Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.02.2020, Az.: 9 K 20/19

Gewährung eines Freibetrags für Betreuungsbedarf und Erziehungsbedarf durch Vornahme der Betreuung des Sohnes in einem nicht unwesentlichen Umfang

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
19.02.2020
Aktenzeichen
9 K 20/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 63905
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2020:0219.9K20.19.00

Fundstellen

  • DStRE 2020, 1219-1220
  • FamRZ 2020, 1966
  • NWB 2020, 1983
  • StX 2020, 486-487

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger seinen bei seiner geschiedenen Ehefrau lebenden Sohn A regelmäßig in einem nicht unwesentlichen betreut und damit Anspruch auf die Berücksichtigung eines Freibetrags für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf (BEA-​Freibetrag) i. H. v. 1.320 € gemäß § 32 Abs. 6 Satz 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG) hat.

2

Der Kläger ist Arbeitnehmer und wird in den Streitjahren 2016 und 2017 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Er lebt in I. Sein Sohn A lebt bei der Kindesmutter, der geschiedenen Ehefrau (Beigeladene) in O. Ein BEA-​Freibetrag für seinen Sohn A wurde in den Einkommensteuerbescheiden vom 19. Juni 2018 nicht berücksichtigt, weil die Beigeladene beantragt hatte, diesen auf sie zu übertragen.

3

Hiergegen wendete sich der Kläger mit seinen Einsprüchen vom 26. Juni 2018. Zur Begründung trug er vor, dass er der Übertragung des BEA-​Freibetrags widerspreche. Entsprechend dem Beschluss des Amtsgerichts V vom 17. Februar 2015 habe er seinen Sohn jedes zweite Wochenende, beginnend am 28. Februar 2015/ 1. März 2015 jeweils samstags um 10 Uhr bei der Kindesmutter abgeholt und ihn jeweils sonntags um 16 Uhr wieder zurückgebracht. Zusätzlich habe er ihn Ostern und Weihnachten abgeholt.

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Mit Einverständnis des Klägers zog der Beklagte die Kindesmutter, die Beigeladene ..., zum Einspruchsverfahren hinzu. Sie teilte im Einspruchsverfahren mit, dass nach ihrer Berechnung der Kläger sich weniger als 10 % im jeweiligen Kalenderjahr um seinen Sohn gekümmert habe. In den Ferien sei A immer zu Hause oder bei der Oma gewesen. Vom 7. Juli 2016 bis 23. Juli 2016 sei der Kindesvater urlaubsbedingt verhindert gewesen. Vom 10. September bis 11. September 2016 bzw. 8. Oktober bis 9. Oktober 2016 sei A krank zu Hause gewesen. Am 22. Oktober 2016 sei sie mit A wegen einer Therapiestunde verhindert gewesen. Weihnachten 2016 sei A zu Hause geblieben. Ostersonntag 2016 sei A ebenfalls nicht abgeholt worden. Zu einer Betreuung von A in den Ferien für eine Woche sei es ebenfalls nicht gekommen. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Stellungnahme der Beigeladenen vom 5. September 2018 Bezug genommen.

5

Diese Stellungnahme der Beigeladenen wurde dem Kläger zur Kenntnis gebracht. Daraufhin reichte der Kläger mit Schreiben vom 29. November 2018 zwei Jahreskalender ein, in denen er die Betreuungswochen markiert habe. Er wies darauf hin, dass es keine nächtlichen Unterbrechungen gegeben habe. Dieses sei auch der Umgangsregelung lt. vorliegenden Gerichtsbeschluss zu entnehmen. Danach habe er sich im Jahr 2016 45 Tage und im Jahr 2017 55 Tage um A gekümmert. Er habe seinen Sohn in einem gleichbleibenden Betreuungsrhythmus tatsächlich in der vereinbarten Abfolge mit einem Betreuungsanteil von mehr als 10 % betreut und somit nicht unwesentlich zu seiner Betreuung beigetragen.

6

Gleichwohl hatte der Einspruch keinen Erfolg. Der Beklagte folgte dabei der Einschätzung der Beigeladenen, dass der Kläger einen erheblichen Betreuungsanteil von mindestens 10 % nicht nachgewiesen habe.

7

Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2018 Bezug genommen.

8

Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage. Zur Begründung trägt der Kläger Folgendes vor: Er widerspreche der Übertragung des BEA-​Freibetrags, weil er das Kind in einem nicht unwesentlichen Umfang in den Streitjahren betreut habe. Nach der Rechtsprechung des BFH sei von einem nicht unwesentlichen Betreuungsumfang auszugehen, wenn dieser 10 % übersteige. Dies sei im Streitfall gegeben, denn der Betreuungsumfang betrage jeweils mehr als 36 Tage jährlich. Aufbauend auf der familiengerichtlichen Entscheidung zum Umgangsrecht habe der Kläger detailliert zusammengestellt, dass er im Jahr 2016 seinen Sohn an 45 Tagen und im Jahr 2017 an 55 Tagen betreut habe. Zur Sachverhaltsdarlegung der Kindesmutter im Schreiben vom 5. September 2018 bestehe keinerlei Widerspruch. Sofern der vereinigte Lohnsteuerhilfe e.V. im Einspruchsverfahren den Sachverhalt unrichtig geschildert habe, sei dies dem Kläger nicht anzulasten. Er habe von dem Inhalt des Einspruchsschreibens keine Kenntnis gehabt. Unstreitig sei, dass der Kläger wöchentlich seinen Sohn samstags abgeholt und dann erst am Sonntag zurückgebracht habe.

9

Der Kläger beantragt,

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für die Streitjahre 2016 und 2017 einen Freibetrag für Betreuungs- und Erziehungsbedarf i. H. v. jeweils 1.320 € zu gewähren und die Einkommensteuerbescheide 2016 und 2017, jeweils vom 19. Juni 2018, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2018 entsprechend zu ändern.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

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Zur Begründung des Klageabweisungsantrags verweist der Beklagte auf seinen Einspruchsbescheid.

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Das Gericht hat die geschiedene Ehefrau ..., ..., ..., mit Beschluss vom 19. Juni 2019 auf Antrag des Beklagten zum Verfahren beigeladen.

Entscheidungsgründe

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1. Die Klage ist begründet.

17

Die Einkommensteuerbescheide 2016 und 2017, jeweils vom 19. Juni 2018, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2018, sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung -FGO-​).

18

Die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 6 Satz 1 Alt. 2, Sätze 8 und 9 EStG für die Übertragung der BEA-​Freibeträge des Klägers auf die Beigeladene liegen in den Streitjahren 2016 und 2017 nicht vor, da der Widerspruch des Klägers gegen die Übertragung seiner Freibeträge gemäß § 32 Abs. 6 Satz 9 Alt. 2 EStG begründet ist.

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a. Nach § 32 Abs. 6 Satz 8 EStG wird bei minderjährigen Kindern der dem Elternteil, in dessen Wohnung das Kind nicht gemeldet ist, zustehende BEA-​Freibetrag auf Antrag des anderen Elternteils auf diesen übertragen, wenn bei dem Elternpaar - wie im Streitfall - die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG nicht vorliegen. Nach § 32 Abs. 6 Satz 9 EStG scheidet eine Übertragung aus, wenn dieser widersprochen wird, weil der Elternteil, bei dem das Kind nicht gemeldet ist, Kinderbetreuungskosten trägt oder das Kind regelmäßig in einem nicht unwesentlichen Umfang betreut.

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b. Das Merkmal der regelmäßigen Betreuung in einem nicht unwesentlichen Umfang i. S. des § 32 Abs. 6 Satz 9 Alt. 2 EStG ist im Gesetz nicht näher erläutert.

21

Nach der Rechtsprechung des BFH kann das Merkmal einer regelmäßigen Betreuung insbesondere dann als erfüllt angesehen werden, wenn sich ein minderjähriges Kind entsprechend eines - üblicherweise für einen längeren Zeitraum im Voraus festgelegten - weitgehend gleichmäßigen Betreuungsrhythmus tatsächlich in der vereinbarten Abfolge bei dem Elternteil, bei dem es nicht gemeldet ist, aufhält.

22

Ob dieser Elternteil sein minderjähriges Kind auch in einem nicht unwesentlichen Umfang betreut, erfordert eine Gesamtschau unter Würdigung aller objektiven Umstände des Einzelfalls. Die Beurteilung kann hierbei von einer Vielzahl nach Lage des Falles naturgemäß auch unterschiedlich zu gewichtenden Faktoren abhängen. Diese sind insbesondere die Häufigkeit und Länge der Kontakte zwischen dem widersprechenden Elternteil und dem Kind, die ihrerseits durch das Alter des Kindes und die Distanz zwischen den Wohnorten des Elternpaares beeinflusst werden. Aus Gründen der Vereinfachung hat der BFH dabei grundsätzlich keine Bedenken, bei einem zeitlichen Betreuungsanteil von jährlich durchschnittlich 10 % im Regelfall das Merkmal einer Betreuung in einem "nicht unwesentlichen Umfang" als erfüllt anzusehen, wobei weitere Indizien in diesem Fall im Übrigen regelmäßig vernachlässigt werden können (vgl. BFH, Urteil vom 8. November 2017 III R 2/16, BFHE 260, 103, BStBl. II 2018, 266).

23

c. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Rechtsprechungsgrundsätze hat der Kläger die Betreuung seines Sohnes A in den Streitjahren 2016 und 2017 regelmäßig vorgenommen.

24

aa. Nach dem unstreitigen Sachvortrag des Klägers hat der Sohn A - entsprechend dem zwischen den Eltern vor dem Amtsgericht V am 17. Februar 2015 vereinbarten Umgangsrecht - in einem wöchentlichen Rhythmus jedes zweite Wochenende von samstags, 10.00 Uhr, bis sonntags, 16.00 Uhr, bei seinem Vater verbracht. Dabei handelt es sich zweifellos um einen im Voraus festgelegten Betreuungsrhythmus im Sinne der vorgenannten BFH-​Rechtsprechung, der die Anforderungen an die Regelmäßigkeit der Betreuungsleistungen erfüllt.

25

Die Umgangsrechtsvereinbarung wurde vom Kläger auch weitgehend - abgesehen von kleinen Ausnahmen - eingehalten (vgl. hierzu allgemein zu den Anforderungen an die Regelmäßigkeit: Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, Kommentar zum EStG/KStG, § 32 EStG Anm. 192). Die vom Kläger eingereichten Jahreskalender mit den markierten Betreuungswochenenden sind weder vom Beklagten noch der Beigeladenen in Zweifel gezogen worden und stehen auch zu den schriftlichen Ausführungen der Beigeladenen im Einspruchsverfahren nicht im Widerspruch.

26

bb. Entgegen der Auffassung des Beklagten und der Beigeladenen übersteigt der Betreuungsumfang in den Streitjahren auch die vom BFH aus Vereinfachungsgründen festgelegte Geringfügigkeitsgrenze in Höhe eines zeitlichen Betreuungsanteils von 10 %.

27

Ausgehend von der Anzahl der in den vorgelegten Jahreskalendern markierten Tagen hat der Kläger seinen Sohn in 2016 an 45 Tagen und in 2017 an 55 Tagen betreut. Ein jährlicher Betreuungsanteil von 10 % (entspricht etwa 36 Tage pro Jahr) ist damit in beiden Streitjahren ohne Weiteres überschritten.

28

Das Gericht geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass die Betreuungstage auch dann vollständig dem Kläger zuzurechnen sind, wenn die Betreuung nicht die vollen 24 Stunden jedes Tages erfolgte, sondern - wie im Streitfall - nur einen Teil des Tages umfasste. Dies muss jedenfalls für den - hier vorliegenden - Fall gelten, dass die Betreuungszeit deutlich mehr als 12 Stunden beträgt und damit über reine Besuchszwecke deutlich hinausgeht.

29

Alles andere würde ggf. auf eine stundengenaue Protokollierung der Betreuungszeiten hinauslaufen und damit dem mit der festgelegten Grenze verfolgten Vereinfachungszweck zuwiderlaufen.

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Selbst wenn man im Übrigen bei einer stundengenauen Abrechnung zu einer geringfügigen Unterschreitung des Schwellenwertes von 10 % kommen würde, würde dies im Ergebnis unter Berücksichtigung der weiteren Indizien des vorliegenden Einzelfalls am Erfolg der Klage nichts ändern. Angesichts der großen Entfernung zwischen dem Wohnort des Klägers und der Beigeladenen (einfache Entfernung: 163 km), die einen höheren zeitlichen Betreuungsanteil für den Kläger als Arbeitnehmer wegen der Arbeitsverpflichtung unter der Woche erheblich erschwert und die möglichen Betreuungszeiten in der Regel auf die Wochenenden und Urlaubszeiten beschränkt, erscheint der Betreuungsanteil auch in diesem Fall als nicht unwesentlich (vgl. etwa zur indiziellen Bedeutung der Entfernung zwischen widersprechendem Elternteil und Kind: Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, Kommentar zum EStG/KStG, § 32 EStG Anm. 192).

31

Nach alledem hatte die Klage in vollem Umfang Erfolg.

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2. Die Neuberechnung und Neufestsetzung der Einkommensteuern sowie die Bekanntgabe der entsprechend geänderten Einkommensteuerbescheide 2016 und 2017 wird gemäß § 100 Abs. 2 Sätze 2 und 3 EStG dem Beklagten übertragen.

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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

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4. Die Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen folgt aus § 139 Abs. 4 FGO. Die außergerichtlichen Kosten für die Beigeladenen waren danach nicht zu erstatten, denn es entspricht der Billigkeit, einem Beigeladenen nur dann Kostenerstattung zuzubilligen, wenn ihm Kosten entstanden sind und er Sachanträge gestellt hat. Nur dann hat er auch das Risiko getragen, zu unterliegen und mit Kosten belastet zu werden (Stapperfend in: Gräber, Kommentar zu FGO, 9. Auflage 2019, § 139 Rz. 158).

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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1, 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.