Verwaltungsgericht Osnabrück
Urt. v. 22.05.2003, Az.: 4 A 180/00
Anstaltsfürsorge; Betreuung; Flüchtling; Fürsorge; gewöhnlicher Aufenthalt; Heimatvertriebener; Heimbetreuung; Kostenerstattung; Kostenübernahme; Landesfürsorgeverband; Sozialhilfe; Umsiedler; Umsiedlung; Umsiedlungsgesetz; Zuständigkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Osnabrück
- Datum
- 22.05.2003
- Aktenzeichen
- 4 A 180/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 48018
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 97 Abs 2 S 3 BSHG
- § 103 Abs 1 BSHG
- § 2 Abs 3 S 2 SGB 10
- § 102 SGB 10
- § 105 SGB 10
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Der im Umsiedlungsgesetz vom 22. Mai 1951 enthaltene Gedanke der gleichmäßigen Lastenverteilung und die am 27. Oktober 1953 getroffene Vereinbarung der Landesfürsorgeverbände schließen Kostenerstattungsansprüche der Sozialhilfeträger der aufnehmenden Länder gegen solche der abgebenden Länder bezüglich der in das förmliche Umsiedlungsverfahren einbezogenen Hilfeempfänger aus.
Tatbestand:
Der Kläger ist Rechtsnachfolger des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe - Landesfürsorgeverband. Der Beklagte ist Rechtsnachfolger des Landkreises Aschendorf-Hümmling . Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Erstattung von Sozialhilfeleistungen, die er in der Zeit vom 1. Juli 1997 bis 30. November 2000 an Herrn C. D. - im folgenden: Hilfeempfänger - gewährt hat.
Der am 20. März 1938 geborene Hilfeempfänger wurde zusammen mit seiner Mutter und drei weiteren Geschwistern als Flüchtling der Stufe A von Schlesien in die im Zuständigkeitsbereich des Beklagten gelegene Gemeinde Heede evakuiert und dort gemeldet. Am 11. Dezember 1946 wurde der Hilfeempfänger in die Anstaltsfürsorge des Landesfürsorgeverbandes Hannover übergeben, nachdem bei einer Einschulungsuntersuchung bei ihm Schwachsinn diagnostiziert worden war und der Amtsarzt die Unterbringung in einem Heim empfohlen hatte. Seit dem 19. Mai 1949 ist der Hilfeempfänger in der Anstalt E. in F. untergebracht. Die hierfür anfallenden Kosten wurden zunächst von dem Rechtsvorgänger des Beklagten getragen.
Zum 15. November 1958 wurde die Familie des Hilfeempfängers in die im Bereich des Klägers gelegene Stadt Bielefeld umgesiedelt. Der im Heim lebende und deshalb zunächst nicht in die Aufnahmekartei aufgenommene Hilfeempfänger wurde mit Verfügung des Rechtsvorgängers des Beklagten vom 29. November 1958 in die Umsiedlung einbezogen. Daraufhin wurde mit Schreiben vom 29. Januar 1959 seitens des Niedersächsischen Landessozialamtes - Landesfürsorgeverband - unter Hinweis auf den Runderlass des Bundesministers des Innern vom 9. Juli 1953 – 5121.1526/53 – , beim nunmehr für die Hilfegewährung zuständigen Rechtsvorgänger des Klägers die Übernahme der Kosten beantragt. Mit Schreiben vom 10. Februar 1959 erkannte dieser den Erstattungsanspruch für die Zeit seit Übersiedlung an und übernahm den Fall für die Zeit ab 1. Januar 1959 in die eigene Fürsorge. Seit dem 15. November 1958 hat der Kläger bzw. dessen Rechtsvorgänger die Betreuungskosten getragen.
Mit einem an den Beklagten gerichteten Schreiben vom 21. August 1998, Eingang beim Beklagten am 25. August 1998, meldete der Kläger einen Kostenerstattungsanspruch unter Hinweis auf den durch die Änderung des § 97 BSHG nach seiner Auffassung eingetretenen Zuständigkeitswechsel beim Beklagten an. Dieser lehnte die Erstattung ab. Der Kläger hat am 28. Dezember 2000 Klage erhoben. Im Laufe des gerichtlichen Verfahrens bezifferte der Kläger den zu erstattenden Betrag mit 130.234,22 € (= 254.716 DM). Wegen der Berechnung im Einzelnen wird auf den bei den Gerichtsakten befindlichen Schriftsatz des Beklagten vom 22. Juni 2001 (Bl. 15-19 der Gerichtsakte) verwiesen.
Zur Begründung macht der Kläger Folgendes geltend:
Der Hilfeempfänger habe seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor seiner Heimaufnahme in der Gemeinde Heede gehabt. Mit der Änderung des § 97 BSHG durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogrammes sei der Beklagte für die Hilfegewährung zuständig geworden. Nach der Neufassung der Vorschrift sei für die Zuständigkeit der gewöhnliche Aufenthalt des Hilfeempfängers vor der Heimaufnahme maßgebend. Damit ergebe sich ein Erstattungsanspruch aus § 103 BSHG i. V. m. § 2 III 2 SGB X. Dieser werde nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger die Kosten der Heimbetreuung zunächst unbemerkt weiter getragen habe.
Der Kläger beantragt,
die Beklagten zu verpflichten, ihm die für den Hilfeempfänger C. D., geb. 20.03.1938, vom 01.08.1997 bis 30.11.2000 aufgewendeten Sozialhilfekosten in Höhe von 254.716,83 DM (130.234,65 €) zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte macht geltend, dass der Kläger für die Hilfegewährung zuständig sei und deshalb ein Erstattungsanspruch nicht bestehe.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Dem Kläger steht ein Kostenerstattungsanspruch nicht zu.
Entgegen der Ansicht des Klägers ergibt sich ein Kostenerstattungsanspruch nicht aus § 103 Abs. 1 BSHG. Dies folgt bereits daraus, dass der Kläger nicht anspruchsberechtigt ist. Anspruchsberechtigt nach dieser Vorschrift ist nur derjenige Träger der Sozialhilfe, der nach § 97 Abs. 2 Satz 3 BSHG zur Leistungserbringung verpflichtet war. Bei dem Kläger handelt es sich in Bezug auf den Hilfeempfänger jedoch nicht um den Träger der Sozialhilfe, der nach § 97 Abs. 2 Satz 3 BSHG die Leistungen zu erbringen gehabt hätte. Dies wäre der für den tatsächlichen Aufenthaltsort des Hilfeempfängers zuständige Träger der Sozialhilfe, also der für Rotenburg/Hannover zuständige Sozialhilfeträger gewesen.
Auch aus § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X lässt sich der fragliche Anspruch nicht herleiten. Nach Satz 1 der genannten Vorschrift hat im Falle des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit die bisher zuständige Behörde die Leistungen noch solange zu erbringen, bis sie von der nunmehr zuständigen Behörde fortgesetzt werden. Satz 2 der hier in Ansehung stehenden Vorschrift regelt weiter, dass diese Behörde der bisher zuständigen Behörde die nach dem Zuständigkeitswechsel noch erbrachten Leistungen auf Anforderung zu erstatten hat. Danach steht dem Kläger nur dann ein Kostenerstattungsanspruch zu, wenn er für die Gewährung der Hilfe bis zu einem Zuständigkeitswechsel zuständig war und der Beklagte nach diesem Zeitpunkt örtlich zuständig geworden ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt, weil ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit vom Kläger auf den Beklagten nicht erfolgt ist.
Seit 1958 war der Kläger für die Hilfegewährung fortlaufend zuständig. Denn die Familie des Klägers wurde auf der Grundlage des Gesetzes zur Umsiedlung von Heimatvertriebenen aus den Ländern Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vom 22. Mai 1951 (BGBl. S. 350) - im folgenden: Umsiedlungsgesetz - in den Zuständigkeitsbereich des Klägers umgesiedelt. Da der Kläger in den Umsiedlungsbescheid ausdrücklich aufgenommen worden war, erfasste die Umsiedlung auch den Kläger. Auch wenn sich der Kläger zum damaligen Zeitpunkt nach der Umsiedlung nach wie vor in einem in Niedersachsen gelegenen Heim aufhielt, führte die Einbeziehung des Klägers in die Umsiedlung dazu, dass die Zuständigkeit für die Gewährung von Fürsorgeleistungen in der stationären Einrichtung auf den Kläger verlagerte. Denn das Umsiedlungsgesetz bezweckte, alle finanziellen Lasten der Heimatvertreibung nach dem Krieg gleichmäßig auf die Bundesländer zu verteilen und die im Zuge der Heimatvertreibung besonders belasteten Länder Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein durch Umsiedlungsmaßnahmen zu entlasten und die übrigen Länder dementsprechend zu belasten. Die im Umsiedlungsgesetz vorgesehene Aufnahmeverpflichtung beschränkte sich nicht nur auf die wohnungsmäßige Unterbringung der Umsiedler, sondern regelte darüber hinaus umfassend die Übernahme dieses Personenkreises in die öffentlich-rechtliche Sorgepflicht des aufnehmenden Bundeslandes. Dies bedeutet, dass alle auf der Grundlage des Umsiedlungsgesetzes in das Umsiedlungsverfahren förmlich einbezogenen Personen in die genannte umfassende öffentlich-rechtliche Sorgepflicht des aufnehmenden Landes übernommen und aus der Sorgepflicht des abgebenden Landes entlassen wurden. Die in § 3 Abs. 1 und 2 Umsiedlungsgesetz festgelegte Verpflichtung zur Aufnahme von Fürsorgeempfängern ist daher dahin zu verstehen, dass dieser Personenkreis - und zwar auf Dauer - auch in die fürsorgerechtliche Zuständigkeit des aufnehmenden Landes zu übernehmen war und zwar unabhängig davon, ob dieser Personenkreis Hilfe in einer Einrichtung erhielt oder nicht. Denn das Gesetz unterscheidet nicht zwischen Hilfeempfängern, die sich in offener oder geschlossener Fürsorge befanden (vgl. RdSchr. d. BMI über Kosten der geschlossenen Fürsorge, die einem Fürsorgeverband nach Umsiedlung in Fällen fortgesetzter Hilfsbedürftigkeit im Aufnahmeland entstehen v. 5. November 1952, GMBl. S. 315, abgedruckt auch bei Jehle, Fürsorgerecht, 3. Aufl., S. 305; und RdSchr. d. BMI über Kosten der geschlossenen Fürsorge, die nach Umsiedlung in Fällen fortgesetzter Hilfsbedürftigkeit im Aufnahmeland entstehen v. 9. Juli 1953, GMBl. S. 510; abgedruckt bei Jehle aaO. S. 306).
Aus diesem Grunde haben die Landesfürsorgeverbände am 27. Oktober 1953 in Kassel vereinbart, die Fürsorgekosten für Heimatvertriebene, die im offiziellen Umsiedlungsverfahren umgesiedelt wurden und zu diesem Zeitpunkt anstaltspflegebedürftig waren, vom Landesfürsorgeverband des im Bereich des Aufnahmelandes gelegenen neuen Aufenthaltsortes bis zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit zu tragen sind. Die Kostenübernahmeverpflichtung auf der Grundlage dieser Vereinbarung bezieht sich dabei auch auf die Fälle, in denen - wie im vorliegenden Fall - der Hilfebedürftige trotz Einbeziehung in das offizielle Umsiedlungsverfahren in einer Einrichtung des abgebenden Landes verblieb (Gutachten d. Zentralen Spruchstelle, Sammlung von Entscheidungen und Gutachten der Spruchstelle für Fürsorgestreitsachen, Band 6, S. 1 ff., auszugsweise abgedruckt bei Jehle, aaO. S. 306).
Diese speziellen Vorschriften bezüglich der Zuständigkeit und der Kostentragung für den in das offizielle Umsiedlungsverfahren einbezogenen Personenkreis sind nach Ansicht der Kammer weder durch das Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes noch durch die dessen nachfolgende Novellierungen geändert worden. Denn das Umsiedlungsgesetz ist weder bei Einführung des BSHG noch bei den darauffolgenden Novellierungen geändert bzw. aufgehoben worden, so dass diese Vorschriften nach wie vor gültig sind. Würde der Beklagte im vorliegenden Fall, in dem der Hilfeempfänger seit der Umsiedlung ununterbrochen hilfebedürftig und in der gleichen Einrichtung untergebracht gewesen ist, einem Kostenerstattungsanspruch des Klägers ausgesetzt sein, würde das dem Gesetzeszweck des Umsiedlungsgesetz und auch der seinerzeit in Kassel getroffenen Vereinbarung zur Kostentragung entgegenlaufen, weil im Ergebnis das in der Vergangenheit durch die Vertreibungen belastete und daher durch die Umsiedlung zu entlastende Land Niedersachsen wieder mit den Kosten belastet würde, die nach dem Gesetzeszweck des Umsiedlungsgesetzes auf das Aufnahmeland gerade abgewälzt werden sollten.
Da sich aufgrund der vorstehenden Ausführungen ergibt, dass im fraglichen Zeitraum der zuständige Leistungsträger die Sozialleistungen erbracht hat, kommt weder ein Anspruch aus § 105 Abs. 1 SGB X noch ein solcher aus § 102 Abs. 1 SGB X in Betracht.