Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 07.06.1995, Az.: VII 487/93
Einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung von Aufwendungen für die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe als außergewöhnliche Belastung; Ermäßigung der Einkommensteuer bei Belastung durch höhere Aufwendungen; Fahrtkosten eines Alkoholikers im Zusammenhang mit dem Besuch einer Gruppe der anonymen Alkoholiker als außergewöhnliche Belastung
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 07.06.1995
- Aktenzeichen
- VII 487/93
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 17882
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1995:0607.VII487.93.0A
Rechtsgrundlagen
- § 33 Abs. 1 EStG
- § 33 Abs. 2 S. 1 EStG
Verfahrensgegenstand
Einkommensteuer 1991
In dem Rechtsstreit
hat der VII. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
ohne mündliche Verhandlung am 7. Juni 1995
durch
den Vorsitzenden Richter am Finanzgericht
fürRecht erkannt:
Tenor:
Der Einkommensteuerbescheid 1991 vom 3. Juni 1992 und der Einspruchsbescheid vom 6. Oktober 1993 werden geändert. Die Einkommensteuer wird auf 6.768 DM herabgesetzt.
Das Finanzamt trägt die Kosten des Verfahrens. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Einspruchsverfahren war notwendig.
Der Streitwert beträgt 177 DM.
Tatbestand
Streitig ist, ob Aufwendungen für die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe "anonyme Spieler" als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen sind.
Der im Jahre 1963 geborene Kläger (Kl.) wohnte im Streitjahr in M. Er verfiel nach seinem Vortrag der Spielsucht und machte deshalb binnen kurzer Zeit erhebliche Schulden. Um von seiner Sucht loszukommen, nahm er im Streitjahr an gruppentherapeutischen Treffen in der Drogenberatungsstelle in N. teil. Außerdem fuhr er dort zu Einzelgesprächen in.
Im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung 1991 machte der Kl. die Aufwendungen für die Fahrten nach N. als außergewöhnliche Belastung geltend. Nach seinen Angaben fuhr er viermal im Monat zur Gruppentherapie und zweimal im Monat zu Einzelgesprächen nach N.. Zum Nachweis der Notwendigkeit der therapeutischen. Maßnahmen legte der Kl. eine Bestätigung vom 21. Dezember 1992 des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. in M. vor.
Das beklagte Finanzamt (FA) ließ die geltend gemachten Fahrtkosten in Höhe von 3.076 DM auch im Rahmen des Einspruchsverfahrens unberücksichtigt. Es meinte, nach dem Urteil des BFH vom 13. Februar 1987 (III R 208/81, BStBl II 1987, 427) seien Aufwendungen für gruppentherapeutische Maßnahmen als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, wenn die Maßnahmen medizinisch indiziert sind. Dies müsse durch ein vor der Maßnahme ausgestelltes amtsärztliches Zeugnis nachgewiesen werden. Das vom Kl. vorgelegte Attest des behandelnden Arztes reiche nicht aus.
Im Klageverfahren hat der Kl. das Attest vom 21. Dezember 1992 durch eine amtsärztliche Bestätigung des Medizinaloberrats Dr. med. L. vom Gesundheitsamt beim Landkreis vom 19. Oktober 1993 ergänzt. Auf diese Bestätigung wird verwiesen.
Der Kl. beantragt,
die Einkommensteuer 1991 auf 6.768 DM herabzusetzen.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es hält an seiner bisherigen Rechtsauffassung fest und meint sinngemäß ergänzend, das genannte Urteil des BFH vom 13. Februar 1987 habe die Aufwendungen für gruppentherapeutische Maßnahmen eines Alkoholikers zum Gegenstand gehabt. Es sei auf die Aufwendungen anderer Suchtkranker nicht uneingeschränkt anwendbar.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes, so wird auf Antrag nach § 33 Abs. 1 EStG die Einkommensteuer dadurch ermäßigt, daß der Teil der Aufwendungen, der die dem Steuerpflichtigen zumutbare Belastung übersteigt, vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen wird. Die Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen dann zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nichtübersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der BFH hat in dem erwähnten Urteil die Fahrtkosten eines Alkoholikers im Zusammenhang mit dem Besuch einer Gruppe der anonymen Alkoholiker als außergewöhnliche Belastung anerkannt. Das Gericht hat keine Bedenken, die Spielsucht ebenso wie die Trunksucht als Krankheit anzusehen, wenn sie das Stadium des Verlustes der Selbstkontrolle erreicht hat. Daß dieses Stadium beim Kl. erreicht war, ergibt sich aus seinem glaubhaften Vortrag, den vorgelegten ärztlichen Bestätigungen und der Tatsache, daß der Kl. den nicht unerheblichen Aufwand an Geld und Zeit für gruppentherapeutische und Einzelbehandlungen auf sich genommen hat. Anhaltspunkte dafür, daß der Kl. sich diesen Behandlungen nur vorbeugend unterworfen hätte, bestehen nicht. Die entsprechenden Erwägungen des BFH in seinem genannten Urteil kommen hier deshalb nicht in Betracht.
Daß der Amtsarzt die medizinische Notwendigkeit der durchgeführten therapeutischen Maßnahmen im nachherein bescheinigt hat, erachtet das Gericht im Streitfall für unerheblich. Daß der Kl. zur Zeit der therapeutischen Maßnahmen krankhaft spielsüchtig war, ist nicht bestritten. Die medizinische Notwendigkeit der therapeutischen Maßnahmen konnte deshalb auch im nachherein sicher attestiert werden. Abgesehen davon erscheint die Auffassung des BFH, die Anforderungen an den Nachweis der medizinischen Notwendigkeit für therapeutische Maßnahmen bei einem Suchtkranken seien in gleicher Weise zu stellen wie bei einer Kurreise, bedenklich. Bei einer Kurreise geht es um die Abgrenzung zu einer Erholungsreise. Dies rechtfertigt es, an den Nachweis der medizinischen Notwendigkeit einer Kur strenge Anforderungen zu stellen. Für die medizinische Notwendigkeit therapeutischer Maßnahmen bei einem Suchtkranken gibt es ein entsprechendes Abgrenzungsproblem nicht.
Daß der Kl. für seine Fahrten nach N. wegen der schlechten Verkehrsverbindungen seinen Pkw benutzen mußte, ist nicht strittig. Gegen die Höhe der geltend gemachten Fahrtkosten bestehen deshalb keine Bedenken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert beträgt 177 DM.