Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 05.04.2004, Az.: L 8 AL 240/03

Antragsfrist; Insolvenzereignis; Nachfrist; Obliegenheit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
05.04.2004
Aktenzeichen
L 8 AL 240/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50640
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 24.04.2003 - AZ: S 41 AL 289/01

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein Arbeitnehmer hat die Versäumung der Antrags- bzw Nachfrist bei der Beantragung von Insolvenzgeld zu vertreten, wenn er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung der Arbeitsentgeltansprüche bemüht hat. Bloße Nachfragen beim Arbeitgeber oder ein längeres Abwarten der Erfolglosigkeit einer Zwangsvollstreckung genügen hierfür nicht. Der Arbeitnehmer muss sich vielmehr bei anderen Stellen (zB Krankenkasse, Arbeitsamt, Insolvenzgericht) erkundigen, ob ein Insolvenzereignis eingetreten ist.

Hat der Arbeitnehmer eine dritte Person (beispielsweise einen Rechtsanwalt) mit der Durchsetzung seiner Arbeitsentgeltansprüche beauftragt, ist dessen Säumnis dem Arbeitnehmer zuzurechnen.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 24. April 2003 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

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Der Kläger begehrt Insolvenzgeld (Insg) für die Zeit vom 1. Dezember 1998 bis zum 28. Februar 1999.

2

Der 1926 geborene Kläger war ab 1. August 1998 als Heizungs- und Lüftungsbauermeister bei der Firma F. GmbH, G., bei einem Monatsgehalt von 4.270,00 DM brutto beschäftigt. Er hielt gleichzeitig 5 % Gesellschaftsanteile an der GmbH. Das Arbeitsverhältnis wurde am 2. März 1999 durch den Kläger fristlos wegen Gehaltsrückstände gekündigt. Nach einem Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts G. vom 8. Juni 1999 – H. – stehen ihm Gehaltsansprüche in Höhe von 21.350,00 DM brutto abzüglich 3.900,00 DM netto zu. Ein Vollstreckungsversuch vom 8. September 1999 blieb erfolglos. Der Geschäftsführer der Firma F. GmbH, I., leistete am 18. Januar 2000 vor dem Amtsgericht G. die eidesstattliche Versicherung über sein Vermögensverzeichnis (Blatt 144 Gerichtsakte). Ein am 29. November 1999 gestellter Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens der AOK J. wurde durch Beschluss des Amtsgerichts G. vom 11. September 2000 - K. - mangels Masse abgewiesen. Ein Insolvenzantrag des Klägers vom 30. März 2000 (Amtsgericht G. – L. -) war damit erledigt.

3

Am 20. März 2000 stellte der Kläger beim Arbeitsamt G. einen Antrag auf Insg für die Zeit Dezember 1998 – Februar 1999 und gab als Insolvenzereignis einen (angeblichen) Insolvenzeröffnungsbeschluss vom 18. Februar 2000 an. An diesem Tage hatte das Amtsgericht G. in dem durch die AOK J. eingeleiteten Verfahren einen Gutachtenauftrag zur Frage erteilt, ob ein Eröffnungsgrund vorliege. Im weiteren Verwaltungsverfahren bestritt die GmbH, dass der Kläger als Arbeitnehmer tätig gewesen sei. Der Kläger habe nur seinen Namen als Meister für den Eintrag in die Handwerkerrolle gegeben und dafür 1.200,00 DM als Entgelt erhalten. Der Arbeitsvertrag sei zum Schein abgeschlossen worden, weil die Handwerkskammer die vereinbarte Vergütung von 1.200,00 DM als zu gering angesehen habe. Der Kläger räumte ein, dass später aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten das Gehalt vorübergehend auf 1.200,00 DM netto reduziert worden sei. Er habe nicht nur seinen Namen zur Verfügung gestellt, sondern die Projekte als Meister begleitet und sei für die Betreuung des Auszubildenden verantwortlich gewesen.

4

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 26. Oktober 2000 und Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 2001 die Zahlung von Insg ab, weil der Kläger bei der Firma F. GmbH keine abhängige Arbeitnehmertätigkeit ausgeführt habe. An die Feststellungen im Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts G. sei sie nicht gebunden. Hiergegen wurde am 16. Juli 2001 Klage erhoben.

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Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat im Wege der Rechtshilfe beim SG Augsburg am 4. Februar 2003 den Geschäftsführer I. und den Auszubildenden M. zeugenschaftlich vernehmen lassen und mit Urteil vom 24. April 2003 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, es könne nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, dass der Kläger als Arbeitnehmer tätig gewesen sei. Die Vertragsbeziehung zwischen ihm und der Firma F. GmbH sei nicht durch die Erbringung weisungsgebundener Arbeit geprägt gewesen, sondern dadurch, dass der Geschäftsführer I. einen Konzessionsträger gebraucht habe.

6

Gegen das am 8. Mai 2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am 10. Juni 2003 (Pfingstdienstag) Berufung eingelegt. Er rügt eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung durch das SG. Vor einer Entscheidung nach Beweislastregeln sei zumindest die Beiziehung der Akten des Insolvenzgerichts erforderlich gewesen.

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Der Kläger beantragt,

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1. das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 24. April 2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juni 2001 aufzuheben,

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2. die Beklagte zu verurteilen, ihm Insolvenzgeld für die Zeit vom 1. Dezember 1998 bis 28. Februar 1999 zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

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Der Senat hat die Insolvenzverfahrensakte des Amtsgerichts G. – N. – beigezogen. Aus den Angaben des Arbeitgebers sowie aus dem Massegutachten des beauftragten Sachverständigen Dr.  O. vom 29. August 2000 geht hervor, dass die Firma F. GmbH im August 1999 ihren Betrieb vollständig eingestellt hat.

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Wegen des umfassenden Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie auf die durch die Beklagte vorgelegten den Insg-Antrag des Klägers betreffenden Vorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).

16

Die statthafte und im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG und die Beklagte haben im Ergebnis zutreffend Ansprüche des Klägers auf Insg aus einer eventuellen Beschäftigung bei der Firma F. GmbH verneint. Sein Antrag auf Insg war verfristet.

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Gemäß § 183 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) steht ein Anspruch auf Insg dem Arbeitnehmer zu, der bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen seines Arbeitgebers für die letzten der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt hat (Nr 1). Der Eröffnung des Insolvenzverfahrens stehen gleich die Abweisung des Antrages auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse (Nr 2) sowie die vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein solcher offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (Nr 3). Bei mehreren Insolvenzereignissen ist das kalendermäßig erste Ereignis maßgeblich, weil kein neues Insolvenzereignis iS des Insg-Rechts eintreten kann, solange die auf einem bestimmten Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit andauert (BSG SozR 4100 § 141b Nr 46; SozR 3-4100 § 141b Nr 3).

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Maßgebliches Insolvenzereignis ist vorliegend die vollständige Betriebseinstellung bei gleichzeitiger Masselosigkeit gemäß § 183 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB III, die am 16. August 1999 erfolgt ist. Der Geschäftsführer der GmbH hat gegenüber dem Amtsgericht G. angegeben (Blatt 55 Insolvenzakte), dass seit August 1999 keine Betriebstätigkeit mehr ausgeführt und die Betriebsräume im August 1999 aufgegeben wurden. Diese Angaben sind durch den beauftragen Sachverständigen Dr.  O. in seiner Stellungnahme vom 29. August 2000 mit dem Zusatz bestätigt worden, dass nach Auskunft des zuständigen Gerichtsvollziehers bereits zu diesem Zeitpunkt eine Reihe von gerichtlichen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen diverser Gläubiger vorgelegen hatten (Blatt 66 Insolvenzakte). Der letzte Beschäftigte bei der Firma F. GmbH war der Auszubildende M., dessen Ausbildungsvertrag am 16. August 1999 gekündigt wurde (Zeugenvernehmung M., Blatt 82 Gerichtsakte). Ab diesem Tage ist keine weitere Betriebstätigkeit durchgeführt worden. Eine Sperrwirkung durch Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestand zu diesem Zeitpunkt nicht. Die AOK J. hat erst am 29. November 1999 einen solchen Antrag gestellt.

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Insg ist innerhalb einer Ausschlussfrist von 2 Monaten nach dem Insolvenzereignis zu beantragen (§ 324 Abs 3 Satz 1 SGB III). Das ist hier unstreitig nicht geschehen, weil der Kläger erst am 20. März 2000 den Antrag auf Insg gestellt hat.

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Eine Nachfrist gemäß § 324 Abs 3 Satz 2 SGB III kann dem Kläger nicht gewährt werden. Nach dieser Vorschrift ist Insg zu leisten, wenn der Arbeitnehmer die zweimonatige Frist des Satz 1 aus Gründen versäumt hat, die er nicht zu vertreten hat; in diesen Fällen ist der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes zu stellen. Dabei hat der Arbeitnehmer die Versäumung der Frist zu vertreten, wenn er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat (§ 324 Abs 3 Satz 3 SGB III). Wird für einen Arbeitnehmer ein Rechtsanwalt tätig, ist ihm das Verschulden des Anwalts wie eigenes Fehlverhalten zuzurechnen, wenn dieser       – wie hier – außerhalb des Arbeitsgerichtsverfahrens mit der Durchsetzung der Arbeitsentgeltansprüche beauftragt war (BSG SozR 3-4100 § 141b Nr 2). Der Arbeitnehmer ist dann auf eventuelle Regressansprüche gegen seinen Anwalt zu verweisen (BSG SozR 3-4100 § 141e Nr 2).

21

Ein Arbeitnehmer bzw sein Anwalt haben die Versäumung der Antrags- bzw Nachfrist zu vertreten, wenn sie sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung der Arbeitsentgeltansprüche bemüht haben. Dabei genügen bloße Nachfragen beim Arbeitgeber oder ein längeres Abwarten der Erfolglosigkeit einer Zwangsvollstreckung nicht. Der Arbeitnehmer muss sich vielmehr bei anderen Stellen (zB Krankenkasse, Arbeitsamt, Insolvenzgericht) erkundigen, ob ein Insolvenzereignis eingetreten ist. Diese Obliegenheit ergibt sich aus dem Charakter der Antragsfrist als materiell-rechtliche Ausschlussfrist sowie aus ihrer Zielsetzung, die Insg-Versicherung innerhalb eines überschaubaren Zeitraums nach Eintritt des Insolvenzereignisses in die Lage zu versetzen, einen möglichst umfassenden Überblick über offene Arbeitsentgeltansprüche zu erhalten, um ggf auf dem Rückgriffswege die erforderlichen Maßnahmen gegen den insolventen Arbeitgeber einzuleiten. Das Bundessozialgericht (BSG) hat es zB als nicht ausreichend angesehen, wenn ein Arbeitnehmer sich zunächst um die Durchsetzung seiner Ansprüche auf dem Rechtsweg vor dem Arbeitsgericht bemüht und erst anschließend nach Fristablauf den Insg-Antrag stellt (BSG SozR 4100 § 141e Nr 8). Der erkennende Senat hat ebenfalls entschieden, dass ein Rechtsanwalt schuldhaft iS der Nachfrist in der vergleichbaren Vorgängervorschrift des § 141e Abs 1 Satz 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) handelt, wenn er lediglich einen Zwangsvollstreckungsantrag oder einen Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens stellt und sich nicht zusätzlich an die Arbeitsverwaltung wegen der Gewährung von Konkursausfallgeld wendet (Beschluss vom 8. November 2002  – L 8 B 285/02 AL –; Urteil vom 4. Dezember 2003 – L 8 AL 170/03 –). An diesen Anforderungen scheitert das Begehren des Klägers.

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Die hinreichenden Bemühungen zur Durchsetzung seiner Ansprüche können hier nicht angenommen werden, weil der Hinderungsgrund iS des § 324 Abs 3 Satz 2 SGB III vor dem 21. Januar 2000 (zwei Monate vor Stellung des Antrages am 20. März 2002) weggefallen ist. Bis zu diesem Tage hätte die Prozessbevollmächtigte des Klägers bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt den Eintritt des Insolvenzereignisses in Erfahrung bringen können. Eine Nachfrist zur Beantragung von Insg kommt nicht in Betracht.

23

Der Kläger wusste, dass nach seinem Ausscheiden als Meister die GmbH nicht mehr in der Handwerkerrolle eingetragen bleiben konnte und folglich den Betrieb aufgeben musste. Er hat selbst wegen der finanziellen Schwierigkeiten der GmbH mit Schreiben vom 2. März 1999 die Einberufung einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung beantragt (Blatt 161 Verwaltungsakte). Gleich nach Erhalt des Versäumnisurteils des Arbeitsgerichts G. vom 8. Juni 1999 hat er ohne weitere Mahnung und Aufforderungen an die Schuldnerin die Zwangsvollstreckung eingeleitet. Am 30. Juni 1999 wusste die Prozessbevollmächtigte des Klägers, dass bereits ein Antrag auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung vorlag. Aus welchen Gründen der Kläger ab diesem Zeitpunkt nicht in Erwägung gezogen hat, einen Antrag auf Insg zu stellen, ist nicht nachvollziehbar. Bis September 1999 sind für erfolglose Zwangsvollstreckungsmaßnahmen Kosten in Höhe von 322,25 DM entstanden. Der Geschäftsführer der GmbH konnte weder in seiner Privatwohnung noch am zwischenzeitlich aufgegebenen Betriebssitz angetroffen werden. Am 9. November 1999 hat das Amtsgericht G. auf Antrag des Klägers Haftbefehl gegen den Geschäftsführer I. zwecks Abgabe der eidesstattlichen Versicherung erlassen. Spätestens am 17. Dezember 1999 mit der Mitteilung der Prozessbevollmächtigten des Klägers an das Amtsgericht G., dem Zwangsvollstreckungsauftrag Fortgang zu geben, sind alle denkbaren Rechtfertigungsgründe dafür entfallen, der Kläger habe die Versäumung der Antragsfrist nicht zu vertreten. Zu diesem Zeitpunkt lagen dem zuständigen Gerichtsvollzieher 8 erfolglose Vollstreckungsaufträge vor (Blatt 36 Insolvenzakte). Ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens war seit November 1999 anhängig. Spätestens am 17. Dezember 1999 beginnt daher die zweimonatige Nachfrist des § 324 Abs 3 Satz 2 SGB III, die der Kläger mit seinem Antrag vom 20. März 2000 nicht eingehalten hat.

24

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

25

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) liegen nicht vor.