Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 10.09.2019, Az.: 2 Ws 258/19

Parallele Zuständigkeiten bei Jugendstrafe und Strafhaft

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
10.09.2019
Aktenzeichen
2 Ws 258/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 44554
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Lüneburg - 12.08.2019 - AZ: 164 BRs 21/19

Fundstelle

  • StV 2020, 701

Amtlicher Leitsatz

1. Die Vollstreckung von Jugendstrafe ist keine Vollstreckung von Freiheitsstrafe im Sinne des § 462a Abs. 1 S. 1 StPO und begründet auch dann nicht die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, wenn sie im Erwachsenenvollzug erfolgt.

2. Wird neben einer Jugendstrafe aus einer weiteren Verurteilung eine Freiheitsstrafe vollstreckt, so besteht eine parallele Zuständigkeit des Jugendrichters als Vollstreckungsleiter und der Strafvollstreckungskammer. Die Zuständigkeit des Jugendrichters endet erst mit Abgabe gem. § 89a Abs. 3 JGG, § 85 Abs. 6 JGG oder vollständiger Vollstreckung der Jugendstrafe.

Tenor:

1. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg vom 12.08.2019, mit dem der Widerruf der Strafaussetzung angeordnet wurde, wird als unbegründet verworfen.

2. Die Beschwerde des Verurteilten gegen die Versagung der Pflichtverteidigerbeiordnung in dem Bewährungswiderrufsverfahren vor dem Landgericht Lüneburg wird als unzulässig verworfen.

3. Die Kosten der Beschwerdeverfahren hat der Verurteilte zu tragen.

Gründe

I.

Der Verurteilte war durch Urteil des Amtsgerichts Norderstedt vom 22.10.2015 wegen (vorsätzlichen) Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Urteil wurde am 30.10.2015 rechtskräftig.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Norderstedt vom 03.11.2015 wurde die Bewährungsaufsicht aufgrund eines Wohnungswechsel an das Amtsgericht Hamburg-Harburg abgegeben.

Im Jahr 2017 erfolgten vier Nachverurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, überwiegend zu Freiheitsstrafen, wobei die Tatzeiten jeweils innerhalb der Bewährungszeiten lagen.

Zudem wurden zwischen dem 06.11.2017 und dem 05.09.2018 acht neue Anklagen, teilweise wegen einschlägiger Taten, durch verschiedene Staatsanwaltschaften erhoben. Das Amtsgericht Hamburg erließ am 17.10.2018 einen Untersuchungshaftbefehl, das Amtsgericht Buxtehude am 23.10.2018 einen Haftbefehl nach § 230 StPO gegen den Verurteilten.

Am 12.11.2018 beantragte die Staatsanwaltschaft Kiel in der vorliegenden Bewährungssache unter Bezugnahme auf einen Widerrufsantrag vom 24.07.2018, der sich nicht bei den Akten befindet, den Erlass eines Sicherungshaftbefehls. Mit Verfügung vom 29.11.2018 gab das Amtsgericht Hamburg-Barmbek das Bewährungsverfahren an das Amtsgericht Norderstedt "zurück", da der Verurteilte nicht mehr in H. aufhältig sei.

Der Verurteilte wurde aufgrund eines Vollstreckungshaftbefehls der Staatsanwaltschaft Hamburg vom 20.12.2018 zur Vollstreckung von 10 Monaten Jugendstrafe aus einem Urteil des Amtsgerichts Meppen vom 28.04.2015, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt, mittlerweile aber widerrufen worden war, am 10.01.2019 festgenommen und zur Verbüßung der Jugendstrafe in die UHA H. aufgenommen.

Am 25.01.2019 erließ das Amtsgericht Norderstedt den beantragten Sicherungshaftbefehl.

Am 26.02.2019 - rechtskräftig seit diesem Tag - erkannte das Amtsgericht Buxtehude gegen den Verurteilten wegen Betruges u.a. (Tatzeit der letzten Tat: 12.01.2017) unter Einbeziehung früherer Entscheidungen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten.

Am 05.03.2019 wurde der Verurteilte nach bis dahin ununterbrochenem Vollzug der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Meppen in der UHA H. in die JVA U. überführt. Ausweislich des Vollstreckungsblatts der JVA U., Stand 06.03.2019, erfolgte die Vollstreckung der Jugendstrafe bis zum 02.05.2019 und erfolgt seitdem die Vollstreckung von Strafhaft, zunächst aus Urteilen des Amtsgerichts Hamburg-Harburg vom 26.01.2015 und 01.10.2015.

In der Folge hob das Amtsgericht Norderstedt den Sicherungshaftbefehl auf und bestimmte Termin zur Anhörung des Verurteilten auf den 25.04.2019. Am 09.04.2019 legitimierte sich die Verteidigerin für das Bewährungsverfahren und beantragte ihre Beiordnung. Am 11.04.2019 hob das Amtsgericht Norderstedt den Termin auf und gab das Verfahren zur Entscheidung über den Widerruf an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg ab, da gegen den Verurteilten gegenwärtig Strafhaft vollstreckt werde. Mit Beschluss vom 17.04.2019 lehnte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg die Übernahme ab, da sich der Verurteilte ab dem 10.01.2019 in Strafhaft in der UHA H. befunden habe. Infolgedessen sei die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hamburg gemäß § 462a StPO für die Entscheidung über den Widerruf zuständig geworden und dies auch geblieben. Mit Beschluss vom 24.05.2019 gab das Amtsgericht Norderstedt das Bewährungsverfahren mit dem Hinweis, dass die Vollstreckung von Jugendstrafe nicht zur Zuständigkeitskonzentration bei der Strafvollstreckungskammer gemäß § 462a StPO führe, erneut an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg ab.

Nach nunmehr erfolgter Übernahme des Bewährungsverfahrens mit Beschluss vom 16.07.2019 räumte die Kammer dem Verurteilten und seiner Verteidigerin Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme zum beabsichtigten Widerruf der Strafaussetzung ein, wovon die Verteidigerin des Verurteilten mit Schriftsatz vom 31.07.2019 Gebrauch machte.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 12.08.2019 hat die Kammer die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen, da die Verurteilung durch das Amtsgericht Buxtehude vom 26.02.2019 gezeigt habe, dass die mit der Strafaussetzung verbundene Erwartung sich nicht erfüllt habe (§ 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB).

Den Beiordnungsantrag der Verteidigerin hat die Kammer abgelehnt, da weder die Schwere der Tat noch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage eine Beiordnung der Verteidigerin im Vollstreckungsverfahren gebieten würden.

Hiergegen richtet sich das einheitlich als sofortige Beschwerde bezeichnete Rechtsmittel des Verurteilten.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die sofortige Beschwerde gegen die Widerrufsentscheidung und die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrags auf Beiordnung jeweils als unbegründet zu verwerfen.

II.

1. Die nach § 454 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde ist unbegründet.

a. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg war gemäß § 462a Abs. 1 S. 1 StPO für die Entscheidung zuständig.

(1) Insbesondere ergab sich aus dem Umstand, dass sich der Verurteilte vom 10.01.2019 bis zum 05.03.2019 während des Vollzug der Jugendstrafe im (örtlichen) Zuständigkeitsbereich der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hamburg befunden hat, keine (ggf. fortwirkende) Zuständigkeit der dortigen Strafvollstreckungskammer, da Jugendstrafe - wie das Amtsgericht Norderstedt und die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg zutreffend feststellen - keine Freiheitsstrafe im Sinne des § 462a Abs. 1 S. 1 StPO darstellt.

Im Falle der Vollstreckung von Jugendstrafe ist Vollstreckungsleiter der Jugendrichter, der nach §§ 82 Abs. 1 S. 2, 110 Abs. 1 JGG die Aufgaben wahrnimmt, die nach der StPO die Strafvollstreckungskammer erledigt (BGHSt 26, 162 = NJW 1975, 1846; 27, 25 = MDR 1977, 418; NStZ 1997, 255). Dies gilt auch, wenn die Jugendstrafe im Erwachsenenvollzug vollstreckt wird (BGHSt 27, 329). Wird - wie hier - neben der Jugendstrafe aus einer weiteren Verurteilung Freiheitsstrafe vollstreckt, wird die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer erst begründet, wenn mit der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im Sinne des § 462a Abs. 1 S. 1 StPO begonnen wird (BGHSt 28, 351; BGH, BGH NStZ-RR 2007, 190). Dies führt ab diesem Zeitpunkt zu einer parallelen Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer und des Jugendrichters als Vollstreckungsleiter im Hinblick auf die jeweilige Strafvollstreckung, die hinsichtlich des Jugendrichters entweder mit vollständiger Verbüßung der Jugendstrafe oder mit Abgabe der Vollstreckungsleitung nach § 89a Abs. 3 JGG, § 85 Abs. 6 JGG (BeckOK StPO/Coen, 34. Ed. 1.7.2019, StPO § 462a Rn. 20) endet.

(2) Mit Beginn der Vollstreckung von Strafhaft ab dem 03.05.2019 - und daher nicht im Zeitpunkt der ersten Abgabe durch das Amtsgericht Norderstedt am 11.04.2019, weshalb die Strafvollstreckungskammer jene Übernahme im Ergebnis zu Recht ablehnte - wurde die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg zunächst gemäß § 462a Abs. 1 S: 1 StPO für die Entscheidungen in den Verfahren begründet, in denen gegen den Verurteilten Freiheitsstrafe vollstreckt wird. Nach dem Konzentrationsgrundsatz des § 462a Abs. 4 S. 3 StPO wurde die Strafvollstreckungskammer aber damit nicht nur für die Entscheidungen im Rahmen der Vollstreckung der Strafe, die der Verurteilte in ihrem Bezirk verbüßt, sondern auch für die Bewährungsüberwachung und die insoweit zu treffenden Entscheidungen hinsichtlich sonstiger ausgesetzter Strafen oder Strafreste zuständig (vgl. BGH, Beschluss. v. 15. 10. 2003 - 2 ARs 334/03; BGH NStZ 2001, 165 [BGH 22.11.2000 - 2 ARs 328/00]; 1984, 380). Mithin ergab sich ab dem 03.05.2019 die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, die auch die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung in dem vorliegenden Verfahren umfasste.

b. Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB lagen offensichtlich vor. Der Verurteilte ist in der laufenden Bewährungszeit vielfach erneut straffällig geworden. Mildere Maßnahmen als der Widerruf hat das Landgericht zu Recht als nicht ausreichend erachtet.

Dem Widerruf steht nicht entgegen, dass die nicht verlängerte Bewährungszeit aus dem Bewährungsbeschluss des Amtsgerichts Norderstedt vom 22.10.2015 im Zeitpunkt der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer bereits abgelaufen war. Zwar kann der Ablauf der Bewährungszeit einem Widerruf der Strafaussetzung wegen einer in der Bewährungszeit begangen Tat entgegenstehen, wenn bei dem Verurteilten durch den Zeitablauf ein schutzwürdiger Vertrauenstatbestand geschaffen wurde, der dem Widerruf entgegensteht (vgl. BeckOK StGB/Heintschel-Heinegg, 42. Ed. 1.5.2019, StGB § 56f Rn. 24; MüKoStGB/Groß, 3. Aufl. 2016, StGB § 56f Rn. 38 mwN.) Vorliegend fehlt es aber bereits an dem erforderlichen zeitlichen Moment, da im Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung erst deutlich weniger als ein Jahr seit Ablauf der Bewährungszeit verstrichen war. Zudem ist der Verurteilte über die Möglichkeit des Widerrufs im Falle erneuter Straffälligkeit belehrt worden. Aufgrund der Vielzahl der Nachverurteilungen und der weiteren erhobenen Anklagen stand ihm daher die naheliegende Möglichkeit einer Widerrufsentscheidung klar vor Augen; auf Vertrauensschutz kann er sich insoweit nicht berufen.

2. Die Beschwerde gegen die Versagung der Beiordnung der Verteidigerin ist unzulässig.

Eine nachträgliche rückwirkende Verteidigerbestellung für das im Rechtszug abgeschlossene Verfahren ist unzulässig (BGH NStZ-RR 2009, 348; BGH Beschuss vom 27.04.1989, 1 StR 627/88; OLG Celle, Beschlüsse vom 12.12.2018, 2 Ws 461/18 und vom 24.07.2012, 2 Ws 196/12; KG Berlin, Beschluss vom 09.03.2006, 1 AR 1407/05 - 5 Ws 563/05).

Die Verteidigerbestellung erfolgt im Straf- und Strafvollstreckungsverfahren nicht im Kosteninteresse des Angeklagten oder Verurteilten, sondern dient allein dem Zweck, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dieser Zweck kann nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens nicht mehr erreicht werden, da es keine zu erbringende Verteidigungstätigkeit mehr gibt, auf die sich die mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger entstehende öffentlich-rechtliche Pflicht zum Tätigwerden beziehen könnte. (OLG Celle, Beschluss vom 28.08.2018, 3 Ws 142/18; vgl. KG Berlin, Beschluss vom 09.03.2006, 1 AR 1407/05 - 5 Ws 563/05).

Mithin fehlt es dem Verurteilten an dem Rechtsschutzbedürfnis für eine Beschwerde gegen die angefochtene Ablehnungsentscheidung des Landgerichts.

Die Beschwerde wäre im Übrigen aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung auch unbegründet. Die Sach- und Rechtslage ist übersichtlich. Bei der Entscheidung, ob im Strafvollstreckungsverfahren wegen der Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, hat die Dauer der nach einem Bewährungswiderruf zu vollstreckenden Strafe außer Betracht zu bleiben (OLG Celle, Beschluss vom 07.06.2012 - 1 Ws 234/12 OLG Hamm, StraFo 2002, 29 [OLG Hamm 17.04.2001 - 2 Ws 85/01]).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.

Gegen diesen Beschluss ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).