Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 14.01.2002, Az.: 3 A 3311/99

Anerkennung einer während des Heilverfahrens erlittenen Verletzung als Folge eines Dienstunfalls; Bestehen eines zeitlichen, inhaltlichen und örtlichen Zusammenhang im Sinne der Kausalität; Körperhygiene bzw. Duschen während der stationären Behandlung in einer Klinik

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
14.01.2002
Aktenzeichen
3 A 3311/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 24589
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2002:0114.3A3311.99.0A

Fundstellen

  • KHuR 2002, 47
  • NVwZ-RR 2002, 862-863 (Volltext mit amtl. LS)

Verfahrensgegenstand

Anerkennung eines Dienstunfalls (§ 31 Abs. 2 Satz 3 BeamtVG)

Prozessführer

der Lehrerin ...

Prozessgegner

...

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Ein (erneuter) Unfall, den der durch einen Dienstunfall Verletzte Beamte bei Durchführung des Heilverfahrens erleidet, gilt als Folge des Dienstunfalls.

  2. 2.

    Um einen solchen Heilverfahrensunfall annehmen zu können, muss der verletzte Beamte im Unfallzeitpunkt eine Tätigkeit verrichten, die mit der konkreten Durchführung des Heilverfahrens in rechtlich wesentlichem inneren Zusammenhang steht, die es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der dienstunfallrechtlich geschützten Tätigkeit zuzurechnen. Auch aus grundsätzlich dem privaten Bereich zuzurechnenden Verrichtungen des täglichen Lebens (etwa Nahrungsaufnahme, Hygiene, Ruhe und Erholung) entstehende Unfälle "bei" der Heilbehandlung eines Beamten können der Maßnahme funktional so verbunden sein, dass sie dienstunfallrechtlich geschützt sind.

  3. 3.

    Für einen Dienstunfallschutz ist nicht entscheidend, ob die Verrichtung der Heilbehandlung objektiv dient oder dienen kann, sondern es genügt, dass der Verletzte subjektiv der Meinung ist und von seinem Standpunkt aus bei den objektiv gegebenen Verhältnissen auch sein kann, die Verrichtung sei geeignet, der Heilbehandlung zu dienen.

In dem Rechtsstreit
hat das Verwaltungsgericht Göttingen - 3. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Januar 2002
durch
den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Lichtenfeld als Einzelrichter
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 03.08.1999 und des Widerspruchsbescheides vom 15.09.1999 verpflichtet festzustellen, dass der Unfall, der Klägerin vom 16.06.1999 (basocervicale Schenkelhalsfraktur links) während der stationären Behandlung in der Klinik Herzberg als Folge des anerkannten Dienstunfalls der Klägerin vom 29.01.1999 gilt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des gegen sie festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1

I.

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung einer Oberschenkelhalsfraktur als Dienstunfallfolge im Sinne des § 31, Abs. 2 Satz 3 BemtVG.

2

Die 19... geborene Klägerin erlitt am 29.01.1999 auf dem Weg von ihrer Dienststelle einen Dienstunfall, den die Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 01.04.1999 mit der Diagnose "Patellamehrfragmentfraktur - Fraktur der Kniescheibe -, links, unter Ausschluss der bereits bestehenden schweren Vorschäden des Kniegelenks links als Dienstunfall nach § 31 BeamtVG anerkannte.

3

Am 15.06.1999 wurde die Klägerin wegen einer operativen Metallentfernung nach der erlittenen linken Patellamehrfragmentfraktur in der Klinik ... stationär aufgenommen. Am Morgen des 16.06.1999 - dem geplanten Operationstermin - stürzte die Klägerin nach dem Duschen beim Aussteigen aus der Duschkabine ihres Krankenzimmers, fiel auf die linke Hüfte und zog sich eine "basocervicale Schenkelhalsfraktur links" zu.

4

Mit Schreiben vom 14.07.1999 beantragte die Klägerin die Anerkennung des Unfalls vom 16.06.1999 als Dienstunfall. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 03.08.1999 ab, da die Klägerin nicht im Rahmen einer verordneten Anwendung, sondern bei der täglichen Körperpflege verunfallt sei. Den dagegen eingelegte Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15.09.1999, zugestellt am 22.09.1999, zurück und führte zur Begründung aus: Gemäß § 31 Abs. 2 Satz 3 BeamtVG gelte ein Unfall, den der Verletzte bei Durchführung des Heilverfahrens erleide, als Folge des Dienstunfalls. Bei einem Heilverfahrensunfall in diesem Sinne müsse zwischen der Maßnahme im Sinne des § 33 BeamtVG (Heilverfahren) einerseits und dem weiteren Unfall andererseits ein zeitlicher, inhaltlicher und örtlicher Zusammenhang im Sinne einer Kausalität bestehen. Der der Klägerin zugestoßene zweite Unfall am 16.06.1999 habe sich aber nicht bei der Durchführung des Heilverfahrens, sondern bei der Durchführung der täglichen Körperpflege ereignet. Somit könne der hierbei entstandene Körperschaden nicht als Folgeschaden des Unfalls vom 29.01.1999 anerkannt werden. Eine andere Betrachtung sei auch deshalb nicht möglich, weil es nicht Sinn des Dienstunfallrechts sei, dem Dienstherrn eine Entschädigung für weitere eventuelle einmal auftretende Unfälle aufzuerlegen, die erfolgen könnten, weil die Klägerin in der Beweglichkeit ihres Knies eingeschränkt sei.

5

Mit ihrer am 18.10.1999 erhobenen Klage macht die Klägerin, die zum 30.09.2000 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt worden ist, geltend: Ihr Aufenthalt in der Klinik ... sei Teil des ärztlichen Heilverfahrens im Sinne des § 33 BeamtVG gewesen. Die notwendige ärztliche Behandlung habe einen etwa vier- bis fünftägigen stationären Krankenhausaufenthalt zum Entfernen der Drähte und des Metalls vorgesehen, die ihr nach dem Dienstunfall vom 29.01.1999 eingesetzt worden seien im Krankenhaus habe sie auf Anordnung des Chirurgen, Herrn Dr. ... ein Einbettzimmer mit Dusche erhalten. Am 15.06.1999, einen Tag vor der geplanten Operation, sei Herr Dr. ... in ihrem Zimmer erschienen, habe ihr den Ablauf der Operation geschildert und erklärt, vor der Operation könne sie sich duschen, und zwar vor der Rasur des Knies. Angesichts dessen sei sie davon ausgegangen, dass ärztlicherseits zumindest ein Duschen erwünscht oder sogar vor der Operation notwendig sei. Dies allein habe sie veranlasst, sich vor der Operation zu duschen. Bei dem Unfall, den sie beim Aussteigen aus der Duschkabine ihres Krankenzimmers erlitten habe, bestehe somit ein innerer Zusammenhang mit der Heilbehandlung gemäß § 33 BeamtVG.

6

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 03.08.1999 und des Widerspruchsbescheides vom 15.09.1999 zu verpflichten festzustellen, dass der Unfall der Klägerin vom 16.06.1999 (basocervicale Schenkelhalsfraktur links) während der stationären Behandlung in der Klinik Herzberg als Folge des anerkannten Dienstunfalls der Klägerin vom 29.01.1999 gilt.

7

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Sie hält ihre Bescheide für rechtmäßig und tritt den Ausführungen der Klägerin im Einzelnen entgegen.

9

Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

10

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

11

II.

Die Klage ist zulässig und begründet.

12

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Feststellung, dass die am 16.06.1999 erlittene basocervicale Schenkelhalsfraktur links während der stationären Behandlung in der Klinik ... als Folge des anerkannten Dienstunfalls der Klägerin vom 29.01.1999 gilt; der dem entgegen stehende Bescheid der Beklagten vom 03.08.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.09.1999 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 und 5 VwGO.

13

Rechtsgrundlage des klägerischen Anspruchs ist § 31 Abs. 2 Satz 3 BeamtVG. Danach gilt ein (erneuter) Unfall, den der durch einen Dienstunfall Verletzte bei Durchführung des Heilverfahrens (§ 33 BeamtVG) erleidet, als Folge des Dienstunfalls (der das Heilverfahren bedingt hat). Diese gesetzliche Regelung entspricht derjenigen in der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. früher § 555 RVO a.F.; jetzt § 11 SGB VII). Um einen Heilverfahrensunfall im Sinne des § 31 Abs. 2 Satz 3 BeamtVG annehmen zu können, muss der verletzte Beamte im Unfallzeitpunkt eine Tätigkeit verrichten, die mit der konkreten Durchführung des Heilverfahrens (wozu nach § 33 BeamtVG unter anderem die stationäre Behandlung im Krankenhaus gehört) in rechtlich wesentlichem inneren Zusammenhang steht, die es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der dienstunfallrechtlich geschützten Tätigkeit zuzurechnen (vgl. Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, 5. Aufl. 2001, Rdn. 663; Brockhaus in: Schütz, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Stand: Oktober 2000, Rdn. 158 zu § 31 BeamtVG; ebenso BSG, Urteil vom 06.09.1989 - 9 RV 21/88 -, SozR 3200 § 81 Nr. 35 - zum Folgeunfall während der stationären Behandlung eines wehrdienstbeschädigten Soldaten; BSG, Urteil vom 24.03.1998 - B 2 U 4/97 R -, NJW 1998, 3294 - zum Folgeunfall eines Arbeitsunfalls im Sinne des § 555 RVO a.F.). Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln (vgl. BSG, Urteil vom 24.03.1998, a.a.O.), indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu der der Schutz des Dienstunfallrechts reicht. Auch aus grundsätzlich dem privaten Bereich zuzurechnenden Verrichtungen des täglichen Lebens (etwa Nahrungsaufnahme, Hygiene, Ruhe und Erholung) entstehende Unfälle "bei" der Heilbehandlung eines Beamten können der Maßnahme funktional so verbunden sein, dass sie dienstunfallrechtlich im Sinne des § 31 Abs. 2 Satz 3 BeamtVG geschützt sind. Für den Dienstunfallschutz ist nicht entscheidend, ob die Verrichtung der Heilbehandlung objektiv dient oder dienen kann, sondern es genügt, dass der Verletzte subjektiv der Meinung ist und von seinem Standpunkt aus bei den objektiv gegebenen Verhältnissen auch sein kann, die Verrichtung sei geeignet, der Heilbehandlung zu dienen ((vgl. BSG, Urteil vom 27.06.1978 - 2 RU 30/78 - NJW 1978, 2358/2359; Bley/Kreikebohm/Marschner; Sozialrecht, 8. Aufl. 2001, Rdn. 572 ff. jeweils zur gesetzlichen Unfallversicherung); BSG, Urteil vom 06.09.1989, a.a.O., - zur Wehrdienstbeschädigung nach dem Sodatenversorgungsgesetz).

14

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die Beklagte antragsgemäß zu verpflichten festzustellen, dass der Unfall der Klägerin vom 16.06.1999 (basocervicale Schenkelhalsfraktur links) während der stationären Behandlung in der Klinik ... gemäß § 31 Abs. 2 Satz 3 BeamtVG als Folge des anerkannten Dienstunfalls der Klägerin vom 29.01.1999 gilt. Einerseits war die stationäre Aufnahme der Klägerin am 15.06.1999 in der Klinik ... eindeutig auf den anerkannten Dienstunfall vom 29.01.1999 zurückzuführen, weil der Klägerin am 16.06.1999 Metallteile, die ihr nach der erlittenen Mehrfragmentfraktur der linken Kniescheibe eingesetzt worden waren, entfernt werden sollten. Andererseits bestand - entgegen der Ansicht der Beklagten - zwischen der stationären Behandlung im Sinne des § 33 BeamtVG und dem den erneuten Unfall am ... .1999 verursachenden Tätigkeit - dem Duschen am Morgen vor der geplanten Operation - ein rechtlich wesentlicher innerer Zusammenhang. Da die Klägerin am 15.06.1999 von ihrem behandelnden Chirurgen Dr. ... den Hinweis erhalten hatte, sie könne sich vor der Knieoperation duschen, konnte sie von ihrem Standpunkt aus bei den objektiv gegebenen Verhältnissen davon ausgehen, das Duschen sei geeignet, ihrer Knieoperation zu dienen. Es entspricht der üblichen Handhabung, dass Duschen und Waschungen vor Operationen, die zu den sogenannten speziellen Operationsvorbereitungen gehören, bei nicht bettlägerigen Personen - wie im Falle der Klägerin - von diesen selbständig durchgeführt werden und dass sich das Krankenpflegepersonal insoweit nur von der Durchführung überzeugt. Darauf hat bereits der bei der Beklagte tätige Leitende Medizinaldirektor Dr. ... anlässlich seiner (nach Zustellung des Widerspruchsbescheides abgegebenen) Stellungnahme vom 10.11.1999 (Bl. 258 der Beiakte A) zutreffend hingewiesen. Das hiernach der Operation dienliche vorherige Duschen stand ungeachtet dessen unter Dienstunfallschutz, dass weder der behandelnde Arzt noch sein Hilfspersonal das Duschen ausdrücklich angeordnet hatten (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.1978 - 2 RU 30/78 - NJW 1978, 2358/2359 - zum gesetzlichen Unfallversicherungsschutz für einen Unfall bei einem der stationären Behandlung dienenden Spaziergang). Schließlich muss die hier in Rede stehende basocervicale Schenkelhalsfraktur links, die sich die Klägerin am ... .1999 nach dem Sturz beim Aussteigen aus der Duschkabine ihres Krankenzimmers zugezogen hat, als nach § 31 Abs. 2 Satz 3 BeamtVG dienstunfallrechtlich geschützte angesehen werden, weil bei diesem Folgeunfall (zumindest auch) besondere Gefahrenmomente wirksam geworden sind, die mit dem anerkannten Dienstunfall vom ... 1999 noch in einem "inneren" Zusammenhang gestanden haben. Infolge der recht schweren Mehrfragmentfraktur der linken Kniescheibe, die sich die damals 58-jährige Klägerin am ... 1999 zugezogen hatte, hat bei ihr zweifellos eine gewisse "Gangunsicherheit" bestanden, die die Möglichkeit des Ausrutschens beim Verlassen der Duschkabine erhöht hat (vgl. die bereits erwähnte Stellungnahme des Ltd. Medizinaldirektors Dr. ... vom ... 1999, Bl. 259 der Beiakte A). Dies ist als eine mittelbare Folge des Dienstunfalls vom ... 1999 anzusehen, die sich am ... 1999 konkret ausgewirkt hat, weil im vorliegenden Fall keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich der Sturz ausschließlich oder in erster Linie durch reine Unachtsamkeit der Klägerin ereignet hat. Es kann dahinstehen, ob hier möglicherweise auch besondere Gefahren der konkreten Krankenhausumgebung (etwa eine fehlende behindertengerechte Ausstattung der Dusche mit Haltegriffen) mitursächlich geworden sind, denn auch für derartige Gefahren müsste der Dienstherr im Rahmen des § 31 Abs. 2 Satz 3 BeamtVG einstehen.

15

Der Klage ist hiernach antragsgemäß stattzugeben.

16

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Lichtenfeld