Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 05.03.2018, Az.: L 15 AS 32/18 B ER

Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Abhängigkeit der örtlichen Zuständigkeit des Grundsicherungsträgers von einer ausländerrechtlichen Wohnsitzauflage

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
05.03.2018
Aktenzeichen
L 15 AS 32/18 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 16904
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 15.01.2018 - AZ: S 6 AS 2572/17 ER

Amtlicher Leitsatz

1. Auch bei einer Wohnsitzauflage nach § 12a Abs. 1 AufenthG kann nur in dem Gebiet, in dem die Antragsteller ihren Aufenthalt zu nehmen haben, die Zuständigkeit des Jobcenters begründet werden.

2. Der Wohnsitzauflage kommt Tatbestandswirkung zu; sie ist für den Träger der Grundsicherung bindend, bis sie von der Ausländerbehörde oder im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben wird.

Redaktioneller Leitsatz

1. Aufgabe des einstweiligen Rechtsschutzes ist es, den Betroffenen lediglich diejenigen Mittel zur Verfügung zu stellen, die zur Behebung aktueller, d.h. gegenwärtig bestehender Notlagen notwendig sind.

2. Für Zeiten vor der Antragstellung bei Gericht ist die zum Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche besondere Dringlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung zur Abwendung wesentlicher Nachteile (Anordnungsgrund) regelmäßig nicht anzuerkennen.

3. Sie ergibt sich nämlich im Geltungsbereich des SGB II generell aus der Notwendigkeit, den lebensnotwendigen Unterhaltsbedarf zeitnah zu decken, die Deckung eines in der Vergangenheit unbefriedigten Bedarfs an existenznotwendigen Gütern ist aber prinzipiell nicht nachholbar.

4. Eine Ausnahme kommt lediglich bei einem sogenannten Nachholbedarf in Frage, d.h. wenn die Nichtgewährung von Leistungen in der Vergangenheit in die Gegenwart fortwirkt und eine gegenwärtige Notlage bewirkt.

Tenor:

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 15. Januar 2018 wird zurückgewiesen.

Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ab 1. September 2017.

Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des SG Bremen vom 15. Januar 2018 ist nicht begründet.

Das SG hat es zu Recht abgelehnt, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig unterhaltssichernde Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Nach § 86 b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht - soweit ein Fall nach Absatz 1 nicht vorliegt - auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen. Für das Begehren, Leistungen für den Zeitraum ab 1. September bis 7. Dezember 2017 zu erlangen, fehlt es bereits deshalb am Anordnungsgrund, weil der Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Zeit vor Eingang des Eilantrages (8. Dezember 2017) ohnehin nicht in Betracht kommt. Aufgabe des einstweiligen Rechtsschutzes ist es, den Betroffenen lediglich diejenigen Mittel zur Verfügung zu stellen, die zur Behebung aktueller, d.h. gegenwärtig bestehender Notlagen notwendig sind. Für Zeiten vor der Antragstellung bei Gericht ist die zum Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche besondere Dringlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung zur Abwendung wesentlicher Nachteile (Anordnungsgrund) regelmäßig nicht anzuerkennen. Sie ergibt sich nämlich im Geltungsbereich des SGB II generell aus der Notwendigkeit, den lebensnotwendigen Unterhaltsbedarf zeitnah zu decken, die Deckung eines in der Vergangenheit unbefriedigten Bedarfs an existenznotwendigen Gütern ist aber prinzipiell nicht nachholbar (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 35a). Eine Ausnahme kommt lediglich bei einem sogenannten Nachholbedarf in Frage, d.h. wenn die Nichtgewährung von Leistungen in der Vergangenheit in die Gegenwart fortwirkt und eine gegenwärtige Notlage bewirkt. Eine Eilbedürftigkeit ist von den Antragstellern insofern nicht glaubhaft gemacht worden und für den Senat auch nicht anderweitig ersichtlich. Für die Zeit ab 8. Dezember 2017 (Tag des Eingangs des Eilantrages beim SG) fehlt es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches und Anordnungsgrundes für die geltend gemachten Leistungen. Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass dem geltend gemachten Leistungsbegehren die mangelnde örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners aufgrund der eindeutigen Regelung des § 36 Abs. 2 S. 1 SGB II entgegensteht. Ebenso zutreffend hat das SG ausgeführt, dass die Zuständigkeit eines Jobcenters danach nur dort begründet werden kann, wo ein Leistungsempfänger mit Wohnsitzauflage seinen Wohnsitz zu nehmen berechtigt bzw. verpflichtet ist. Auch die Ausführungen des SG zum fehlenden Anordnungsgrund sind einschlägig. Der Senat weist die Beschwerde daher nach eigener Sachprüfung aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses vom 15. Januar 2018, auf die gem. § 142 Abs. 2 S. 3 SGG zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird, zurück. Das Beschwerdevorbringen der Antragsteller rechtfertigt keine anderslautende Beurteilung und gibt lediglich Anlass zu den folgenden ergänzenden Ausführungen: Nach § 36 Abs. 2 SGB II ist für die Leistungen nach dem SGB II der Träger zuständig, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach § 12 a Abs.1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ihren Wohnsitz zu nehmen hat. Nach § 12 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist ein Asylberechtigter, Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter verpflichtet, für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen, in das er zur Durchführung des Asylverfahrens zugewiesen worden ist. Der Aufenthaltstitel für die Antragsteller wurde mit einer entsprechenden Nebenbestimmung versehen, wonach eine (freie) Wohnsitzwahl im gesamten Land Niedersachsen zu nehmen ist. Damit erstreckt sich das Gebiet, in dem die Antragsteller ihren Aufenthalt zu nehmen haben - jedenfalls solange eine Aufhebung der Wohnsitzauflage nicht erfolgt ist - auf das Land I ... Nur dort kann unter Berücksichtigung des insoweit begrenzten Freizügigkeitsrechts die Zuständigkeit eines Jobcenters begründet werden (so auch Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Juni 2017 - L 31 AS 618/17 B ER; Böttiger, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 36 Rn. 49c). Folgerichtig hat das SG daher festgestellt, dass eine Zuständigkeit des Antragsgegners aufgrund dieser eindeutigen Regelungen unter keinen rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht kommt. Die von den Antragstellern im Ergebnis gewünschte Auslegung, dass die Adressaten einer Wohnsitzauflage ohne Konsequenzen ihren Wohnsitz unter Aufrechterhaltung des SGB II-Anspruches faktisch eigenmächtig frei wählen können sollen, widerspricht auch Sinn und Zweck der §§ 36 SGB II, 12a AufenthG. §12a AufenthG soll der Steuerung der Wohnsitzaufnahme von Schutzbedürftigen dienen. Mit der Wohnsitzregelung wird das Ziel einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik sowie die Vermeidung von integrationshemmender Segregation verfolgt (BT-Drucks. 18/8615, S. 42). Im Ergebnis sollen die Lasten des Flüchtlingsstroms gleichmäßig auf alle Bundesländer verteilt werden (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Juni 2017 - L 31 AS 618/17 B ER). Durch die Regelung des § 36 Abs. 2 SGB II soll § 12a AufenthG leistungsrechtlich dadurch flankiert werden, dass die Personen, die einer Wohnsitzauflage unterliegen, nur dort, wo die Wohnsitznahme zulässig ist, SGB II-Leistungen beantragen und entgegennehmen können sollen (BT-Drucks. 18/8615, S. 33 f.). Auch dies verdeutlicht, dass der Leistungsberechtigte nicht entgegen einer bestehenden Wohnsitzauflage Leistungen nach dem SGB II an jedem beliebigen Wohnort in Deutschland in Anspruch nehmen kann. Soweit die Antragsteller vortragen, dass sie bereits ein Aufhebungsverfahren betreffend die Wohnsitzauflage beim Landkreis J. eingeleitet haben, führt dies zu keiner abweichenden Beurteilung. Der ausländerrechtlichen Wohnsitzauflage kommt Tatbestandswirkung zu, wie sich bereits aus der Regelung des § 12a Abs. 8 AufenthG ergibt, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Verpflichtungen nach § 12a Abs. 2 bis 4 AufenthG keine aufschiebende Wirkung haben. Für die Träger der Grundsicherung sind sie daher bindend, bis sie von der Ausländerbehörde oder im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben werden (Groth in: GK-SGB II, § 36 Rn. 57). Weder der Antragsgegner noch das SG oder der Senat haben zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aufhebung der Auflage - hier die geltend gemachten Härtefallgründe - nach § 12a Abs. 5 AufenthG vorliegen (Groth, a.a.O.). Die von den Antragstellern erhobenen allgemeinen Bedenken gegen die Wohnsitzauflage, die das materielle Ausländerrecht betreffen, können daher auf die Bestimmung des Leistungsträgers nach § 36 SGB II nicht durchschlagen (vgl. LSG Hamburg, Beschluss vom 8. Mai 2017 - L 4 AS 114/17 B ER). Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Aus den dargelegten Gründen fehlt es der Beschwerde auch an hinreichenden Erfolgsaussichten für die beantragte Bewilligung von Prozesskostenhilfe (§ 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).