Sozialgericht Braunschweig
Beschl. v. 21.09.2011, Az.: S 47 SF 320/09 E
Terminsgebühr wird bei Erledigung des Verfahrens durch Erlass eines Widerspruchsbescheides nicht bewilligt; Bewilligung einer Terminsgebühr bei Erledigung des Verfahrens durch Erlass eines Widerspruchsbescheides
Bibliographie
- Gericht
- SG Braunschweig
- Datum
- 21.09.2011
- Aktenzeichen
- S 47 SF 320/09 E
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 29297
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGBRAUN:2011:0921.S47SF320.09E.0A
Rechtsgrundlagen
- § 14 Abs. 1 S. 1, 3, 4 RVG
- § 197 Abs. 2 SGG
Tenor:
Die Erinnerung gegen den Beschluss des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (UdG) vom 10. Juli 2009 wird zurückgewiesen. Diese Entscheidung ist endgültig.
Gründe
I.
Streitig ist die Höhe der Gebühren nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) für die Durchführung einer Untätigkeitsklage.
Die vier Erinnerungsführer (Kläger) erhoben Untätigkeitsklage, nachdem der Erinnerungsgegner (Beklagter) einen Antrag auf Rücknahme eines Bescheides nicht rechtzeitig beschieden hatte (Aktenzeichen S 19 AS 437/09 des Sozialgerichts Braunschweig). Der Beklagte erließ den beantragten Bescheid und erkannte sein Pflicht zur Tragung der Kosten dem Grunde nach an. Der Bevollmächtigte erklärte das Verfahren für erledigt, nahm das Kostenanerkenntnis an und machte folgende Kosten geltend: Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 Vergütungsverzeichnis zum RVG (VVRVG) 120,00 EUR Erhöhung nach Nr. 1008 VV RVG 108,00 EUR Terminsgebühr nach Nr. 3106 Ziffer 3 VV RVG 60,00 EUR Entgelt für Post- und Telekommunikationsleistungen nach Nr. 7002 VV RVG 20,00 EUR 19% Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG 58,52 EUR Summe 366,52 EUR. Der Erinnerungsgegner erhielt die Erledigungserklärung und die Kostenrechnung zur Kenntnis und wurde nicht zur Stellungnahme aufgefordert. Er äußerte sich nicht. Mit Beschluss vom 10. Juli 2009 setzte der UdG folgende Gebühren fest: Verfahrensgebühr, Nr. 3102, 1008 VV RVG 76,00 EUR Auslagenpauschale, Nr. 7002 VV RVG 15,20 EUR 19% Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG 17,33 EUR Summe 108,53 EUR. Die Bewilligung einer Terminsgebühr lehnte der UdG ab, weil sich das Verfahren bereits durch Erlass des Widerspruchsbescheides erledigt habe und die Annahme eines Anerkenntnisses weder notwendig gewesen sei noch vorgelegen habe. Hiergegen richtet sich die Erinnerung, mit der der Bevollmächtigte seine aufwendige Recherche in Rechtsprechung und Literatur und die Bedeutung der Angelegenheit hervorhebt. Der Erinnerungsgegner erhielt den Beschluss nur zur Kenntnis und nicht zur Stellungnahme übersandt und äußerte sich nicht.
II.
Die Erinnerung ist nach § 197 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, jedoch nicht begründet. Die angegriffene Entscheidung ist nicht zu beanstanden. Höhere als die von dem UdG festgesetzten Gebühren stehen den Erinnerungsführern für ihren Bevollmächtigten nicht zu.
Bei Rahmengebühren bestimmt der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers, nach billigem Ermessen. Bei Rahmengebühren, die sich nicht nach dem Gegenstandswert richten, ist das Haftungsrisiko nach § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG zu berücksichtigen. Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, so ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs.1 Satz 4 RVG nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung hier unbillig.
1.
Nach einer neueren Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) soll die Billigkeit der anwaltlichen Gebührenbestimmung zwar in§ 14 Abs. 1 Satz 1 RVG ein anspruchsbegründendes Merkmal der anwaltlichen Gebührenforderung sein, nicht jedoch im Rahmen des § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG. Hier sei vielmehr die Unbilligkeit eine Einwendung des Dritten. Folglich trage nicht der Rechtsanwalt, sondern der Dritte die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass es an der Billigkeit fehle (Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 216/10 - Rn 14 - zitiert nach [...]). Äußert sich der erstattungspflichtige Dritte nach Kenntnis der Gebührenforderung nicht, soll der Urkundsbeamte im Kostenfestsetzungsverfahren anscheinend jeder eigenen Prüfung enthoben und gezwungen sein, die geltend gemachten Kosten festzusetzen. Diese Auffassung überzeugt nicht.
1.1.
Selbst wenn auch im sozialgerichtlichen Kostenfestsetzungsverfahren nach § 197 SGG der Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz und nicht der Untersuchungs- und Amtsermittlungsgrundsatz gelten sollte, kann die Darlegungs- und Beweislast nur beweisbedürftige Tatsachen betreffen. Die unbestimmten Rechtsbegriffe der Billigkeit und der Unbilligkeit zählen nicht zu diesen Tatsachen und unterliegen daher nicht der Dispositionsbefugnis der Verfahrensbeteiligten, sondern sind vom Urkundsbeamten und im Erinnerungsverfahren vom Richter stets zu prüfen (vgl. Beschluss des Sozialgerichts - SG - Berlin vom 27. Juli 2011 - S 165 SF 6502/10 E - Rn 7 - mit weiteren Nachweisen - zitiert nach [...]). Auch aus der negativen Fassung des § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG ("nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist") ist zu schließen, dass die Unbilligkeit vom Urkundsbeamten oder dem Gericht dargetan werden muss und dass die erforderlichen Tatsachen von Amtswegen ermittelt werden müssen (SG Berlin a. a. O unter Hinweis auf von Eicken/Hellstab, Die Kostenfestsetzung, 20. Aufl. 2011, F 112; so bereits zum gleichlautenden § 12 Abs. 1 Satz 2 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung - BRAGO - Gerold/Schmidt, BRAGO, 15. Aufl. 2002, § 12 Rn 6 - Seite 282).
1.2.
Schließlich hat das Gericht auch ohne (beweiserhebliche) Einwendungen stets zu prüfen, ob der Kostenfestsetzungsantrag hinsichtlich der Kostenberechnung, des Akteninhaltes und des Tatsachenvortrages, des Entstehens und der Gebühren und Auslagen sowie der Notwendigkeit der Kosten im Sinne der § 193 Abs. 2 SGG im Hinblick auf die die Billigkeit schlüssig begründet ist (SG Berlin a.a.O. - Rn 8 - unter Hinweis auf Eicken/Hellstab, Die Kostenfestsetzung, 20. Aufl. 2011, A 18 und D 67). Auf die Schlüssigkeitsprüfung kann auch bei fehlenden Einwendungen des Antragsgegners nicht verzichtet werden (a.a.O.). Die Anforderungen an die Schlüssigkeitsprüfung können hierbei im umgekehrten Verhältnis zu der Erheblichkeit der Einwendungen stehen (a.a.O.). Selbst wenn Einwendungen des Dritten vollständig fehlen, muss stets geprüft werden, ob die geltend gemachten Kosten wegen erheblicher Überschreitung der Toleranzgrenze offensichtlich unbillig sind (a.a.O. mit weiteren Nachweisen). Diese Prüfung ist insbesondere dann erforderlich, wenn die nach den Kriterien des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG nicht nachvollziehbare Kostenforderung entweder nicht im Einzelfall begründet oder zur vermeintlichen Begründung lediglich ein regelmäßig benutzter Mustervordruck eingereicht wird. Dies ist hier der Fall.
2.
Unbilligkeit im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG liegt nach der in der Rechsprechung und Literatur weit überwiegenden Auffassung dann vor, wenn die von dem Rechtsanwalt geforderte Gebühr um mehr als 20 vom Hundert von der Gebühr abweicht, die nach Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung der Kriterien des§ 14 RVG angemessen erscheint. Nach der zutreffenden Entscheidung des UdG weicht die hier geforderte Gebühr um weit mehr als 20 vom Hundert von der objektiv angemessenen Gebührenhöhe ab. Der Toleranzgesichtspunkt dient ausschließlich der Feststellung, ob zwischen der vom Rechtsanwalt bestimmten Gebühr und der vom Gericht für angemessen erachteten eine Differenz von mehr als 20 vom Hundert feststellbar ist. Ist dies der Fall, so muss die vom Gericht für angemessen gehaltene Gebühr nach den Maßstäben des § 14 RVG unabhängig von der Bestimmung des Anwalts festgelegt werden. Mit der Festsetzung einer Verfahrensgebühr nach Nr. 3102, 1008 VV RVG in Höhe von insgesamt 108,53 EUR hat der UdG den Kriterien des § 14 RVG zutreffend Rechnung getragen.
2.1.
Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sind bei Untätigkeitsklagen in der Regel im Vergleich zu fast allen anderen Rechtstreitigkeiten weit unterdurchschnittlich zu gewichten. Das anwaltliche Bemühen beschränkt sich auch unter Berücksichtigung eines Vorgesprächs vor Erhebung der Klage allein auf die Frage, ob ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes nach § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG ohne zureichenden Grund innerhalb der Frist von sechs Monaten sachlich nicht beschieden worden ist oder über einen Widerspruch innerhalb der gemäß § 88 Abs. 2 SGG als angemessen angesehenen Frist von drei Monaten nicht entschieden worden ist. In beiden Fällen sind Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit besonders gering ausgeprägt, zumal in der Regel bereits der Fristablauf für sich gesehen ausreicht, um eine zulässige Untätigkeitsklage zu erheben. Beschränkt sich die anwaltliche Tätigkeit auf das Einreichen eines ständig benutzten Musters einer Klageschrift, so ist der mit der Klagerhebung verbundene Aufwand für den Rechtsanwalt derart geringfügig, dass er mit der Mindestgebühr angemessen abgegolten ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die gesamte Tätigkeit des Anwalts im schlichten Ergänzen eines Vordrucks um einige Zahlen und/oder einer aus einem Satz bestehenden Klagebegründung besteht. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
2.2.
Der Prozessbevollmächtigte hat zur Klagebegründung einen Mustervordruck übersandt, der lediglich eingefügte Daten und allgemeine Ausführungen zu einem vermeintlichen Organisationsmangel bei der Beklagten enthält und im Übrigen keinen Bezug zum konkreten Fall erkennen lässt. Der mit dem Ausfüllen dieses Vordrucks verbundene Aufwand bewegt sich an der untersten Grenze des mit sozialgerichtlichen Klagen typischerweise verbundenen Arbeitsumfangs. Dies gilt auch für die tatsächliche und rechtliche Schwierigkeit der Klageerhebung, die kaum zu unterbieten ist.
2.3.
Die behauptete Auswertung von Literatur und Rechtsprechung in Kostensachen mit einem angeblichen Zeitaufwand von 90 Minuten ist für die Kostenfestsetzung schon deshalb bedeutungslos, weil nach § 197 SGG lediglich die Kosten der Hauptsache erstattungsfähig sind. Im Übrigen handelt es sich auch bei dem Erinnerungsschreiben um einen in einer Vielzahl von Verfahren immer wieder benutzten Vordruck. Hiernach ist nicht ersichtlich, welcher Zeitaufwand mit dem Ergänzen dieses Musters um einige Zahlen verbunden sein soll.
2.4.
Eine andere Beurteilung ist auch im Hinblick auf die Bedeutung der Angelegenheit sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Erinnerungsführers nicht angemessen. Insbesondere ist bei Untätigkeitsklagen nicht davon auszugehen, dass sich die Tatbestandsmerkmale Bedeutung der Angelegenheit einerseits sowie Einkommens- und Vermögensverhältnisse andererseits bei Anwendung des§ 14 Abs. 1 Satz 1 RVG ausgleichen. Eine derartige Kompensation der Merkmale kann zwar in einem die Hauptsache betreffenden Rechtsstreit dann angenommen werden, wenn es um konkrete Leistungen geht (Beschluss des Bundessozialgerichts - BSG - vom 1. Juli 2009 - B 4 AS 21/09 R - Rn 38 mit weiteren Nachweisen - zitiert nach [...]). Dies gilt jedoch nicht bei einer Untätigkeitsklage, deren Bedeutung für den Betroffenen im Ergebnis weitaus geringer als das sozialrechtliche Leistungsbegehren einzuschätzen ist und daher unterdurchschnittliche Einkommens- und Vermögensverhältnisse grundsätzlich nicht "kompensieren" kann. Schließlich ist auch ein besonderes Haftungsrisiko nicht ersichtlich. Eine höhere als die bereits festgesetzte Gebühr kommt hiernach nicht in Betracht.
3.
Zutreffend hat der UdG auch die Bewilligung einer Terminsgebühr abgelehnt. Auf die angefochtene Entscheidung und die dort zitierte Rechtsprechung und Literatur wird insoweit Bezug genommen.
Diese Entscheidung ist nach § 197 Abs. 2 SGG endgültig.