Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 26.05.2014, Az.: L 11 AS 1343/13 B ER
Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten anhand der Tabellenwerte der Wohngeldtabelle; Kostenübernahme für im sozialgerichtlichen Verfahren nachgeholte Ermittlungen; Verschuldenskosten zu Lasten des Leistungsträgers bei fehlenden eigenen verwaltungsseitigen Ermittlungen; Abstellen allein auf die Wohngeldtabelle statt Ermittlung angemessener örtlicher Mieten im Sinne des nach dem BSG im Bereich des SGB II verlangten schlüssigen Konzepts
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 26.05.2014
- Aktenzeichen
- L 11 AS 1343/13 B ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2014, 21793
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2014:0526.L11AS1343.13B.ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 07.10.2013 - AZ: S 43 AS 423/13 ER
Rechtsgrundlagen
- § 20 SGB X
- § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II
- § 103 S. 1 Halbs. 2 SGG
- § 192 Abs. 4 S. 1 SGG
- § 12 WoGG
- § 22 Abs. S. 1 SGB II
- § 192 Abs. 4 SGG
Fundstelle
- NZS 2014, 715
Redaktioneller Leitsatz
1. Für die Bestimmung der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft (§ 22 SGB II) ist mit der Rechtsprechung des BSG ein sog. schlüssiges Konzept zu verlangen, ohne dass der Leistungsträger ein Wahlrecht hat, ob er ein solches erstellt oder anhand der Tabellenwerte nach § 12 WoGG entscheidet.
2. Stützt sich ein Leistungsträger sowohl im Jahr 2011 als auch im Jahr 2013 unverändert auf die Tabellenwerte nach dem WoGG, sind erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterblieben.
3. Die Kosten der darauf bezogen im gerichtlichen Verfahren, im pflichtgemäßen Ermessen, nachgeholten Ermittlungen können dem Leistungsträger in Anwendung des § 192 Abs 4 SGG auferlegt werden.
4. Die Kostenentscheidung des SG ist vom LSG im Beschwerdeverfahren - wie alle anderen Ermessensentscheidungen des SG - auch bei der Verhängung von Kosten nach § 192 Abs. 4 SGG lediglich auf etwaige Ermessensfehler zu überprüfen.
Tenor:
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 7. Oktober 2013 (Auferlegung von Kosten nach § 192 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz) wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.
Der Antragsgegner wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die im Eilverfahren S 43 AS 423/13 ER (Sozialgericht - SG - Braunschweig) erfolgte Auferlegung von Kosten gemäß § 192 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Im erstinstanzlichen Verfahren haben die Beteiligten um Erteilung einer vorläufigen Zusicherung gemäß § 22 Abs 4 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) gestritten. Der im laufenden SGB II-Leistungsbezug stehende Antragsteller wohnte damals in einer 37,24 qm großen Mietwohnung in der E. 21 in F ... Für diese Wohnung zahlte er monatlich 356,23 Euro Miete (inkl. Betriebskosten). Er beabsichtigte, zum 1. Juni 2013 in eine 54,75 qm große Wohnung in der E. 26 in F. umzuziehen, da seine beiden trennungsbedingt bei der Mutter lebenden 2,5 bzw. 7 Jahre alten Töchter ihn an den Wochenenden regelmäßig besuchten. Hierfür reiche der Platz in der bisherigen Wohnung nicht aus.
Der Antragsgegner lehnte die Erteilung einer Zusicherung für den zum 1. Juni 2013 beabsichtigten Umzug mit Bescheid vom 30. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2013 ab und führte zur Begründung aus, dass die Kosten für die neue Wohnung (Kaltmiete inkl. Betriebskosten: 455,- Euro) unangemessen hoch seien. Für die Bestimmung der Angemessenheitsgrenze sei auf einen Ein-Personen-Haushalt abzustellen, da sich die Töchter lediglich besuchsweise beim Antragsteller aufhielten. Der insoweit maßgebliche Höchstbetrag liege bei 358,23 Euro (so: Ablehnungsbescheid vom 30. Mai 2013 unter Bezugnahme auf den im Mietspiegel für die Stadt F. genannten Wert für bis zu 50 qm große Wohnungen der Baualtersklasse 1961 - 1969) bzw. bei 393,80 Euro (so: Widerspruchsbescheid vom 21. August 2013 unter Bezugnahme auf die in § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) genannten Werte zuzüglich eines 10%igen Sicherheitszuschlags).
Hiergegen hat der Antragsteller am 27. August 2013 beim SG um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und geltend gemacht, für die Unterbringung seiner Töchter auf eine größere Wohnung angewiesen zu sein.
Das SG hat im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens die Stadt F. um ergänzende Auskunft zur Datengrundlage des für die Stadt erstellten Mietspiegels sowie um Aufarbeitung dieser Daten gebeten (vgl. im Einzelnen: Schreiben des SG vom 3. September 2013), ist von dort jedoch an das damals mit der Erstellung des Mietspiegels beauftragte "G." (H.) verwiesen worden. Das I. -Institut hat dem SG mit Schreiben vom 1. Oktober 2013 die erbetene Stellungnahme übersandt und hierfür 565,25 Euro in Rechnung gestellt. Diese Kosten hat das SG dem Antragsgegner in dem das Eilverfahren abschließenden Beschluss vom 7. Oktober 2013 gemäß § 192 Abs 4 SGG auferlegt.
Hiergegen richtet sich die vom Antragsgegner am 6. November 2013 eingelegte Beschwerde. Der Antragsgegner wendet gegen die Entscheidung des SG ein, dass sie nicht - wie in § 192 Abs 4 SGG vorgeschrieben - durch gesonderten Beschluss, sondern in dem verfahrensbeendenden Beschluss getroffen worden sei. Dem Antragsgegner sei vorab kein rechtliches Gehör gewährt worden. In der Sache habe es sich bei der Stellungnahme des I. -Instituts nicht um notwendige, erkennbare und unverzichtbare Ermittlungen gehandelt. Der Antragsgegner habe das SG bereits mit Schriftsatz vom 28. August 2013 darauf hingewiesen, dass der Antragsgegner bei der Prüfung der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft (KdU) auf die Werte nach § 12 WoGG zzgl. eines 10%igen Sicherheitszuschlags abstelle. Ein sog. "schlüssiges Konzept" existiere für den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners nicht. Nach der Rechtsprechung des SG Braunschweig erfülle auch der Mietspiegel der Stadt F. nicht die sich aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ergebenden Anforderungen an ein schlüssiges Konzept. Die kostenpflichtigen Ermittlungen beim I. -Institut seien somit zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides nicht erkennbar notwendig gewesen, zumal - wie das SG im angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt habe - selbst bei Zugrundelegung des höchsten Wertes des Mietspiegels kein Anspruch auf die begehrte Zustimmung bestanden habe. II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist statthaft, da der Wert des Beschwerdegegenstandes mehr als 200,- Euro beträgt und in der Hauptsache die Beschwerde nicht ausgeschlossen gewesen wäre (§ 172 Abs 3 Nr 4 SGG).
Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Die Auferlegung von Kosten nach § 192 Abs 4 Satz 2 SGG begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
Nach § 192 Abs 4 Satz 1 SGG kann das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden.
Dass das SG die angegriffene Kostenentscheidung entgegen § 192 Abs 4 Satz 2 SGG nicht durch gesonderten Beschluss sondern im Rahmen des verfahrensbeendenden Beschlusses vom 7. Oktober 2013 getroffen hat, führt nicht zu der vom Antragsgegner begehrten teilweisen Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung. Bei § 192 Abs 4 Satz 2 SGG handelt es sich lediglich um eine Ordnungsvorschrift, die den Besonderheiten des Rechtsmittelrechts Rechnung trägt (vgl. § 172 Abs 3 Nr 4 SGG als Sonderregelung gegenüber § 144 Abs 4 SGG). Auch nach der Rechtsprechung des LSG Sachsen-Anhalt führt der Umstand, dass die angefochtene Kostenentscheidung nach § 192 Abs 4 SGG im Rahmen der Hauptsacheentscheidung getroffen worden ist, nicht zur Aufhebung, sondern zur inhaltlichen Überprüfung der Entscheidung im Beschwerdeverfahren (Beschluss vom 16. Januar 2012 - L 5 AS 228/11 B).
Der Antragsgegner hat im Verwaltungsverfahren erkennbare und notwendige Ermittlungen unterlassen. Schließlich bestimmt sich die Angemessenheit der KdU i.S.d. § 22 SGB II nach der ständigen Rechtsprechung des BSG anhand eines sog. schlüssigen Konzepts (vgl. hierzu etwa: BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 2/10 R). Dagegen hat der Antragsgegner seiner Entscheidung - zumindest zuletzt (vgl. hierzu: Widerspruchsbescheid vom 21. August 2013 sowie Schriftsatz vom 29. August 2013) - die in § 12 WoGG genannten Beträge zzgl. eines Sicherheitszuschlags zugrunde gelegt. Dem Leistungsträger steht jedoch kein Wahlrecht zu, ob er ein schlüssiges Konzept erstellt oder anhand der Tabellenwerte nach § 12 WoGG entscheidet. Allein das Fehlen eines schlüssigen Konzepts entbindet nicht von nachvollziehbaren Darlegungen dazu, warum ein solches auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisse und Daten nicht entwickelt werden kann. Bei der Annahme eines Fehlens von Erkenntnismöglichkeiten und -mitteln muss erkennbar sein, dass bei dieser Feststellung die generellen rechtlichen Anforderungen für die Erstellung eines schlüssigen Konzepts berücksichtigt worden sind. Erst wenn solche Feststellungen erfolgt sind, ist ein Rückgriff auf die Tabellenwerte des WoGG zu rechtfertigen (BSG, Urteil vom 11. Dezember 2012 - B 4 AS 44/12 R, Rn 18).
Die vom SG vorgenommenen Ermittlungen dienten dieser nach der Rechtsprechung des BSG erforderlichen Prüfung, ob ein tragfähiges schlüssiges Konzept nachträglich erstellt oder ein bereits vorliegendes Konzept (hier: Mietspiegel der Stadt F.) durch Ergänzungen bzw. Neuberechnungen "nachbessert" werden kann (vgl. hierzu auch die in diesem Sinne lautende richterliche Verfügung des SG vom 28. August 2013).
Dass entsprechende Ermittlungen zu einem schlüssigen Konzept erforderlich sind, war dem Antragsgegner nach seinem eigenen Vorbringen bereits seit August 2011 bekannt. Schließlich orientiert sich der Antragsgegner seitdem bei der Prüfung der Angemessenheit der KdU nicht mehr an dem Mietspiegel der Stadt F., sondern an den Tabellenwerten nach § 12 WoGG (vgl. Schriftsatz vom 28. August 2013).
Die Bestimmung von Art und Umfang der im gerichtlichen Verfahren vorzunehmenden Ermittlungen steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (BSG, Beschluss vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 -, BSGE 30, 192 [BSG 11.12.1969 - GS 2/68], Rn 72 - zitiert nach juris). Der Antragsgegner, der seiner Pflicht zur Amtsermittlung nach § 20 SGB X nicht nachgekommen ist, kann somit auch in einem Beschwerdeverfahren gegen eine Kostenentscheidung nach § 192 Abs 4 SGG nicht mit Erfolg geltend machen, dass er gerade die vom Gericht vorgenommenen Ermittlungen für nicht erforderlich hält. Dies gilt insbesondere in der vorliegenden Fallkonstellation (Fehlen eines schlüssigen Konzepts). Schließlich obliegt es auch noch im gerichtlichen Verfahren dem Grundsicherungsträger, dem Gericht eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage zu verschaffen und ggf. eine unterbliebene Datenerhebung und -aufbereitung nachzuholen (prozessuale Mitwirkungspflicht nach § 103 Satz 1 2. Halbsatz SGG, vgl. BSG, Urteil vom 2. Juli 2009 - B 14 AS 33/08 R).
Nachdem das SG in der von den Beteiligten in der Hauptsache nicht angefochtenen Entscheidung die Ergebnisse seiner Ermittlungen verwertet (vgl. S. 7 des Beschlusses vom 7. Oktober 2013) und für die Stellungnahme des I. -Instituts 565,25 Euro aufgewendet hat, sind keine Anhaltspunkte für Ermessensfehler des SG ersichtlich (vgl. zur Beschränkung des Überprüfungsumfangs einer Ermessensentscheidung des SG auf etwaige Ermessensfehler: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschlüsse vom 25. Juni 2002 und 21. Dezember 2011 - L 9 B 144/02 SB und L 11 SB 21/11 B ; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 176 Rn 4; Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching (Hrsg.): Beck scher Online-Kommentar Sozialrecht, Stand 2014, § 176 SGG Rn 5 - jeweils mit umfangreichen weiteren Nachweisen, auch zur Gegenmeinung). Gegen eine Auferlegung von Kosten nach § 192 Abs 4 SGG spricht auch nicht der Vortrag des Antragsgegners, wonach der Widerspruchsbescheid am 21. August 2018 abgesandt worden und mangels Klageerhebung zum Zeitpunkt der Entscheidung im Eilverfahren (7. Oktober 2013) bereits bestandskräftig gewesen sein soll (vgl. Schriftsatz des Antragsgegners vom 28. Oktober 2012). Schließlich hat das SG die streitbefangenen Ermittlungen bereits am 19. September 2013 veranlasst. Zu diesem Zeitpunkt war die Klagefrist gegen den Widerspruchsbescheid vom 21. August 2013 noch nicht abgelaufen.
Der Senat kann offen lassen, ob das SG durch das Unterlassen einer vorherigen Anhörung des Antragsgegners den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt hat. Selbst bei Vorliegen eines entsprechenden Verfahrensfehlers wäre der Senat nach nunmehr erfolgter Stellungnahme des Antragsgegners nicht gehindert, über die Beschwerde inhaltlich zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG. Weder der die Beschwerde führende Antragsgegner noch die Staatskasse, gegen die sich die Beschwerde richtet, gehören zu dem nach § 183 SGG privilegierten Personenkreis (ebenso: LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16. Januar 2012, aaO.).
Gerichtskosten sind vom Antragsgegner nicht zu zahlen (§ 64 Abs 3 Satz 2 1. Halbsatz SGB X). Dem steht auch § 64 Abs 3 Satz 2 2. Halbsatz SGB X nicht entgegen, wonach § 197a SGG unberührt bleibt. Diese Norm findet im vorliegenden Fall keine Anwendung, weil sie lediglich für Sozialhilfeträger, die an Erstattungsstreitigkeiten i.S.d. § 197a Abs 3 SGG beteiligt sind, eine Sonderregelung trifft (vgl. im Einzelnen: v. Wulffen/Schütze/Roos SGB X, 8. Auflage 2014, § 64 Rn 18d - unter Bezugnahme auf die Gesetzesentstehung und -begründung).
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es bereits deshalb nicht, weil im vorliegenden Fall keine streitwertabhängigen Gerichtskosten sondern die Pauschgebühr nach Nr 7504 des Vergütungsverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz angefallen wäre.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).