Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 12.01.2010, Az.: 5 B 200/09
Sachliche Zuständigkeit der Landkreise bzw. kreisfreien Städte zur Gefahrenabwehr im Zusammenhang mit dem Halten und Führen von Hunden; Ermächtigungsgrundlage für im Einzelfall notwendige Maßnahmen im Zusammenhang mit gefährlichen Hunden
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 12.01.2010
- Aktenzeichen
- 5 B 200/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 12128
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:2010:0112.5B200.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- 05.11.2009 - AZ: 5 A 199/09
Rechtsgrundlagen
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Die Landkreise bzw. die kreisfreien Städte sind nach § 15 Abs. 1 NHundG ausschließlich zuständig zur Abwehr konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit, die mit dem Halten und Führen von Hunden verbunden sind.
- 2.
Sie können hierbei nicht nur nach den besonderen Vorschriften des § 3 Abs. 2 ff. NHundG für "gefährliche Hunde" i.S.d. NHundG vorgehen. Vielmehr obliegt es ihnen gemäß § 13 Abs. 1 NHundG, die im Einzelfall notwendigen Maßnahmen auch nach Maßgabe des Nds. SOG zu treffen.
- 3.
Die sachliche Zuständigkeit der allgemeinen Gefahrenabwehrbehörden nach § 97 Abs. 1 Nds. SOG ist durch die Vorschrift des § 15 Abs.1 NHundG grundsätzlich (vgl. z.B. § 102 Abs. 2 Nds. SOG) ausgeschlossen. § 15 Abs. 1 NHundG beinhaltet eine "besondere Zuständigkeitsregelung" i.S.d. § 97 Abs. 1 Nds. SOG.
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 5. November 2009 - 5 A 199/09 - gegen den Bescheid vom 16. Oktober 2009 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer Verfügung der Antragsgegnerin hinsichtlich ihrer Haltung des Hundes D..
Die Antragstellerin ist Halterin der Bordeaux-Dogge mit den Namen D..
Am 1. Oktober 2009 zeigte die in der Nachbarschaft der Antragstellerin wohnhafte Frau E. der Antragsgegnerin schriftlich an, dass es am Abend des 26. September 2009 zu einem Beißvorfall mit D. gekommen sei. Sie führte im Wesentlichen aus, sie habe ihren Hund F., einen Boxer, an der Leine spazieren geführt und sei auf der öffentlichen Straße an dem Grundstück der Klägerin vorbeigekommen. Als sie dieses bereits passiert hatte, sei der Hund D. - nicht angeleint - aus dem Haus der Antragstellerin blitzartig herbeigelaufen und habe F. von hinten angefallen. Er habe sich in den Kopf und den Hals von F. verbissen. Die Antragstellerin und ihr Ex-Ehemann seien zu Hilfe gekommen, hätten die Hunde jedoch nicht sofort trennen können. Auch nachdem die Hunde getrennt worden waren, habe D. F. noch nachsetzen wollen. Letzterer habe mehrere Bisswunden im Hals- und Kopfbereich davongetragen. Eine Wunde am Oberkopf habe sich entzündet, sodass sie tierärztlich behandelt werden musste. Es sei nicht das erste Mal, dass ihr der Hund D. mit einem aggressiven Verhalten aufgefallen sei.
Unter dem 6. Oktober 2009 hörte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu einem beabsichtigten Leinen- und Maulkorbzwang für D. an. Zugleich wandte sich die Antragsgegnerin an die Abteilung für Verbraucherschutz und Veterinärangelegenheiten des Landkreises Wolfenbüttel und bat unter Hinweis auf die Anzeige von Frau E. um eine Überprüfung der Gefährlichkeit des Hundes D. durch den Amtsveterinär.
Am 15. Oktober 2009 sprach die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin vor und nahm im Wesentlichen wie folgt Stellung: Ihre Haustür sei am 26. September 2009 aus Versehen von ihrem Sohn nicht geschlossen worden. Diese Situation habe D. genutzt und sei zu F. hinausgelaufen. Dort hätten sich beide Hunde "gestritten". D. sei eifersüchtig gewesen, weil sich Frau E. in der Vergangenheit schon des Öfteren provokativ länger als nötig mit F. vor ihrem Haus aufgehalten habe. Sie habe sich am nächsten Tag bei Frau E. entschuldigt. Sie sei davon ausgegangen, dass die Angelegenheit hiermit erledigt sei.
Unter dem 16. Oktober 2009 erließ die Antragsgegnerin die hier streitgegenständliche Verfügung. Sie gab der Antragstellerin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung auf, D. in der Öffentlichkeit stets an einer kurzen reißfesten Leine von nicht mehr als zwei Metern Länge sowie mit einem Maulkorb auszuführen, und begründete dies im Wesentlichen wie folgt: Rechtsgrundlage der Maßnahmen sei § 11 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG). Wegen des Vorfalls vom 26. September 2009 sei belegt, dass von D. eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehe, weil weitere Beißvorfälle nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden können. Der angeordnete Leinen- und Maulkorbzwang sei zur Gefahrenabwehr erforderlich und insgesamt verhältnismäßig. Die sofortige Vollziehbarkeit ihrer Maßnahmen liege im öffentlichen Interesse an einer effektiven Abwehr von D. ausgehender Gefahren für weitere Personen oder Tiere.
Am 5. November 2009 hat die Antragstellerin gegen diesen Bescheid Klage erhoben und zugleich beantragt, die aufschiebende Wirkung ihre Klage wiederherzustellen, und begründet dies im Wesentlichen wie folgt: Es sei mehr als fraglich, ob es am Vorfall vom 26. September 2009 zu einer Bissverletzung bei F. gekommen sei. Ihr Sohn und sie selbst hätten am 27. September 2009 Frau E. aufgesucht und sich für den Vorfall entschuldigt. Bei dieser Gelegenheit hätten sie F. über den Kopf gestreichelt und keine Verletzung feststellen können. Der Bescheid der Antragsgegnerin sei auch unter Berücksichtigung, dass es in den drei Jahren ihrer Hundehaltung bislang zu keinem weiteren Vorfall gekommen sei und sie mit D. die Hundeschule besuche, unverhältnismäßig.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 5. November 2009 - 5 A 199/09 - gegen den Bescheid vom 16. Oktober 2009 wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen,
und nimmt zur Begründung im Wesentlichen Bezug auf ihren Bescheid. Ihre sachliche Zuständigkeit für die getroffenen Maßnahmen hält sie wegen der Vorschrift des § 13 Abs. 1 NHundG für gegeben. Hiernach könnten neben den Landkreisen bzw. kreisfreien Städten i.S.v. § 15 Abs. 1 NHundG auch die allgemeinen Ordnungsbehörden tätig werden.
Auf Anfrage des Gerichts hat die Antragsgegnerin mitgeteilt, dass nach Aussagen des Veterinäramtes des Landkreises Wolfenbüttel von dort keine Maßnahmen hinsichtlich der Hundehaltung von D. getroffen werden sollen. Dies stehe im Zusammenhang damit, dass "Zeugenaussagen bzgl. des Verhaltens des betroffenen Hundes nicht aufrecht erhalten worden" seien.
II.
Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässige Antrag hat Erfolg.
Die Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO verlangt eine Abwägung der widerstreitenden Interessen. Maßgeblich ist, ob das private Interesse eines Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage oder das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Für das Interesse eines Antragstellers, einstweilen nicht dem Vollzug der behördlichen Maßnahmen ausgesetzt zu sein, sind die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs von besonderer Bedeutung. Ein überwiegendes Interesse eines Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel anzunehmen, wenn die im Eilverfahren allein mögliche und gebotene summarische Überprüfung ergibt, dass der angefochtene Verwaltungsakt voraussichtlich rechtswidrig ist. Denn an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann ein öffentliches Vollziehungsinteresse nicht bestehen (Nds. OVG, B. v. 11.01.2006 - 7 ME 288/04 -, [...], Rn. 11; VG Braunschweig, B. v. 08.05.2009 - 6 B 335/09 -, [...] Rn. 18).
Bei Anwendung dieses Maßstabes überwiegt das Interesse der Antragstellerin an einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage. Die Klage der Antragstellerin ist aller Voraussicht nach erfolgreich. Die Antragsgegnerin hat mit ihrer Verfügung vom 16. Oktober 2009 auf der Grundlage von § 11 Nds. SOG Anordnungen hinsichtlich der Hundehaltung der Antragstellerin getroffen, obwohl sie hierfür nicht die sachlich zuständige Behörde gewesen ist. Die Verfügung ist deswegen rechtswidrig.
Die Antragsgegnerin ist nicht die sachlich zuständige Behörde gewesen, um aus der Hundehaltung der Antragstellerin resultierende Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwehren. Insbesondere ergibt sich ihre sachliche Zuständigkeit nicht aus § 97 Abs. 1 Nds. SOG. Denn § 15 Abs. 1 Satz 1 NHundG begründet die sachliche Zuständigkeit der Landkreise und kreisfreien Städte, soweit es -wie vorliegend - darum geht, im Sinne des § 1 NHundG Gefahren für die öffentliche Sicherheit vorzubeugen und abzuwehren, die mit dem Halten und Führen von Hunden verbunden sind. Die Regelung des § 15 Abs. 1 NHundG beinhaltet eine im Sinne des § 97 Abs. 1 Nds. SOG "besondere" Zuständigkeitsregelung der Landkreise und kreisfreien Städte, die eine Zuständigkeit der allgemeinen Ordnungsbehörden ausschließt (vgl. VG Hannover, B. v. 23.11.2003 - 10 B 6207/03).
Hierfür sprechen systematische Erwägungen sowie Sinn und Zweck der Regelungen des NHundG. Wie sich aus § 1 und § 2 NHundG ergibt, zielt das NHundG auf die umfassende Abwehr von Gefahren ab, die durch Hunde jeder Art und den unsachgemäßen Umgang von Menschen mit Hunden entstehen können (vgl. Nds. OVG, B. v. 13.08.2009 - 11 ME 287/09 -, [...] Rn. 6). Neben dieser umfassenden Aufgabenzuweisung begründet das NHundG auch eine umfassende Kompetenz für die nach § 15 Abs. 1 NHundG zuständigen Landkreise bzw. kreisfreien Städte. Diese können nicht nur nach den besonderen Vorschriften des § 3 Abs. 2 ff. NHundG für "gefährliche Hunde" i.S.d. Gesetzes vorgehen. Vielmehr steht es ihnen gemäß § 13 Abs. 1 NHundG offen - und obliegt es ihnen deswegen -, auch nach Maßgabe des Nds. SOG die im Einzelfall notwendigen Maßnahmen zu treffen, um eine von einem Hund ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwehren. Wegen einer ansonsten gegebenen parallelen Zuständigkeit und der hiermit verbundenen Gefahr widersprechender Behördenentscheidungen spricht dies für einen abschließenden Charakter der Zuständigkeitsregelung des § 15 Abs. 1 NHundG, zumal sich die in § 15 NHundG begründete ausschließliche Zuständigkeit der Landkreise und kreisfreien Städte insbesondere wegen der besonderen Sachkompetenz der dort vorhandenen Veterinärämter rechtfertigt. Schließlich spricht auch § 13 Abs. 2 NHundG gegen eine - zusätzliche - Zuständigkeit der allgemeinen Ordnungsbehörden zur Abwehr konkreter Gefahren im Einzelfall, weil er die Zuständigkeit der allgemeinen Ordnungsbehörden zur Abwehrabstrakter Gefahren ausdrücklich aufrecht erhält.
Die ausschließliche Zuständigkeit der Landkreise und kreisfreien Städte entspricht schließlich dem ausdrücklichen Willen des niedersächsischen Gesetzgebers, wie sich aus dem schriftlichen Bericht zum Entwurf eines Niedersächsischen Gesetzes über die Vorsorge vor von Hunden ausgehenden Gefahren (NHundG) ergibt (vgl. LT-DrS 14/4006, S. 12 ff.). Dort heißt es zu der § 13 NHundG entsprechenden Regelung des Entwurfs:
"Die neue Vorschrift stellt durch Aufnahme einer Generalklausel klar, dass das Gesetz grundsätzlich abschließende Regelungen zur Vorbeugung und Abwehr vor von Hunden ausgehenden Gefahren enthält, die den Vorschriften des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes vorgehen. Diese Klarstellung ist notwendig, weil sich Maßnahmen der Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge überschneiden können. Wegen der auseinanderfallenden Zuständigkeit der Gemeinden für Maßnahmen nach dem nach Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz (§ 101 Abs. 2 NGefAG) < jetzt: § 97 Abs. 1 Nds. SOG> einerseits und der Landkreise und kreisfreien Städten für die im Entwurf vorgesehen Maßnahmen andererseits bestünde die Gefahr widerstreitender Entscheidungen. Die in Absatz 1 vorgeschlagene Regelung stellt sicher, dass durch die Landkreise und kreisfreien Städte als zuständige Behörde nach § 10/1 < jetzt: § 15 NHundG > jede im Einzelfall erforderliche Maßnahme auf der Grundlage dieses Gesetzes angeordnet werden kann. Die einheitliche Zuständigkeit der Landkreise und kreisfreien Städte wird auch wegen des bei diesen vorhandenen Sachverstandes empfohlen. Sie können durch die Veterinärämter beurteilen, ob die Regelungen über die Erlaubnispflicht von Hunden und die daran anknüpfenden Rechtsfolgen zur Gefahrenabwehr ausreichen oder ob ergänzende oder abweichende Maßnahmen aufgrund der Generalklausel getroffen werden müssen. Wie in vergleichbaren Regelungen (vgl. z.B. § 169 Abs. 1 NWG) wird hinsichtlich der Rechtsgrundlagen für die in Betracht kommenden Maßnahmen auf die Vorschriften des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes verwiesen. Die Eilzuständigkeit der Polizei nach § 1 Abs. 2 NGefAG < jetzt: § 1 Abs. 2 Satz 1 Nds. SOG> bleibt bestehen...."
Der abschließende Charakter der Zuständigkeitsregelung des § 15 Abs. 1 NHundG ist ausdrücklich Gegenstand der zweiten Beratung zum Entwurf eines Niedersächsischen Gesetzes über die Vorsorge vor von Hunden ausgehenden Gefahren (NHundG) gewesen (vgl. den stenografischen Bericht der 124. Plenarsitzung des Niedersächsischen Landtages vom 11. Dezember 2002, Bl. 12517).
Die sachliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin ergibt sich auch nicht ausnahmsweise aus § 102 Abs. 2 Satz 1 Nds. SOG, weil nicht vom Vorliegen einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr i.S.d.§ 2 Nr. 1 b) und c) Nds. SOG bzw. von Gefahr im Verzuge i.S.d. § 2 Nr. 4 Nds. SOG ausgegangen werden kann.
Die wegen der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Antragsgegnerin gegebene Rechtsverletzung der Antragstellerin ist auch nicht nach § 46 VwVfG unbeachtlich. Dies folgt schon daraus, dass diese Regelung bei einer Verletzung von Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit keine Anwendung findet (vgl. Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7: Aufl, § 46 Rn. 43; VG Hannover, a.a.O.). Darüber hinaus ist ein Verfahrensfehler nach § 46 VwVfG nur dann unbeachtlich, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung der Verfahrensvorschriften die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Dies ist hier schon deshalb nicht der Fall, weil eine andere Behörde die Ermessensentscheidung nach § 11 Nds. SOG in anderer Weise als die Antragsgegnerin treffen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 52 Abs. 2 und entspricht der Hälfte des für das Hauptsacheverfahren festzusetzenden Streitwertes (vgl. insoweit Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 2004, 1327 ff., hier: II. Nr. 1.5 Satz 1).