Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 23.06.2023, Az.: 1 UF 165/22

Gebot der Rechtsschutzgleichheit; Bedürftiger; Verfahrenskostenhilfeantrag; rechtliches Gehör; Säumnis; Verschulden; Termin; Zurückweisung; Keine schuldhafte Säumnis bei abschlägiger Bescheidung eines Verfahrenskostenhilfeantrags fünf Tage vor dem Termin und dadurch bedingter fehlender anwaltlicher Vertretung

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
23.06.2023
Aktenzeichen
1 UF 165/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 23766
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2023:0623.1UF165.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Braunschweig - 09.08.2022 - AZ: 245 F 37/22

Fundstellen

  • NJW-RR 2024, 134-135
  • NZFam 2023, 1045

Amtlicher Leitsatz

Wird ein rechtzeitig vor dem Termin gestellter Verfahrenskostenhilfeantrag eines Antragsgegners in einer Familienstreitsache erst so knapp vor dem Termin abschlägig beschieden, dass es bei einem gewöhnlichen Lauf der Dinge einem sorgsam handelnden Rechtssuchenden nicht möglich ist, sich angemessen zu verteidigen, so ist der anberaumte Termin zu vertagen.

In der Familiensache
des Herrn S. J.,
- Antragsgegner und Beschwerdeführer -
Verfahrensbevollmächtigte:
Rechtsanwälte S. & P. Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB,
Geschäftszeichen: 22/000736,
gegen
das Land N.,
vertreten durch, Stadt B. - Fachbereich Kinder, Jugend und Familie -,
Geschäftszeichen: 51.02 UVG-PAP-20301,
- Antragsteller und Beschwerdegegner -
hat der 1. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Braunschweig durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht M., die Richterin am Oberlandesgericht W. und die Richterin am Oberlandesgericht Dr. E. am 23. Juni 2023 beschlossen:

Tenor:

  1. I.

    Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Braunschweig vom 09.08.2022 aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht - Familiengericht - Braunschweig zurückverwiesen.

  2. II.

    Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen. Im Übrigen wird das Amtsgericht im Rahmen seiner Endentscheidung über die Kosten des Verfahrens einschließlich der im Beschwerdeverfahren angefallenen außergerichtlichen Kosten der Beteiligten zu entscheiden haben.

  3. III.

    Der Beschwerdewert wird auf 7.245,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsgegner ist der Vater des minderjährigen Kindes D.-A. P., geb. am 07.04.2009, für das der Antragsteller Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) erbringt. Dieser hat am 08.12.2021 beim Amtsgericht Braunschweig einen Antrag auf Unterhaltsfestsetzung im vereinfachten Verfahren für den Zeitraum ab 01.01.2021 eingereicht. Nach Übergang ins streitige Verfahren ist in dem vom Amtsgericht anberaumten Termin am 10.05.2022 für den Antragsgegner niemand erschienen, woraufhin der Antragsgegner durch Versäumnisbeschluss vom 10.05.2022 antragsgemäß verpflichtet worden ist, für seine Tochter ab dem 01.03.2022 laufenden Kindesunterhalt in Höhe von 100 % des Mindestunterhalts der jeweils maßgeblichen Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle abzüglich des vollen Kindergeldes sowie für die Zeit vom 01.01.2021 bis zum 28.02.2022 einen Unterhaltsrückstand i.H.v. 4.105,00 € an den Antragsteller zu zahlen. Hiergegen hat der Antragsgegner fristgerecht Einspruch eingelegt und diesen mit Schriftsatz vom 07.07.2022 begründet.

Mit Beschluss vom 04.08.2022 hat das Amtsgericht den mit der Einspruchsbegründung gestellten Antrag des Antragsgegners auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe zurückgewiesen. Die Kanzlei der damaligen Verfahrensbevollmächtigten teilte sodann am 05.08.2022 mit, der Termin am 09.08.2022 werde von ihr nicht wahrgenommen werden. Der Antragsgegner bat sowohl telefonisch am 04.08.2022 als auch per E-Mail vom 08.08.2022 um Terminverlegung, da er bei seinem neuen Anwalt erst für den 10.08.2022 einen Termin bekommen habe.

Zu dem vom Amtsgericht nicht verlegten Verhandlungstermin am 09.08.2022 ist neben den Vertreterinnen des Antragstellers nur der nicht anwaltlich vertretene Antragsgegner erschienen. Daraufhin hat das Amtsgericht durch Beschluss vom selben Tag die Versäumnisentscheidung vom 10.05.2022 aufrechterhalten. Gegen diesen seiner jetzigen Verfahrensbevollmächtigten am 30.12.2022 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsgegner mit seiner als Einspruch bezeichneten Beschwerde vom 07.09.2022. Zur Begründung der Beschwerde führt der Antragsgegner u.a. aus, eine schuldhafte Säumnis im Termin am 09.08.2022 habe nicht vorgelegen, da es ihm innerhalb der kurzen Zeit nicht möglich gewesen sei, einen neuen Verfahrensbevollmächtigten zu beauftragen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Verfahrensverlaufs wird auf den Hinweisbeschluss des Senats vom 25.05.2023 Bezug genommen, in dem auch auf die Möglichkeit einer Zurückverweisung der Angelegenheit hingewiesen worden ist.

Mit Schriftsatz vom 16.6.2023 hat der Antragsteller daraufhin beantragt, das Verfahren an das Familiengericht Braunschweig zurückzuverweisen.

II.

Die gem. §§ 117 Abs. 2, 58 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 514 Abs. 2 ZPO zulässige Beschwerde des Antragsgegners führt zur Aufhebung des zweiten Versäumnisbeschlusses vom 09.08.2022 und zur Zurückverweisung der Angelegenheit an das Familiengericht.

Insoweit hat der Senat in dem Hinweisbeschluss vom 25.05.2023 Folgendes ausgeführt:

"1.

Das als Einspruch bezeichnete Rechtsmittel des Antragsgegners gegen die zweite Versäumnisentscheidung vom 09.08.2022 ist als Beschwerde auszulegen, da diese vorliegend das einzig statthafte Rechtsmittel darstellt. Nach § 117 Abs. 2 Satz 1 FamFG i.V.m. § 514 Abs. 2 ZPO unterliegt eine zweite Versäumnisentscheidung, gegen die ein Einspruch gemäß § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 345 ZPO nicht statthaft ist, der Beschwerde, wenn sie darauf gestützt wird, der Fall einer schuldhaften Säumnis habe nicht vorgelegen. Einen solchen Fall macht der Antragsgegner geltend, indem er vorträgt, die zweite Versäumnisentscheidung habe nicht ergehen dürfen, da der Amtsrichter, der erst wenige Tage vor dem Termin den Verfahrenskostenhilfeantrag zurückgewiesen hat, nicht hätte verhandeln dürfen.

Die am 07.09.2022 beim Amtsgericht eingegangene Beschwerde wurde auch form- und fristgerecht eingelegt und - in Folge der gewährten Wiedereinsetzung - fristgerecht begründet, §§ 63 Abs. 1, 64, 117 Abs. 1 FamFG.

2.

Die zweite Versäumnisentscheidung des Amtsgerichts kann keinen Bestand haben, weil kein Fall einer schuldhaften Säumnis vorgelegen hat. Zwar war der Antragsgegner im Einspruchstermin am 09.08.2022 nicht anwaltlich vertreten und damit säumig, jedoch beruhte diese Säumnis nicht auf seinem Verschulden.

Für das Verschulden gelten im Rahmen von § 514 Abs. 2 ZPO dieselben Grundsätze wie bei § 337 ZPO. Danach fehlt es an einer schuldhaften Säumnis, wenn die Verhandlung hätte vertagt werden müssen, weil ein Beteiligter ohne sein Verschulden am Erscheinen verhindert oder nicht postulationsfähig war. Dies kommt unter anderem dann in Betracht, wenn über einen rechtzeitig gestellten Verfahrenskostenhilfeantrag eines Beteiligten bis zum Termin noch nicht entschieden wurde (vgl. MüKo/Rimmelspacher, ZPO, 6. Auflage 2020, § 514 Rn. 20; Zöller/Heßler, ZPO, 24. Auflage 2023, § 514 Rn. 10; LG Münster, Urteil vom 26.09.1990 - 1 S 279/90, juris Rn. 17). Das Gebot der Rechtsschutzgleichheit gebietet im Bereich der Verfahrenskostenhilfe eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.06.2018 - 1 BvR 1998/17, juris Rn. 16). Dies kann zur Folge haben, dass ein Bedürftiger bei einem noch nicht abgeschlossenen Verfahrenskostenhilfeprüfungsverfahren ein Zuwarten mit dem Fortgang des Hauptsacheverfahrens verlangen kann, wenn ihm anderenfalls gerade aufgrund seiner Mittellosigkeit die Vornahme der zur Wahrung seiner Rechtsposition erforderlichen Verfahrenshandlungen, wie sie einem bemittelten Beteiligten zur Verfügung stünden, verwehrt oder unverhältnismäßig erschwert würden (vgl. BGH, Beschluss vom 12.07.2016 - VIII ZB 25/15, juris Rn. 21). Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn der Rechtswalt eines mittellosen Beteiligten, über dessen Verfahrenskostenhilfegesuch trotz rechtzeitiger Antragstellung vor dem Termin nicht entschieden wurde, zu dem anberaumten Termin nicht erscheint. In derartigen Fällen steht das Fehlen einer schuldhaften Säumnis dem Erlass einer Versäumnisentscheidung in der Regel ebenso entgegen wie bei Eingang eines Verfahrenskostenhilfeantrags eines Antragsgegners nach Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens (vgl. LG Münster, a.a.O.; OLG Brandenburg, Beschluss vom 27.02.2001 - 11 W 15/01, juris Rn. 14). Gleiches muss gelten, wenn ein rechtzeitig gestellter Verfahrenskostenhilfeantrag erst so knapp vor dem Termin beschieden wurde, dass es bei einem gewöhnlichen Lauf der Dinge einem sorgsam handelnden Rechtssuchenden nicht möglich ist, sich angemessen zu verteidigen. Denn der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs verlangt, dass einem um Verfahrenskostenhilfe nachsuchenden Beteiligten nach Ablehnung seines Verfahrenskostenhilfeantrags eine angemessene Überlegungsfrist für sein weiteres prozessuales Vorgehen zu verbleiben hat (vgl. LG Münster, a.a.O.; OLG Brandenburg, a.a.O., juris Rn. 13 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 28.11.1984 - IVb ZB 119/84, juris Rn. 8).

Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend davon auszugehen, dass es dem Antragsgegner gerade aufgrund seiner Mittellosigkeit unverhältnismäßig erschwert worden ist, im Verhandlungstermin am 09.08.2022 anwaltlich vertreten zu sein und sich gegen den Unterhaltsantrag verteidigen zu können. Denn sein Antrag auf Verfahrenskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung vom 07.07.2022 ist erst am 04.08.2022, mithin fünf Tage vor dem anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung, zurückgewiesen worden. Einen Tag später haben seine damaligen Verfahrensbevollmächtigten dem Gericht mitgeteilt, sie würden den Termin nicht wahrnehmen. Dem Antragsgegner blieben daher nur vier Tage, um entweder doch noch die Bezahlung seiner bisherigen Rechtsanwälte zu organisieren oder sich einen anderen vertretungsbereiten Verfahrensbevollmächtigten zu suchen. Angesichts dessen wäre das Familiengericht zur Wahrung seines rechtlichen Gehörs sowie zur Ermöglichung der Wahrnehmung der zu seiner Rechtsverteidigung erforderlichen Verfahrenshandlungen gehalten gewesen, den Verhandlungstermin zu vertagen. Ihm war die Möglichkeit zu geben, sich rechtlichen Rat im Hinblick auf sein weiteres prozessuales Vorgehen einzuholen sowie auch die etwaige Einlegung einer Beschwerde gegen die Versagung der Verfahrenskostenhilfe zu prüfen. Hierzu erscheint ein Zeitfenster von nur vier Tagen nicht ausreichend, da neben der für die Beauftragung eines neuen Anwalts benötigten Zeit auch noch eine gewisse Überlegungsfrist zu berücksichtigen ist.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragsgegners vom 27.06.2022 hinsichtlich seiner Einnahmen und Abzüge nicht vollständig ausgefüllt, sondern lediglich ein Bescheid über Leistungen nach dem AsylbLG beigefügt war. Denn auf das Vorliegen einer ungenügenden Erklärung oder das Fehlen von Belegen hätte das Gericht ihn rechtzeitig hinweisen müssen."

In Folge der Aufhebung des zweiten Versäumnisbeschlusses verweist der Senat das Verfahren gemäß § 117 Abs. 2 FamFG i.V.m. § 538 Abs. 2 Nr. 6 ZPO auf den mit Schriftsatz vom 20.06.2023 gestellten Antrag des Antragstellers an das Familiengericht Braunschweig zurück, um diesem die Gelegenheit zu geben, unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragsgegners erneut zu verhandeln und zu entscheiden.

III.

Der Beschwerdewert ist gemäß §§ 40, 51 Abs. 1, Abs. 2 FamGKG orientiert an den im angefochtenen Beschluss titulierten Unterhaltsbeträgen festzusetzen. Dabei ist hinsichtlich des bis zum Antragseingang aufgelaufenen Rückstands i.S.v. § 51 Abs. 2 FamGKG allerdings lediglich auf den Zeitraum bis zum 31.12.2021 abzustellen, da im Dezember 2021 der Antrag auf Unterhaltsfestsetzung im vereinfachten Verfahren eingegangen ist. Für die "Einreichung des Antrags" im Sinne von § 51 Abs. 1 und 2 FamGKG kommt es auf die Antragstellung im vereinfachten Verfahren an und nicht erst auf den Antrag auf Durchführung des streitigen Verfahrens (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 27.01.2014 - 10 UF 11/14, juris Rn. 7). Denn aus der Vorschrift des § 255 Abs. 3 FamFG, nach der das Verfahren als mit der Zustellung des Festsetzungsantrags rechtshängig geworden gilt, ergibt sich, dass das streitige Verfahren vom Gesetzgeber als Fortsetzung des vereinfachten Verfahrens verstanden wird (OLG Celle, a.a.O., Rn. 8). Zu dem laufenden Unterhalt in Höhe eines Jahresbetrages von 3.768,00 € (=12 x 314,00 €) ab Januar 2022 ist somit lediglich ein Rückstand i.H.v. 3.477,00 € hinzuzurechnen und nicht i.H.v. 4.105,00 €. Hieraus ergibt sich ein Verfahrenswert i.H.v. 7.245,00 €.