Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 07.01.2002, Az.: 4 B 4237/01

Rechtmäßigkeit einer Überweisung bzw. Verweisung eines Schülers an eine andere Schule derselben Schulform; Missachtung des Äußerungsrechts des Schülers und seiner Erziehungsberechtigten; Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
07.01.2002
Aktenzeichen
4 B 4237/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 33640
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2002:0107.4B4237.01.0A

Fundstelle

  • SchuR 2003, 13-14 (Volltext)

In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Göttingen - 4. Kammer -
am 7. Januar 2002
beschlossen:

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 14. Dezember 2001 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Dezember 2001 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4090,34 € (entspricht 8.000,00 DM) festgesetzt.

Gründe

1

Der Antrag der Antragstellerin,

die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 14. Dezember 2001 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Dezember 2001 wiederherzustellen,

2

hat Erfolg.

3

Die im Rahmen dieses Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO durchzuführende Interessenabwägung zwischen dem Interesse der Antragstellerin, einstweilen von dem Vollzug des angefochtenen Bescheides verschont zu bleiben, und dem Öffentlichen Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Vollziehung dieses Bescheides geht zugunsten der Antragstellerin aus. Denn der Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Dezember 2001 erweist sich bei der in diesem Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen und nur möglichen summarischen Rechtmäßigkeitsprüfung aller Voraussicht nach als rechtswidrig.

4

Die von der Klassenkonferenz der Klasse 7 a, der die Antragstellerin angehört, in ihrer Sitzung vom 6. Dezember 2001 beschlossene und mit Bescheid vom 10. Dezember 2001 den Eltern der Antragstellerin bekannt gemachte Ordnungsmaßnahme, nämlich der Überweisung an eine andere Schule derselben Schulform, ist verfahrens- und ermessensfehlerhaft zustande gekommen.

5

Die Ordnungsmaßnahme ist unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs zustande gekommen.

6

Die Verweisung der Antragstellerin durch die Antragsgegnerin an die Haupt- und Realschule P. beruht- jedenfalls auch - auf der Annahme, der Vater der Antragstellerin und diese selbst hätten nach Erhalt der Ladung zur Klassenkonferenz versucht, Mitschüler der Antragstellerin zu einer für diese positiven Aussage zu nötigen. Zwar ist diese Annahme in den angefochtenen Bescheid vom 10. Dezember 2001 ausdrücklich nur insoweit eingeflossen, als derartige Einflussnahmeversuche auf Schüler und deren Angstgefühle für die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung, nicht jedoch für die Begründung der Ordnungsmaßnahme selbst herangezogen worden sind. Aus Punkt 7.1 des Protokolls der Klassenkonferenz vom 6. Dezember 2001 ergibt sich jedoch mit aller Deutlichkeit, dass diese Umstände maßgeblich die Verhängung einer Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 3 Nr. 2 NSchG mit beeinflusst haben. Dort heißt es, das Vertrauen zwischen Schule und Elternhaus werde aufgrund der Vorkommnisse und der gehörten und gesehenen Reaktionen der Eltern während dieser Konferenz als völlig zerstört betrachtet, so dass der Ausschluss A. von der Schule als einzige in Frage kommende Lösung betrachtet werde.

7

Nur die Berücksichtigung der geschilderten Einflussnahme- und Nötigungsversuche durch die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung macht es auch verständlich, dass das von der mit der Sachverhaltsermittlung beauftragten Klassenlehrerin der Antragstellerin, Frau Q., am 2. Dezember 2001 abgegebene Votum, wie das Verhalten der Antragstellerin zu ahnden sei, ohne weitere Diskussion nicht umgesetzt worden ist. Frau Q. stimmte in ihrer Zusammenstellung des Sachverhalts gegen den sofortigen Verweis von der Schule. Sie hielt eine zweite Chance unter deutlichen und klaren Bedingungen für sinnvoll, um der Antragstellerin die Möglichkeit der Veränderung ihres Verhaltens zu geben. Bei Verstoß gegen diese Bedingungen könne dann immer noch der Verweis ausgesprochen werden. Wenn die Klassenkonferenz ohne Diskussion und einstimmig von diesem Votum abweicht, wird deutlich, dass die neuen, erst bei der Beratung und kurz vor der Beschlussfassung gewonnenen Erkenntnisse über die vermeintlichen Nötigungsversuche die Art der verhängten Ordnungsmaßnahme maßgeblich mitbestimmt haben.

8

Zu den hier gegen die Antragstellerin und ihren Vater erhobenen Vorwürfen konnten weder diese noch der in der Konferenz anwesende Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin Stellung nehmen. Dies stellt einen Verstoß gegen den sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs, der in § 61 Abs. 6 NSchG seine einfach gesetzliche Ausprägung gefunden hat, dar und macht die angeordnete Ordnungsmaßnahme aller Voraussicht nach rechtswidrig. Gemäß § 61 Abs. 6 NSchG ist der Schülerin oder dem Schüler und ihren oder seinen Erziehungsberechtigten Gelegenheit zu geben, sich in der Sitzung der Konferenz, die über die Maßnahme zu entscheiden hat, zu äußern. Dieses Äußerungsrecht erschöpft sich nicht darin, allgemein zu der Ordnungsmaßnahme Stellung zu nehmen. § 61 Abs. 6 NSchG geht über dass allgemeine Anhörungsrecht nach § 28 Abs. 1 VwVfG hinaus, wonach es in das Ermessen der Behörde gestellt ist, bei welcher Gelegenheit und in welcher Form sie einem Verfahrensbeteiligten eine angemessene und zumutbare Gelegenheit zur Äußerung gewährt. Das Äußerungsrecht nach dieser Bestimmung verlangt, dass die Konferenz nicht nur der Form halber Gelegenheit zur Äußerung gibt. Vielmehr muss sie die Tatsachen- und Rechtsäußerungen des Schülers oder der Schülerin und des/der Erziehungsberechtigten auch zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen, d.h. sie muss erwägen, ob und inwieweit die Äußerung für die Konferenzentscheidung von Bedeutung ist (vgl. Seyderhelm/Nagel/Brockmann, NSchG, Loseblattkommentar, Stand: Dezember 2000, § 61 Anm. 9). Um effektiven Rechtsschutz, wie er durch Art. 19 Abs. 4 GG geboten ist, gewähren zu können, muss dem betroffenen Schüler/der betroffenen Schülerin die Gelegenheit gegeben werden, sich zu allen Vorwürfen zu äußern, die zur Grundlage der Ordnungsmaßnahme gemacht werden. Dieses Recht ist der Antragstellerin durch die Klassenkonferenz vom 6. Dezember 2001 abgeschnitten worden.

9

Darüber hinaus dürfte sich die angegriffene Verfügung, unabhängig von den eben dargestellten Rechtsmängeln, auch deshalb als rechtswidrig erweisen, weil die Verweisung der Antragstellerin an die Hauptschule in P. nicht erforderlich ist und die Ordnungsmaßnahme somit gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen dürfte. Denn selbst wenn eine Überweisung der Antragstellerin an eine andere Schule derselben Schulform gemäß § 61 Abs. 3 Nr. 2 NSchG im Übrigen rechtmäßig wäre, stellt die Überweisung an die Hauptschule P. nicht das mildeste, in diesem Fall gleich geeignete Mittel dar. Wie die Antragstellerin unwidersprochen vorgetragen hat, ist die Hauptschule P. von ihr mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu erreichen. Anders stellt sich die Sachlage im Hinblick auf die in F. selbst gelegene Hauptschule "R." dar. Diese unweit von der bisherigen Schule der Antragstellerin gelegene Hauptschule lässt sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln von der Antragstellerin erreichen. Wie die Bezirksregierung O. in ihrem Schriftsatz vom 2. Januar 2002 mitgeteilt hat, stehen auch sonstige Umstände einer Verweisung der Antragstellerin an diese Schule nicht entgegen.

10

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

11

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG a.F.i.V.m. § 73 Abs. 1 Satz I GKG und Art. 10 ff. Euro-VO II (Abl. EG NvL 139/1 vom 11.05.1998). Die Kammer legt den ungeteilten Auffangwert zugrunde, da die Entscheidung die Hauptsache faktisch vorwegnimmt.