Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 02.08.2001, Az.: 1 A 209/00

Afghanistan; politischer Flüchtling; Taliban

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
02.08.2001
Aktenzeichen
1 A 209/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40227
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

1

Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als der Kläger seine Anerkennung als Flüchtling nach der Genfer Konvention erstrebt (Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Afghanistans). Im übrigen - wegen der Anerkennung als Asylberechtigter gem. Art. 16 a GG - ist sie abzuweisen.

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1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hier - im Falle der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - jener der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 S. 1 Hs 2 AsylVfG. Denn § 77 Abs. 1 AsylVfG gilt für alle Streitigkeiten nach dem AsylVfG und damit auch für alle Klagearten und -formen. Somit ist für die Beurteilung der erhobenen Klage die Sach- und Rechtslage vom 2. August 2001 maß-geblich (vgl. dazu auch Marx, Kommentar zum AsylVfG, § 77 Rdn. 3 m.w.N.).

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2. Eine Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter gem. Art. 16 a GG kommt nicht in Betracht, weil der fehlende Nachweis für die behauptete Einreise auf dem Luftwege und die insoweit verbleibenden Zweifel zu seinen Lasten gehen. Auf die diesbezüglichen Aus-führungen im angefochtenen Bescheid (S. 4) kann Bezug genommen werden.

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3. Soweit der Kläger seine Anerkennung als Flüchtling iSd Genfer Konvention erstrebt (§ 51 Abs. 1 AuslG), ist die Klage dagegen begründet. Denn entgegen den Darlegungen auf S. 8 ff. des Bescheides verfügen die Taleban in weiten Teilen Afghanistans über eine derartige quasi-staatliche Gebietsgewalt, dass sie in ihrem Machtbereich auch eine politische Verfolgung vornehmen können.

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Eine politische Verfolgung iSv Art. 16 a Abs. 1 GG bzw. § 51 Abs. 1 AuslG setzt voraus, dass der Ausländer durch staatliche oder quasi-staatliche Gewalt bedroht und verfolgt wird, wobei der verfolgende Staat in der Lage sein muss, eine wirksame Gebietsgewalt über sein Territorium auszuüben. Ist das nicht (mehr) der Fall, kann eine staatliche Verfolgung nur noch in besonderen Situationen – bei einem Restbestand an staatlicher Ordnungsmacht - angenommen werden (vgl. BverwGE 80, 315 f. / 340 und BVerfG NVwZ 1994, 478). Fehlt es auch an einem Restbestand staatlicher Ordnungsmacht, sind vielmehr an deren Stelle – nach dem Untersuchungsbefund der jeweiligen Verhältnisse im Heimatland des Ausländers - Bürgerkriegsparteien getreten, die „den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen“ (BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 190), so ist zu prüfen, ob von diesen Parteien bzw. Organisationen schon eine quasi-staatliche Herrschaftsgewalt ausgeübt wird. Das ist dann der Fall, wenn sie eine Gebietsgewalt ausüben, die auf einer organisierten, effektiven und stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruht, wobei Effektivität und Stabilität eine „gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft“ erfordern (Nds. OVG, Urt. v. 20.1.00 – 7 L 4229/98 - ). Neu entstandene Machtgebilde müssen somit voraussichtlich von Dauer sein und Vorläufer neuer oder erneuerter staatlicher Strukturen (BVerwG, Urt. v. 19.5.1998 – 9 C 46 u. 48/97 -). Das soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erst dann der Fall sein, „wenn nicht mehr um die Macht im ganzen Bürgerkriegsgebiet gekämpft wird und eine dauerhafte nichtmilitärische Lösung zu erwarten ist“ (BVerwGE 105, 3o6 und AuAS 1998, 224). Hierbei soll jedoch weder erforderlich sein, dass die Gebietsgewalt das gesamte Staatsgebiet erfasst, noch aber, dass sie die einzige auf dem Staatsgebiet existierende Gebietsgewalt ist (so BVerwG, InfAuslR 1999, 283 [BVerwG 26.01.1999 - BVerwG 9 B 655/98]).

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Vom Bundesverwaltungsgericht und den Oberverwaltungsgerichten wurde die notwendige –„vorsichtige“ - Bewertung der Lage in Afghanistan auf der Grundlage der Erkenntnislage der Jahre 1999/2000 bisher in der Weise vorgenommen, dass sich bis heute – trotz einer Verfestigung der Taliban-Herrschaft in den überwiegenden Gebietsteilen Afghanistans – noch keine quasi-staatliche Herrschaft herausgebildet habe (BVerwG, InfAuslR 1998, 145 [BVerwG 04.11.1997 - BVerwG 9 C 34/96]; BVerwG, NVwZ-Beil. 11/1998, 106; BVerwG NVwZ 1999, 544; u.a. OVG Bautzen, Urt. v. 29.2.2000 – A 4 B 4289/97 -, Nds. OVG, Urt. v. 16.12.1999 – 7 L 4486/96 – und Nds. OVG, Urt.v. 3.7.2000 – 7 L 4227/98 - ). Denn die Möglichkeit, dass die Herrschaft der Taliban noch immer grundlegend in Frage gestellt werden könne, bestehe noch fort. Eine uneingeschränkte Gebietsgewalt mit dem Ausschluss des Abfalls von Teilgebieten gebe es noch nicht. Gesicherte Aussagen über Dauer und Ausgang des Bürgerkrieges in Afghanistan ließen sich noch nicht treffen, da immer noch mit Aussicht auf Erfolg um die Macht im gesamten Bürgerkriegsgebiet gekämpft werde. Dieser Einschätzung ist das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 10.8. 2000 (2 BvR 260/98 und 2 BvR 1353/98 / http/www.bverfg.de) allerdings unter Hinweis darauf ausdrücklich entgegengetreten, dass der vom Bundesverwaltungsgericht und anderen Verwaltungsgerichten bisher verwandte Maßstab zur Beurteilung „quasistaatlicher“ Gewaltausübung zu „verengt“ sei und zu wenig dem Tatbestandsmerkmal des „politisch Verfolgten“ iSv Art. 16 a Abs. 1 GG Rechnung trage. Die sachgerechte Erfassung und fachgerichtliche Bewertung der Erscheinungsformen politischer Verfolgung sei mit Blick auf Art. 16 a GG „überspannt“ und damit verfassungswidrig verengt gewesen (Rz. 18 d. Beschlusses). Das Bundesverwaltungsgericht habe seinen Wertungsrahmen zu überprüfen. Damit sind auch die Fachgerichte aufgerufen, die Erscheinungsform einer quasi-staatlichen Verfolgung im Lichte verfassungsrechtlicher Grundsätze und vor allem des Art. 16 a GG zu präzisieren und zu revidieren.

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Ob die Herrschaft der Taleban in Afghanistan auf dem Hintergrund und im Lichte des Art. 16 a GG (schon) eine quasi-staatliche Gebietsgewalt darstellt, unterliegt einer Bewertung und Einschätzung der dortigen Verhältnisse auf der Grundlage dort herrschender – nicht mittel-europäischer - Maßstäbe. Dafür spricht zunächst die auch vom Ausw. Amt konstatierte „Verfestigung der Taleban-Herrschaft“ (Lagebericht v. 24.1. 2000) mit Einführung „rudimentärer Verwaltungsstrukturen“, wobei sich auf Provinzebene sogar schon regionale Räte (Shura) gebildet haben, die ihrerseits Provinzgouverneure mit einem Verwaltungsunterbau ernannt haben, die vom Taleban-Rat in Kandahar kontrolliert werden. Der weit überwiegende Teil Afghanistans (ca. 90 %) und seiner Provinzen wird von den Taliban beherrscht. In ihrem Machtbereich haben sie die Kontrolle über das gesellschaftliche Leben durchgesetzt. Sogar ethnische Verfolgungen finden statt. In den neu eroberten Gebieten besteht zwar nicht diese umfassende Kontrolle, auch flammen gelegentlich hier und da lokale Unruhen auf, aber die Taliban können sie regelmäßig eindämmen und ihre Herrschaft wiederherstellen (AA, Lagebericht v. 27. Juli 2000). Damit üben die Taliban innerhalb ihres Machtbereichs eine quasi-staatliche Gewalt in dem Sinne aus, dass sie Gegner ihrer Herrschaft bzw. als solche betrachtete oder auch nur missliebige Personen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtmitteln in ihrem Herrschaftsbereich politisch verfolgen können. Das reicht für eine asylrelevante Verfolgung aus. Dass es ein geregeltes Justizsystem mit europäischen Garantien in diesem Macht- und Herrschaftsbereich (noch) nicht gibt, stellt jedenfalls die Möglichkeit einer quasi-staatlichen Verfolgung gerade nicht in Frage, sondern unterstreicht sie und die Schutzlosigkeit der Bevölkerung nur (vgl. auch VG Würzburg, Urt. v. 18.9.2000 - W 7 K 00.30422 - und VG Frankfurt/Main, Urt. v. 21.9.2000 - 5 E 3417/00.A (V)).

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Dem Kläger steht bei Anwendung dieser Maßstäbe der Schutz des § 51 Abs. 1 AuslG ohne Frage zu.

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Insoweit ist zunächst auf die Niederschrift über die Anhörung gem. § 25 AsylVfG vom 5. Juni 2000 Bezug zu nehmen, in der festgehalten ist, dass er tadschikischer Volkszugehöriger ist (S. 2). Schon diese Zugehörigkeit des Klägers zur Bevölkerungsgruppe der Tadschiken stellt eine große, nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle dar, wie die Zwangsevakuierung der vorwiegend tadschikischen Bevölkerung beim Vormarsch auf das Panschir-Tal gezeigt hat, als nach Schätzungen des UNHCR ca. 80.000 Personen umgesiedelt und entwaffnet wurden, die bisher nicht wieder in ihr Heimatgebiet zurückkehren durften (Lagebericht des AA v. 24.1.2000). Willkürliche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen werden seitdem in unregelmäßigen Zeitabständen fortgesetzt (so Lagebericht des Ausw. Amtes v. 9.5.2001). Allerdings mag es sein, dass eine Gruppenverfolgung von Tadschiken noch nicht angenommen werden kann (vgl. dazu Hambg. OVG, Urt. v. 12.1.01 - 1 Bf 59/98.A -). Soweit im angefochtenen Bescheid (S. 15) demgegenüber allerdings noch vom traditionellen Nebeneinander verschiedener Ethnien in Kabul und von tadschikischen Bevölkerungsanteilen in Herat ausgegangen wird, ist dieser Ausgangspunkt inzwischen völlig überholt (vgl. Hambg. OVG, aaO.):

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„Demzufolge kann davon ausgegangen werden, dass die Taliban den Angehörigen der tadschikischen Volksgruppe mit grundsätzlichem Misstrauen begegnen und diese schon wegen ihrer Volkszugehörigkeit als mutmaßliche Unterstützer oder Sympathisanten des Bürgerkriegsgegners ansehen. Im Zuge der Eroberung Kabuls und weiter Teile des Nordens, insbesondere bei der (erneuten) Eroberung Mazar-e-Sharifs am 8. August 1998, durch die Taliban ist es auch zu Übergriffen, Verhaftungen und Misshandlungen - u.a. - der tadschikischen Bevölkerung gekommen“ (S. 9 des Urt.-Abdr.).

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 Es dürfte jetzt - im Jahre 2001 - vielmehr die aus dem Frühjahr 2000 stammende Einschätzung des Klägers zutreffen, dass er nach den geschilderten Vorkommnissen u.a. schon wegen seiner tadschikischen Herkunft verdächtigt werden wird, ein Spion zu sein.  

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Unterstrichen wird diese Gefahr nun hier jedoch deutlich dadurch, dass der Kläger nach seinen insgesamt glaubhaft wirkenden, durch viele Einzelheiten und die Angabe von Namen konkretisierten Ausführungen (bei seiner Anhörung vom 5. Juni 2000) aus einem ganz bestimmten Anlass - dem aufgebrochenen Aktenschrank, in dem sich vertrauliche Berichte befunden haben - heraus festgenommen, unter dem Vorwurf, ein Spion zu sein, zunächst 7 Tage lang verhört und sodann - nach Verlegung in das Gefängnis „Pol-e-Charkhi“ - tagelang gefoltert worden sein dürfte. Die Darlegungen des Klägers dazu (S. 7/8 des Anhörungsprotokolls) sind nachvollziehbar und mit Blick auf die neueren Nachrichten aus Afghanistan glaubwürdig. Die hieraus - verbunden mit dem Vorwurf der Kollaboration - resultierende Gefährdung ist schon in einer Auskunft des Ausw. Amtes v. 16.9.1997 an das VG Aachen angesprochen worden, wo für Einzelfälle der Kollaboration, etwa bei Personen, denen konkrete Taten vorgeworfen werden, eine entsprechende Gefährdung festgestellt wurde.    

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Bei einer Rückkehr nach Afghanistan hätte der Kläger demzufolge eine politisch motivierte Verfolgungen durch die Taliban zu befürchten, wobei die Praxis „extralegaler Tötungen missliebiger Gegner“ (so Lagebericht des Ausw. Amtes v. 9.5.2001, S. 9 unten) einzubeziehen ist.

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Das im Bescheid geäußerte Ansinnen (S. 6/7), sich nach den Verhören und Folterungen (s.o.) einem „Gerichts- oder Disziplinarverfahren“ zu stellen, „um seine Unschuld zu beweisen“, liegt im vorliegenden Fall schon deshalb neben der Sache, weil der Kläger eben das nach seinem Vorbringen bereits vergeblich versucht hat - mit letztlich der Erfahrung der Auspeitschung bis zur Bewußtlosigkeit (S. 7 des Anhörungsprotokolls). Im Übrigen geht das gen. Ansinnen offenbar von justiziellen Verfahrensweisen aus, die im mitteleuropäischen Raum und auch in anderen demokratisch strukturierten Staaten regelmäßig - von Ausnahmen abgesehen - gepflogen und eingehalten werden, im quasi-staatlichen Herrschaftsbereich der Taleban jedoch nicht anzutreffen sind:

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„Eine reguläre Gerichtsbarkeit oder gar Rechtssicherheit gibt es in Afghanistan nicht, die Strafverfolgung liegt in der Regel in den Händen der jeweiligen Machthaber. Die Einführung des islamischen Rechts der Scharia hat zu einer generellen Verschärfung der Menschenrechtslage geführt.“ - so Lagebericht des Ausw. Amtes v. 9.5.2001). 

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Auf eine inländische Fluchtalternative könnte der Kläger nach Lage der Dinge nicht verwiesen werden, da die Gebiete im Nordosten Afghanistans ohne eine unzumutbare Leibes- und Lebensgefahr nicht erreichbar sind (BVerwGE 104, 265; VGH Mannheim, NVwZ-Beil. 11/1998, S. 106; Lagebericht des Ausw. Amtes v. 9.5.2001, S. 13).

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Eine Entscheidung zum Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (vgl. dazu Hambg. OVG Urt. v. 23.2.2001 - 1 Bf 127/98. A - : Extreme Gefahrenlage für Rückkehrer, die keinen familiären oder sonstigen Rückhalt mehr vorfinden; Hess. VGH, Inf-AuslR 1999, 296) ist im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 51 Abs. 1 AuslG entbehrlich (§ 31 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG analog).

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 iVm 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.