Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 14.08.2001, Az.: 4 A 10/99

Aufklärungspflicht; Bosnien und Herzegowina; Ermessen; Kostenerstattung; Verpflichtungserklärung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
14.08.2001
Aktenzeichen
4 A 10/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 40192
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der Kläger wendet sich gegen die von ihm verlangte Erstattung von Sozialhilfeaufwendungen, die der Beklagte für drei Staatsangehörige Bosnien und Herzegowinas erbracht hat.

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Der Kläger beantragte am 18. August 1993 die Zustimmung des Beklagten für eine befristete Aufenthaltserlaubnis in Form eines Sichtvermerks zur besuchsweisen Einreise der Familie C. , der drei Personen angehörten. Dabei füllte er die Ziff. 3 des Vordrucks:  "Reisezweck" und Ziff. 4:  "Aufenthaltsdauer" nicht aus. Am selben Tag unterzeichnete er  auf gesondertem Formular für alle Familienmitglieder eine Erklärung, in der es u.a. heißt:

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" Ich, ..... verpflichte mich, für

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1. den Lebensunterhalt

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2. die Krankenversicherung bzw. alle entstehenden Kosten einer ambulanten sowie stationären ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung

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3. die Kosten einer evtl. Rückführung in das Heimatland für die nachstehend genannten Personen voll und ganz während ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland aufzukommen.

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Am 19. August 1993 erteilte der Beklagte die Zustimmung zur Erteilung eines Sichtvermerks. Am 27 . August 1993 erhielt Familie C.  von der Deutschen Botschaft Belgrad ein Visum für die Zeit vom 27. August 1993 bis zum 26. September 1993 mit dem Zusatz "Besuchsreise, Gewerbeausübung und Arbeitsaufnahme nicht gestattet". Nach der Einreise der Familie erteilte der Beklagte erstmals am 2. September 1993 und dann fortlaufend Duldungen bis zu ihrer Ausreise im Juli 1998.  Auf ihren Antrag vom Januar 1994 hin erhielt die Familie bis dahin Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Unter Hinweis auf die Verpflichtungserklärungen des Klägers gewährte der Beklagte dabei zunächst nur Krankenhilfeleistungen. Ab Januar 1995 wurde auch laufende Hilfe zum Lebensunterhalt gezahlt.

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Im Januar 1995 bat der  Beklagte den Kläger um Mitteilung, wie er seiner Verpflichtung nachkomme, für den Unterhalt der Familie zu sorgen und wies darauf hin, dass er die aufgewendeten öffentlichen Mittel von dem Kläger zurückfordern werde, wenn er gezwungen sei, Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Der Kläger wandte sich gegen eine Erstattungspflicht seinerseits. Nachdem ihm die Beschäftigung polnischer Hilfskräfte für die Erntesaison verweigert worden sei, und deutsche Arbeitskräfte nicht zur Verfügung gestanden hätten, seien ihm Arbeitskräfte aus Bosnien angeboten worden. Wegen des Arbeitskräftemangels habe er hierauf eingehen müssen. Er sei vom Arbeitsamt Lüneburg und vom Sozialamt des Beklagten aufgefordert worden, für die Eheleute C.  eine Arbeitserlaubnis zu beantragen. Nach Aufforderung durch das Sozialamt habe er auch die Verpflichtungserklärungen unterzeichnet. Dabei habe man ihm versichert, dass er hieraus nicht in Anspruch genommen werde. Er habe nur beabsichtigt, die Familie C.  als Saisonarbeiter bzw. Erntehelfer für einen Zeitraum von längstens drei Monaten zu beschäftigen. Nur unter dieser Prämisse, die auch dem Beklagten habe bekannt sein müssen, habe er die Verpflichtungserklärung unterschrieben. Den Erklärungen lasse sich deswegen im Wege der Auslegung entnehmen, dass er für die Familie nur für den Zeitraum der Beschäftigung bei ihm habe aufkommen wollen. Die Entscheidung des Landes Niedersachsen, Betroffenen des jugoslawischen Bürgerkrieges zu helfen, könne nicht zu seinen, des Klägers, Lasten gehen.

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Mit Bescheid vom 29. August 1996 forderte der Beklagte den Kläger auf, die in dem Zeitraum vom 3. Januar 1995 bis zum 18. August 1995 für die Familie C.  monatlich gewährte laufende Hilfe zum Lebensunterhalt sowie die Bekleidungsbeihilfe in Höhe von insgesamt 17.263,63 DM zu erstatten. Zur Begründung heißt es:

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"Die Forderung beruht auf § 84 AuslG i.V.m. § 14 Abs. 1 Satz 2 AuslG. Herr R.  hat sich mit 3 Erklärungen am 18. August 1993 gemäß § 84 AuslG verpflichtet, den Lebensunterhalt für die Familie C.  während deren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zu zahlen. Tatsächlich ist er dieser Verpflichtung aber zumindest in der Zeit vom 03.01.1995 bis zum 18.08.1995 nicht nachgekommen, so daß ich gemäß § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) i.V.m. § 11 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) den Lebensunterhalt für die Familie C.  sicherstellen mußte. Dementsprechend habe ich aus der o.g. Rechtsgrundlage einen Erstattungsanspruch gegen Herrn R.  für die aufgewandten öffentlichen Mittel."

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Am 12. September 1996 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch und verwies dabei auf sein bisheriges Vorbringen.

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Mit Bescheid vom 18. Dezember 1998 wies die Bezirksregierung Lüneburg den Widerspruch zurück. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt:

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Es sei unstreitig, dass der Kläger die Verpflichtungserklärungen abgegeben habe, wobei in der Überschrift eindeutig darauf hingewiesen werde, dass es sich um Erklärungen nach §§ 82, 84 AuslG handele. Eine zeitliche Befristung sei hierin nicht vermerkt, es sei insbesondere nicht zu ersehen, dass sie nur für drei Monate hätten gelten sollen. Die Ausländer seien erst auf Grund des von der Deutschen Botschaft ausgestellten Visums eingereist. Ein derartiges Visum werde zu Besuchszwecken ausgestellt und schließe eine Arbeitsaufnahme aus. Wenn der Kläger die Erklärung abgegeben habe, um die Familie als Erntehelfer zu beschäftigen, sei von ihm ein Verstoß gegen das Ausländergesetz billigend in Kauf genommen worden. Es bestehe ein kausaler Zusammenhang zwischen der Einreise der Familie C.  und der später eingetretenen Hilfsbedürftigkeit. Dem Kläger habe auch bewusst sein müssen, dass speziell bei bosnischen Staatsbürgern eine spätere Rückführung wegen der tatsächlichen Verhältnisse im Jahr 1993 nicht möglich sein werde. Die Höhe der Inanspruchnahme werde nicht angegriffen und sei auch nicht zu beanstanden, da nur die über einen Zeitraum von 2 Jahren aufgewendeten Mittel verlangt würden. Es seien auch keine Gründe vorgetragen worden, aus denen sich ersehen lasse, dass sich der Kläger über die Tragweite seiner Erklärung nicht im Klaren gewesen sei.

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Der Kläger hat am 21. Januar 1999 Klage erhoben. Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf sein bisheriges Vorbringen. Ergänzend trägt er vor, nach der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts sei die Erstattungspflicht auf den Zeitraum der Befristung des Visums beschränkt. Hier sei das Visum nur bis zum 26. September 1993 erteilt worden. Dies decke sich mit seinem Vortrag, dass die Einreise der Familie nur deswegen erfolgt sei, um während des Septembers als Erntehelfer zu arbeiten. Die Arbeitserlaubnis für die Eheleute C.  zeige, dass diese von ihm, dem Kläger, nur für die Dauer vom 5. September 1993 bis zum 26. September 1993 beantragt worden und lediglich befristet bis zum 30. September 1993 erteilt worden sei.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 29. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Lüneburg vom 18. Dezember 1998 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er trägt im Wesentlichen vor, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts umfasse eine für die gesamte Dauer des Aufenthalts abgegebene Verpflichtungserklärung für die Einreise bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge den gesamten bürgerkriegsbedingten Aufenthalt. Der Kläger habe seine Verpflichtungserklärungen nicht befristet. Bei der Frage der Heranziehung sei er, der Beklagte, davon ausgegangen, dass Geldleistungsansprüche, die der Verwaltung zustehen, auch durchgesetzt werden sollten. Es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar gewesen, dass der Rückforderungsbetrag die Leistungsfähigkeit des Klägers übersteige. Auch habe er sämtliche Krankenhilfezahlungen, die er für Familie C.  aufgebracht habe, unberücksichtigt gelassen. Dabei habe er der Tatsache Rechnung tragen wollen, dass der genaue Aufenthalt der Familie C.  auch für den Kläger nicht überschaubar gewesen sei. Es habe einer gerechten Verteilung entsprochen, dem Kläger die Kosten für den Lebensunterhalt und die einmaligen Beihilfen aufzuerlegen, während der Beklagte allein für die Krankenhilfekosten aufgekommen sei. Auch durch die Beschränkung des Erstattungsanspruches auf zwei Jahre sei dem Umstand Rechnung getragen worden, dass eine uneingeschränkte Heranziehung unverhältnismäßig gewesen sei.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze und auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 29. August 1996 und der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 18. Dezember 1998 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Der Beklagte kann nicht auf der Grundlage des § 84 AuslG von dem Kläger die Erstattung eines Betrages von 17.263,63 DM verlangen, den er in der Zeit vom 3. Januar 1995 bis zum 18. August 1995 für die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt sowie die Bekleidungsbeihilfen der Familie C.  aufgewendet hat. Nach der genannten Vorschrift hat derjenige, der sich der Ausländerbehörde oder einer Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen, sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum und im Krankheitsfall sowie bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen. § 84 AuslG begründet dabei auch die Befugnis des Beklagten, den aus der Vorschrift folgenden Erstattungsanspruch durch Verwaltungsakt geltend zu machen (BVerwG, Urt. v. 24.11.1998 - 1 C 33.97 - BVerwGE 108, 1).

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Voraussetzung für einen derartigen Anspruch ist zunächst eine schriftliche (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AuslG), hinreichend bestimmte, einseitige und empfangsbedürftige Willenserklärung des Verpflichteten, die von ihrem Inhalt und ihrem Umfang  die begehrte Erstattung deckt.

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Daran fehlt es hier bereits. Zunächst kann den Verpflichtungserklärungen des Klägers vom 18. August 1993 nicht entnommen werden, dass der Kläger noch im Jahr 1995 für den Lebensunterhalt der Familie C.  aufkommen wollte. Im Hinblick auf die zeitliche Reichweite einer derartigen Erklärung hat dabei das Bundesverwaltungsgericht entgegen der Auffassung des Beklagten nicht allgemein entschieden, dass Verpflichtungserklärungen, die im Zusammenhang mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus Bosnien und Herzegowina während des Krieges Anfang der 90er Jahre abgegeben wurden, generell für die Dauer des kriegsbedingten Aufenthalts gelten sollten. Vielmehr sind Inhalt und Umfang der eingegangenen Verpflichtung nach den allgemeinen, für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätzen der §§ 133, 157 BGB durch Auslegung der jeweiligen Verpflichtungserklärung anhand aller erkennbaren objektiven Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Die Unterhaltsverpflichtung endet, wenn sie nicht ausdrücklich befristet ist, nach Maßgabe der Auslegung im Einzelfall mit dem Ende des vorgesehenen Aufenthaltes oder dann, wenn der ursprüngliche Aufenthaltszweck durch einen anderen ersetzt und dies aufenthaltsrechtlich anerkannt worden ist (z. Vorst.: BVerwG, Urt. v. 24.11.1998 - 1 C 33.97- BVerwGE 108, 1). In der von dem Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fallgestaltung hatte sich dabei die Klägerin des Verfahrens verpflichtet, für den Lebensunterhalt von vor dem Bürgerkrieg fliehenden Familienangehörigen aufzukommen. Vor dem Hintergrund der im Jahre 1992 getroffenen Regelungen zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Bosnien und Herzegowina, die auch der Klägerin dieses Verfahrens bekannt waren, war das Bundesverwaltungsgericht dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass sich die von ihr eingegangene Verpflichtung auf die Gesamtdauer des bürgerkriegsbedingten Aufenthaltes erstrecken sollte.

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Die Auslegung der von dem Kläger abgegebenen Verpflichtungserklärungen rechtfertigt diesen Schluss nicht. Zwar enthalten die Erklärungen keine Angaben zur Dauer des geplanten Aufenthaltes. Nach den Umständen, unter denen sich der Kläger verpflichtet hat, war aber ersichtlich, dass er lediglich für einen kurzen Zeitraum  den Unterhalt der Familie C.  sicherstellen wollte. Der Kläger ist  - was auch für den Beklagten bei Entgegennahme der Verpflichtungserklärung erkennbar war - mit der Familie C.  weder verwandt, noch bestand eine anderweitige persönliche Beziehung. Vor diesem Hintergrund ist plausibel, wenn der Kläger vorträgt, er habe das Ehepaar C.  als Erntehelfer für die Dauer von höchstens drei Monaten beschäftigen wollen und habe sich dementsprechend lediglich für die Dauer dieses Zeitraumes  verpflichten wollen. Hierfür spricht auch der Umstand, dass der Kläger am 23. August 1993 eine Arbeitserlaubnis für Herrn C.  nur für die Dauer vom 5. September 1993 bis zum 26. September 1993 beantragt hatte, was sich aus der im Rahmen des vorgelegten Verfahrens in Kopie vorgelegten Arbeitserlaubnis für Herrn C.  ersehen lässt. Mithin erstreckte sich die von dem Kläger abgegebene Verpflichtungserklärung nicht auf den Zeitraum von Januar bis August 1995, für den der Beklagte die Erstattung der Kosten fordert.

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Die von dem Kläger abgegebene Verpflichtungserklärung ist auch unwirksam, weil der Beklagte seine gegenüber dem Kläger bestehenden Aufklärungspflichten verletzt hat. Aus den allgemeinen Grundsätzen der Rechts - und Sozialstaatlichkeit folgt eine Pflicht der Ausländerbehörde, den Bürger, der eine Verpflichtungserklärung nach § 84 Abs. 1 AuslG abgibt, über deren Folgen und Risiken umfassend aufzuklären, weil der sich verpflichtende Bürger ohne eine umfassende und sachgemäße Belehrung im Regelfall nicht in der Lage ist, die mit seiner Erklärung verbundenen finanziellen Auswirkungen abzuschätzen. Die Ausländerbehörde muss deswegen im Einzelfall umfassend darüber informieren, für welche Aufwendungen er erstattungspflichtig werden kann und mit welchen finanziellen Auswirkungen dies verbunden sein kann. Für die Durchführung und den Umfang der Belehrung ist die Stelle darlegungs- und beweispflichtig, die den Erstattungsanspruch geltend macht (z. Vorst.: Nds.OVG, Urt. v. 27.8.1998 - 11 L 492/97 - FEVS 49, 316; HessVGH, Urt. v. 29.8.1997 - 10 UE 2030/95 - NVwZ - RR 1998, 393). Im vorliegenden Fall bestand für eine derartige Aufklärung mit Blick auf die damalige Bürgerkriegssituation in Bosnien und Herzegowina besonderer Anlass. Hier hätte der Kläger darauf hingewiesen werden müssen, dass die Dauer des Aufenthaltes der Familie C.  nicht absehbar war und dass ihn die mit der Verpflichtung eingegangenen Unterhaltspflichten unter Umständen längere Zeit treffen könnte. Es kann auch nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass dem Kläger - anders als dem Beklagten - die Lage in Bosnien und Herzegowina bekannt war, die eine kurzfristige Rückkehr der Familie C.  in ihr Heimatland bereits zum Zeitpunkt ihrer Einreise als ausgeschlossen erscheinen ließ.

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Zuletzt sind die angefochtenen Entscheidungen auch deswegen rechtswidrig, weil der Beklagte hinsichtlich der Rückforderung von dem ihm zustehenden Ermessenen keinen Gebrauch gemacht hat. Zu der Frage der Ermessensausübung hat das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf einen Kostenerstattungsanspruch nach § 84 AuslG (Urt. v. 24.11.1998 - 1 C 33.97 - BVerwGE 108, 1) Folgendes ausgeführt:

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"Die Frage, ob die anspruchsberechtigte öffentliche Stelle den Verpflichteten heranzuziehen hat oder unter welchen Voraussetzungen sie davon absehen kann, ist in § 84 AuslG nicht geregelt. Insbesondere läßt sich aus der Bestimmung der gesetzlichen Folgen einer Verpflichtungserklärung in § 84 Abs. 1 AuslG (Begründung eines Erstattungsanspruchs) nicht ableiten, daß die zuständige Stelle ausnahmslos verpflichtet wäre, einen danach gegebenen Erstattungsanspruch geltend zu machen. Eine Verweisung auf einschlägige Vorschriften in anderen Rechtsgebieten wie etwa im Abgabenrecht fehlt. Diese (unbeabsichtigte) Regelungslücke kann unter Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze geschlossen werden.

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Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und das Gebot, bei der Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten (vgl. § 6 Abs. 1 HGrG), verlangen in der Regel, daß die öffentliche Hand ihr zustehende Geldleistungsansprüche durchzusetzen hat (vgl. BVerfGE 30, 292 <332>; Urteil vom 16. Juni 1997 - BVerwG 3 C 22.96 - BVerwGE 105, 55 <58>). Die Rechtsordnung sieht aber zugleich, wenn auch rechtstechnisch in unterschiedlichen Ausformungen, durchweg vor, daß von dieser Regel bei Vorliegen atypischer Gegebenheiten abgewichen werden kann. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß die strikte Anwendung der Gesetze Folgen haben kann, die vom Gesetzgeber nicht gewollt sind und mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Verhältnismäßigkeit, insbesondere der Rücksichtnahme auf die individuelle Leistungsfähigkeit nicht vereinbar wären. Zu erwähnen sind zunächst die im Abgabenrecht (vgl. insbesondere §§ 163, 227 AO; § 135 Abs. 5 BauGB) vorgesehenen Billigkeitsentscheidungen. Vor allem aber sind Rückforderungs- und Erstattungsansprüche typischerweise von Ermessensentscheidungen abhängig, bei denen auf die Umstände des Einzelfalls einzugehen ist (vgl. § 87 Abs. 2 Satz 3 BBG; § 12 Abs. 2 Satz 3 BBesG; § 52 Abs. 2 Satz 3 BeamtVG; vgl. dazu Urteil vom 8. Oktober 1998 - BVerwG 2 C 21.97 - ; §§ 48, 49, 49 a VwVfG; vgl. dazu Urteil vom 16. Juni 1997, a.a.O., S. 57 ff.; §§ 45, 47, 50 Abs. 2 SGB X; BSGE 60, 209 [BSG 03.09.1986 - 9a RV 10/85] <214>; § 92 a Abs. 1 Satz 2 BSHG). Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen, ist danach nicht den vollstreckungsrechtlichen Instrumenten der Stundung, der Niederschlagung und des Erlasses vorbehalten (vgl. § 31 Abs. 2 HGrG; § 59 BHO), vielmehr bereits bei der Geltendmachung der Forderung von rechtlicher Bedeutung.

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Diese Grundsätze sind auf den Erstattungsanspruch nach § 84 Abs. 1 AuslG zu übertragen, weil der ihnen gemeinsame Rechtsgedanke auch hier Geltung beansprucht. Demgemäß ist der Verpflichtete im Regelfall zur Erstattung heranzuziehen, ohne daß es dahin gehender Ermessenserwägungen bedürfte. Ein Regelfall wird vorliegen, wenn die Voraussetzungen der Aufenthaltsgenehmigung einschließlich der finanziellen Belastbarkeit des Verpflichteten im Verwaltungsverfahren voll und individuell geprüft worden sind und nichts dafür spricht, daß die Heranziehung zu einer unzumutbaren Belastung des Verpflichteten führen könnte. Hingegen hat die erstattungsberechtigte Stelle bei atypischen Gegebenheiten im Wege des Ermessens zu entscheiden, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird und welche Zahlungserleichterungen dem Verpflichteten etwa eingeräumt werden. Wann in diesem Sinne ein Ausnahmefall vorliegt, ist anhand einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden und unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung. Die zu den erwähnten haushalts- und abgabenrechtlichen Billigkeitsvorschriften entwickelten Fallgruppen sachlicher und persönlicher Härte (vgl. zusammenfassend Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 15. Aufl., § 22 Rn. 333 ff.) können einen Anhalt dafür bieten. Im übrigen ist unter Würdigung vornehmlich der Umstände, unter denen die jeweilige Verpflichtungserklärung abgegeben worden ist, zu klären, ob die Heranziehung zur vollen Erstattung der Aufwendungen gemäß § 84 Abs. 1 AuslG namentlich im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist oder ob es weiterer Erwägungen bedarf, um zu einem angemessenen Interessenausgleich zu gelangen."

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Hier lag eine atypische Fallgestaltung vor, die eine derartige Ermessensentscheidung des Beklagten gefordert hätte, inwieweit eine Rückforderung erfolgen sollte. Der Familie C.  war das Visum zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland offensichtlich im Zusammenhang mit der Aufnahme bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge Anfang der 90er Jahre auf der Grundlage des Beschlusses der Ständigen Konferenz der Innenminister und - senatoren der Länder - IMK - vom 22. Mai 1992 zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Bosnien und Herzegowina erteilt worden, zu dem  der Bundesminister des Innern sein Einvernehmen gegeben hatte. Dies zeigt die Verfahrensweise des Ausländeramtes des Beklagten, das bereits einen Tag nach Abgabe der Verpflichtungserklärung durch den Kläger ohne weitere Überprüfung, insbesondere ohne den ansonsten erforderlichen Nachweis des Krankenversicherungsschutzes sowie ohne Prüfung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Klägers dem Visum nach § 11 Abs. 1 DVAuslG zustimmte. Als Folge des Beschlusses der IMK wurden nämlich im Hinblick auf die mit der völkerrechtlichen Anerkennung Bosnien und Herzegowinas entstandene Visumspflicht verschiedene Maßnahmen zur Beschleunigung der Visumverfahrens bei den deutschen Auslandsvertretungen getroffen. Ein wesentlicher Bestandteil der Regelung war, dass die Ausländerbehörden Vorabzustimmungen nach § 11 Abs. 1 DVAuslG erteilen sollten, wenn im Bundesgebiet lebende Verwandte oder Bekannte, Wohlfahrtsverbände oder Kirchen erklärten, Obdach und Lebensunterhalt für die aufzunehmenden Bürgerkriegsflüchtlinge zu gewähren (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 24.11.1998 - 1 C 33.97 - BVerwGE 108, 1).

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Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem bereits zitierten Urteil vom 24. November 1998 entschieden, dass bei Verpflichtungserklärungen, die - wie hier - im Zusammenhang mit der Aufnahme bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge Anfang der 90er Jahre abgegeben wurden, eine atypische Fallgestaltung gegeben war, die bei der Frage, ob und in welchem Umfang Erstattung begehrt wird, einzelfallbezogene Ermessenserwägungen erfordert. Es hat hierzu ausgeführt:

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"Anders als in den typischen Fällen, in denen der Aufenthalt des Ausländers in Deutschland allein oder überwiegend private Gründe hat und dementsprechend der Lebensunterhalt ausschließlich von privater Seite zu sichern ist, war die Aufnahme der bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge eine öffentliche Angelegenheit. Dies findet namentlich in der politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörden und des Bundesministers des Innern (IMK-Beschluß vom 22. Mai 1992) ihren Ausdruck, die Bosnienflüchtlinge gemäß § 54 AuslG zu dulden (vgl. nunmehr auch § 32 a AuslG sowie BTDrucks 12/4450, S. 30 ff.). Dementsprechend sollten die mit der Aufnahme verbundenen Lasten und Risiken nicht nur von Privaten und nichtstaatlichen Stellen, sondern auch von der öffentlichen Hand getragen werden. So wurde auf den Nachweis privaten Krankenversicherungsschutzes verzichtet und der Arbeitsmarkt für Bosnienflüchtlinge geöffnet. Zum anderen haben die zuständigen Behörden Mitverantwortung durch die Handhabung der Aufnahmevoraussetzungen übernommen. Wie dargelegt, waren die Verpflichtungserklärungen vor allem im Hinblick auf die ungewisse Dauer des Aufenthalts der Flüchtlinge mit dem Risiko verbunden, zu Erstattungen gemäß § 84 Abs. 1 AuslG in kaum abschätzbarer Höhe verpflichtet zu werden. Dessen ungeachtet erlaubten die zuständigen Behörden die Einreise der Flüchtlinge regelmäßig bereits auf die Abgabe einer Verpflichtungserklärung hin und ohne Prüfung der finanziellen Verhältnisse des Verpflichtungsgebers. Aufgrund dieser - im Interesse der beschleunigten Aufnahme der Flüchtlinge und wegen der berechtigten Erwartung weitreichender familiärer und humanitärer Solidarität durchaus legitimen - Verfahrensweise ist bei der ausländerrechtlichen Entscheidung im Grunde offengelassen worden, in welchem Umfang vom Verpflichtungsgeber Erstattungen gemäß § 84 Abs. 1 AuslG verlangt werden können. Dabei ist zu berücksichtigen, daß nicht nur die Verpflichteten ein Risiko eingegangen sind, sondern auch die zuständigen Behörden eine Risikoentscheidung getroffen und damit Mitverantwortung für die entstandenen Kosten übernommen haben. Sie haben sich nämlich zur Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen bereit gefunden, auch wenn im Einzelfall nicht nachgewiesen war, daß die Aufwendungen für deren Lebensunterhalt durch den jeweiligen Verpflichteten bei Eintritt aller Eventualitäten getragen werden können. Die zuständigen Behörden haben daher das mit der Einreise und dem Aufenthalt der Flüchtlinge verbundene Kostenrisiko gleichsam mitübernommen. Das macht es erforderlich, bei der Heranziehung zu Erstattungsleistungen im Ermessenswege zu prüfen, ob es unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist, daß die finanziellen Folgen dieser Risikoentscheidung allein von den Verpflichteten getragen werden."

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Der Beklagte hat keine derartigen Ermessenserwägungen angestellt. Vielmehr zeigen die Ausführungen in dem Bescheid vom 29. August 1996, dass er den ihm zustehenden Ermessensspielraum nicht kannte. Auch der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 18. Dezember 1998 enthält keine Ermessenserwägungen. Die Ausführungen des Beklagten im Rahmen des Gerichtsverfahrens können diesen Mangel auch mit Rücksicht auf die Vorschrift des § 114 Satz 2 VwGO nicht heilen. Hiernach kann die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. § 114 Satz 2 VwGO ermöglicht aber lediglich die Ergänzung von unvollständigen Erwägungen. Wurde - wie hier - Ermessen nicht ausgeübt, ist die Regelung nicht anwendbar (Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rn. 51). Der Umstand, dass von dem Kläger die Erstattung der geleisteten Krankenhilfe nicht gefordert wurde, rechtfertigt entgegen den Ausführungen des Beklagten dabei ebenso wenig den Schluss auf eine Ermessensausübung insbesondere unter Berücksichtigung der vorliegenden besonderen Situation wie die zeitliche Beschränkung des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruches. Die Kosten der Krankenhilfe für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina, die - wie die Familie C.  - nicht in Sonderaktionen aufgenommen wurden, wurden dem Beklagten nämlich nach dem Erlass des Ministeriums für Bundes - und Europaangelegenheiten vom 12. März 1993 (Nds.MBl. S. 345) von dem Land Niedersachsen erstattet. Dementsprechend hat der Beklagte auch die Kosten für die der Familie C.  geleistete Krankenhilfe bei dem Land Niedersachsen zur Erstattung angemeldet. Zeitlich hat der Beklagte den Erstattungsanspruch beschränkt, weil - wie er in einem Schreiben vom 27. Februar 1996 an den Kläger mitgeteilt hat - sich aus der damaligen Rechtsprechung ergeben habe, dass die Erstattungspflicht bis zu zwei Jahren nach Abgabe der Erklärung bestehe.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 AuslG; die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.