). Dabei wird das Landgericht Hannover auch über den bislang nicht beschiedenen Beiordnungsantrag des Verteidigers (vgl. Bl. 209) zu befinden haben.