Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 13.11.2007, Az.: 1 A 1824/07
Asyl; Asylablehnung; beachtliche Wahrscheinlichkeit; dauerndes Merkmal; Homosexueller; innerstaatliche Fluchtalternative; Merkmal; Nigeria; Seeweg; sicherer Drittstaat; soziale Gruppe; Verfolgung
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 13.11.2007
- Aktenzeichen
- 1 A 1824/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 71999
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 1 AufenthG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Homosexuellen droht in Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine landesweite Gefahr für ihre Freiheit wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG.
Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in der Person des Klägers in Bezug auf Nigeria vorliegen. Insoweit und bezüglich der Androhung der Abschiebung des Klägers nach Nigeria wird der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Juni 2007 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die außergerichtlichen Kosten tragen die Beklagte und der Kläger je zur Hälfte.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Jeder Beteiligte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder durch Hinterlegung des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der andere Beteiligte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger am geborene Kläger ist nigerianischer Staatsbürger. Er stellte am 15. Januar 2007 einen Asylantrag.
Im Rahmen seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 16. Januar 2007 trug er im Wesentlichen folgendes vor:
Er sei homosexuell und habe Frauen noch nie als sexuell attraktiv empfunden. Er habe mit seiner Mutter in der Stadt M. im nordnigerianischen Bundesstaat B. gelebt. Dort habe er Kontakt zu einem weißen Mann gehabt, der ihn sexuell verführt habe. Dabei habe er - der Kläger - bemerkt, dass ihm homosexueller Geschlechtsverkehr gefalle. Nach dem Tod seiner Mutter im Jahre 1998 habe er dann mit diesem Weißen zusammen gelebt, bis dieser im Jahre 2002 zurück nach Amerika versetzt wurde. Im Jahre 2004 sei er - der Kläger - dann in ein Dorf namens O. umgezogen, weil dort die Lebenshaltungskosten geringer gewesen seien. Dort habe er weiter homosexuelle Beziehungen gehabt, unter anderem mit dem Häuptlingssohn. Als dies ans Tageslicht gekommen sei, hätten die Dorfbewohner seine Unterkunft zerstört und, als er von der Arbeit nach Hause gekommen sei, auch ihn verfolgt. Er habe aber entkommen und sich im Dorf im Haus eines Unbekannten verstecken können. Der Unbekannte habe ihn dann in der Nacht im Kofferraum seines Autos aus dem Dorf geschmuggelt und zu einem Seehafen gebracht. Dort sei er einem weißen Mann vorgestellt worden, der ihn auf ein Schiff geführt habe. Mit diesem Schiff sei er dann nach Europa gekommen. Er sei im Dezember 2006 angekommen, seines Wissens in Hamburg. In Deutschland versuche er, sein Leben zu ändern und von der Homosexualität loszukommen. Für den Fall einer Rückkehr nach Nigeria fürchte er aber um sein Leben.
Die Beklagte hat den Asylantrag des Klägers mit Bescheid des Bundesamtes vom 21. Juni 2007 als unbegründet abgelehnt. Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter stehe dem Kläger schon deswegen gem. Art. 16a Abs. 2 GG nicht zu, weil er nicht nachgewiesen oder sonst glaubhaft gemacht habe, dass er wirklich ohne Kontakt mit einem sicheren Drittstaat per Schiff nach Deutschland eingereist sei. Auch ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG stehe dem Kläger nicht zu. Zwar habe das Bundesamt aufgrund des Vortrags des Klägers in der Anhörung keine ernsthaften Zweifel an seiner Homosexualität. Unglaubhaft sei allerdings die von ihm konkret geschilderte Verfolgungsgeschichte. Allein seine Homosexualität sei aber nicht ausreichend, um die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in Bezug auf Nigeria zu erfüllen. Homosexualität sei zwar dort landesweit strafbar. Eine aktive Suche nach Homosexuellen finde aber nicht; zur strafrechtlichen Verfolgung komme es nur in Ausnahmefällen. Der Kläger könne sich in einer der Großstädte Südnigerias niederlassen und dort problemlos in der Anonymität der Großstadt untertauchen. Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG lägen nicht vor.
Der Kläger hat am 27. Juni 2006 Klage erhoben.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Juni 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie die Beklagte zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu verpflichten,
hilfsweise,
die Beklagte zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu verpflichten und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Juni 2007 aufzuheben, sofern er dem entgegen steht.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Niederschrift der Verhandlung verwiesen.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im übrigen ist sie unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf seine Anerkennung als Asylberechtigter. Dem steht schon Art. 16a Abs. 2 GG entgegen, wonach sich auf das Asylgrundrecht nicht berufen kann, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder einem anderen sicheren Drittstaat einreist. Für die Behauptung des Klägers, auf dem Seeweg direkt von Nigeria in die Bundesrepublik eingereist zu sein, gibt es keinerlei nachvollziehbare Anhaltspunkte. Auch die Angaben des Klägers selbst sind diesbezüglich unglaubhaft. Dass ihn zwei ihm zuvor völlig Unbekannte spontan und kostenlos per Auto und Schiff von Nigeria nach Deutschland transportiert haben sollen, ist nicht nachvollziehbar. Insofern wird auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylVfG). Die persönliche Anhörung der Klägers durch den Einzelrichter hat keinen Ansatzpunkt für eine abweichende Beurteilung ergeben.
Dagegen hat der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person in Bezug auf Nigeria die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Die Ablehnung dieser Feststellung im angegriffenen Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten aus § 60 Abs. 1 AufenthG.
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sind in der Person des Klägers im Hinblick auf Nigeria erfüllt. Im Falle der Abschiebung nach Nigeria wäre die Freiheit des Klägers wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen bedroht. Diese Gefahr geht vom nigerianischen Staat aus und besteht landesweit, so dass keine innerstaatliche Fluchtalternative für den Kläger vorhanden ist.
Dabei kann letztendlich offen bleiben, ob die Ausführungen des Klägers zu seiner sexuellen Beziehung mit dem Häuptlingssohn des Dorfes O. und der anschließenden Verfolgung durch die Dorfbewohner zutreffen. Der Einzelrichter teilt insofern die Bedenken, die die Beklagte im angegriffenen Bescheid geäußert hat.
Darauf kommt es aber nicht entscheidend an. Entscheidend ist vielmehr allein, dass der Kläger homosexuell ist.
Von der Wahrheit dieser Tatsache ging ausdrücklich auch die Beklagte „ohne ernsthaften Zweifel“ in ihrem angefochtenen Bescheid aus, auf den der Einzelrichter insoweit in vollem Umfang verweist (§ 77 Abs. 2 AsylVfG). Die persönliche Befragung des Klägers durch den Einzelrichter und den Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung hat insofern keine neuen Erkenntnisse gebracht. Vielmehr bestätigte sich auch in den Augen des Einzelrichters der Eindruck, den die zuständige Einzelentscheiderin der Beklagten schon im Rahmen der Anhörung des Klägers im Asylverfahren gewonnen und im angegriffenen Bescheid zum Ausdruck gebracht hat: Dem Kläger war es ersichtlich peinlich, über seine Homosexualität im Einzelnen zu sprechen; er führte selbst aus, dass er zu Gott bete, ihn in diesem Punkt zu ändern.
Der Einzelrichter geht somit von derselben Tatsachengrundlage aus, die auch die Beklagte dem angefochtenen Bescheid zugrunde legte. Er folgt jedoch nicht der Rechtsauffassung der Beklagten, wonach sich aus diesem Sachverhalt nicht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG ergibt.
Homosexuelle stellen in Nigeria eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 und 5 AufenthG i. V. m. Art. 10 Abs. 1 lit. d) S. 2 der Richtlinie 2004/83/EG dar.
Nach Art. 10 Abs. 1 lit. d) S. 2 der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), die nach § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG für die Auslegung des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG ergänzend heranzuziehen ist, kann je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland als eine „soziale Gruppe“ auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet.
Die frühere, aus der Zeit vor der Qualifikationsrichtlinie stammende Rechtsprechung, derzufolge Homosexuelle grundsätzlich keine „soziale Gruppe“ im Sinne des Art. 1 A Nr. 2 GK sein können (so BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 145), ist demzufolge überholt. Darauf, ob die Homosexualität für den Betroffenen „unentrinnbar“ ist, so dass er sich gleichgeschlechtlicher Betätigung gar nicht enthalten kann (vgl. BVerwG, vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 151 und Urteil vom 17. Oktober 1989, 9 C 25/89, NVwZ-RR 1990, 375 zu Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a. F.), kommt es daher nicht mehr an. Das Erfordernis der „Unentrinnbarkeit“ wurde vom Bundesverwaltungsgericht deshalb aufgestellt, weil es Homosexuelle nicht als „soziale Gruppe“ ansah, sondern ihre Unterdrückung unter das Tatbestandsmerkmal „Verfolgung wegen eines unabänderlichen, mit Rasse oder Nationalität vergleichbaren Merkmals“ subsumierte (vgl. BVerwG, vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 145 - 147; dazu auch Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 19 Rn. 37). Als ein solches „unabänderliches“ Merkmal kommt natürlich nur eine „unentrinnbare“, für den Betroffenen nicht veränderbare sexuelle Ausrichtung in Betracht. Die Qualifikationsrichtlinie ordnet dagegen ausweislich der Begründung des Kommissionsentwurfs zu Art. 10 Abs. 1 lit d) die sexuelle Ausrichtung nicht den unveränderlichen Merkmalen zu, sondern denjenigen, deren Verzicht vom Kläger auch bei Abänderlichkeit wegen ihres identitätsprägenden Charakters nicht verlangt werden kann (Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 19 Rn. 30, 39). Damit kommt es nach der Richtlinie nicht mehr darauf an, ob der Kläger die sexuelle Enthaltsamkeit, die er nach seinen Angaben seit seiner Einreise nach Deutschland freiwillig übt, auf Dauer durchhalten kann. Wenn er sich homosexueller Betätigung unter Aufbietung großer Willensanstrengungen für einen längeren Zeitraum enthalten könnte und damit nicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht „unentrinnbar“ homosexuell wäre, so würde dies nur dazu führen, dass seine Homosexualität für ihn kein unabänderliches, mit Rasse oder Nationalität vergleichbares Merkmal ist. Unter das Tatbestandsmerkmal „Angehöriger einer durch ihre sexuelle Orientierung definierten sozialen Gruppe“ fiele er aber immer noch, da die Unterdrückung seiner sexuellen Orientierung vom Kläger nach der Wertung der Richtlinie gerade auch dann nicht verlangt werden kann, wenn sie ihm faktisch möglich ist.
Es kommt also für § 60 Abs. 1 AufenthG nur darauf an, ob der Kläger einer sozialen Gruppe im Sinne des Art. 1 A Nr. 2 GK angehört, was nach Art. 10 Abs. 1 d) der Qualifikationsrichtlinie wiederum der Fall ist, wenn die Homosexualität für den Kläger identitätsprägend wäre und Homosexuelle in Nigeria eine Gruppe mit deutlich abgegrenzter Identität wären, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. auch Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 19 Rn. 31, 46).
Seine Homosexualität ist für die Identität des Klägers ein prägendes Merkmal. Nach seinen auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Aussagen zu seiner homosexuellen Einstellung ist diese bereits früh im Zusammenhang mit seinen ersten Sexualitätserfahrungen aufgetreten. Auch später hat der inzwischen 23 Jahre alte Kläger ausschließlich Interesse an homosexuellen Beziehungen gehabt, nicht aber an Frauen. Seine sexuelle Identitätsbildung kann angesichts seines Lebensalters aufgrund der allgemeinen Erfahrung als im Wesentlichen abgeschlossen betrachtet werden. Gerade wenn er in der Anhörung durch die Beklagte und in der mündlichen Verhandlung „entschuldigend“ ausführt, er versuche nun in Deutschland sein Leben zu ändern und bete zu Gott, seine Homosexualität hinwegzunehmen, zeigt dies, wie sehr er einerseits selbst von den in seiner Heimat herrschenden Moralvorstellungen geprägt ist, die Homosexualität für verwerflich halten, und wie schwer es ihm andererseits dennoch fällt, dieses Merkmal zu verleugnen.
Homosexuelle werden ferner in Nigeria von der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft als andersartig betrachtet und sind deshalb dort eine Gruppe mit deutlich abgegrenzter Identität. Die Mehrheitsgesellschaft ist nicht bereit, ihre Neigung offen auslebende Homosexuelle als gleichwertige Mitbürger zu betrachten, sondern grenzt sie als „fremd“ und „andersartig“ aus. Offen ausgelebte Homosexualität ist in Nigeria gesellschaftlich geächtet (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 1 f.). Herausragende Persönlichkeiten des religiösen und politischen Lebens haben Homosexualität als „abscheulich“, „unnatürlich“, „unbiblisch“ und „unafrikanisch“ verdammt (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 7). Interessierte Gruppen versuchen, Homosexualität wahrheitswidrig als etwas erst durch die Kolonialmächte nach Afrika hineingetragenes darzustellen (vgl. Gutachten d. Instituts für Afrika-Kunde vom 11.11.2002 an VG Oldenburg zu 2 A 2928/02). Die breite Bevölkerung grenzt Homosexuelle - wenn deren Veranlagung öffentlich bekannt wird - sozial aus oder greift sogar zu Verfolgungsmaßnahmen bis hin zur Lynchjustiz (Vgl. Gutachten d. Instituts für Afrika-Kunde vom 11.11.2002 an VG Oldenburg zu 2 A 2928/02 und Gutachten an VG München vom 19. Januar 2006; ferner Auskunft AI an VG Düsseldorf vom 3. August 2006).
Dem Kläger droht in Nigeria auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr für seine Freiheit aufgrund von an die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen anknüpfender staatlicher Verfolgung.
Homosexuelle Handlungen sind in ganz Nigeria auch dann strafbar, wenn sie unter erwachsenen Männern mit Einverständnis aller Beteiligter erfolgen. Das in den nördlichen Bundesstaaten gültige Scharia-Recht sieht Körperstrafen bis hin zur Steinigung vor (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 22 f. und 26). Im säkularen Rechtskreis der südlichen Bundesstaaten sieht das Gesetz Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis 3 Jahren (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 26), nach anderen Informationen sogar teilweise bis zu 14 Jahren vor (Gutachten d. Instituts für Afrika-Kunde vom 11.11.2002 an VG Oldenburg zu 2 A 2928/02; Auskunft AI an VG Oldenburg vom 11.2.2003 zu 2 A 2928/02; Auskunft AA an VG Stuttgart vom 17.5.2004; Auskunft AA an VG Düsseldorf vom 25. Juli 2006; Auskunft AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf). Die Regierung verabschiedete Anfang 2006 zur umfassenderen Bekämpfung der Homosexualität den Entwurf eines Gesetzes, das schon das bloße Werben für gleichgeschlechtliche Beziehungen (etwa die Mitgliedschaft in Vereinen, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzen oder die Teilnahme an CSD-Paraden) unter Strafe stellt (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 26; Auskunft AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf; ausf. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 9 ff.). Mit der Verabschiedung des Entwurfes durch die Legislative ist zu rechnen (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 13). Allgemein findet in Nigeria in seit einigen Jahren eine öffentliche Kampagne v. a. staatlicher und religiöser Akteure (christlicher wie muslimischer Seite) gegen Homosexuelle statt, die zu einem Klima zunehmender Intoleranz führt (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 7; Institut für Afrika-Kunde, Gutachten an VG Oldenburg vom 11.11.2002 zu 2 A 2928/02 sowie Gutachten vom 19. Januar 2006 an VG München; Auskunft AI an VG Düsseldorf vom 3. August 2006).
Im Lichte dieser neueren Entwicklungen hat AI ausdrücklich seine Einschätzung früherer Jahre, wonach freiwillige homosexuelle Handlungen in Großstädten in der Regel praktisch nicht strafrechtlich verfolgt würden, „dramatisch ins Gegenteil“ gekehrt (vgl. Auskunft von AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf).
Das Auswärtige Amt sieht allerdings keine solche Veränderung (vgl. Auskunft vom 15.6.2006 an VG München). Es berichtet nach wie vor, dass sowohl im säkularen als auch im Scharia-Rechtskreis selbstbestimmte homosexuelle Handlungen in der Praxis „soweit erkennbar“ „nur in Ausnahmefällen“ verfolgt würden (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 26). Eine aktive Verfolgung von bzw. Suche nach Homosexuellen finde nicht statt (Auskunft AA an VG Stuttgart vom 17.5.2004). Das Auswärtige Amt spezifiziert die „Ausnahmefälle“, in denen eine Strafverfolgung erfolgt sei, allerdings weder quantitativ noch qualitativ (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 26). Auch relativiert es seine Angaben dadurch, dass es sie ausdrücklich unter den Vorbehalt des „soweit erkennbar“ stellt. Es gibt in der Tat Anhaltspunkte für Zweifel daran, ob dem Auswärtigen Amt wirklich lückenlose Erkenntnisse über den tatsächlichen Umfang der Strafverfolgung Homosexueller in Nigeria zur Verfügung stehen. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage der Fraktion “Bündnis 90/ Die Grünen” eingeräumt, dass ihr über den tatsächlichen Umfang der Bestrafung einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter Erwachsenen im Ausland nur vereinzelte Informationen vorlägen, da Homosexualität in den betroffenen Staaten stark tabuisiert sei und daher weder eine öffentliche Diskussion geführt noch amtliche Statistiken über ihre Strafverfolgung veröffentlicht würden (BT-Drs., 16/2800 vom 14.12.2006, S. 4). Ähnliches berichtet auch AI in seiner Auskunft vom 3.8.2006 an das VG Düsseldorf über seine Erkenntnislage zu Nigeria. Hinzu kommt, dass Verurteilungen teilweise schon deswegen nicht bekannt werden können, weil in Nigeria Homosexuelle häufig auch ohne Strafurteil für längere Zeit inhaftiert werden (vgl. Auskunft AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf; vgl. ferner auch BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 16).
Aufgrund einer Gesamtschau dieser Erkenntnisquellen geht der Einzelrichter davon, dass in Nigeria zwar sicherlich keine massenhafte tatsächliche Strafverfolgung einverständlicher homosexueller Handlungen unter männlichen Erwachsenen erfolgt, eine Verfolgung aber in einer im Einzelnen nicht genau bekannten Anzahl von „Ausnahmefällen“ stattfindet. Dies trifft auch auf den Süden des Landes und die dortigen Großstädte zu. Die vom BAMF selbst herausgegebenen Informationen rechtfertigen nicht den im angegriffenen Bescheid gezogenen Schluss, dort herrsche gegenüber Homosexuellen echte Toleranz. So ist es auch in Lagos 2006 und 2007 in zwei Fällen zur Inhaftierung praktizierender Homosexueller gekommen (BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 15). 2006 hat dort der Mob überdies eine von Homosexuellen häufig frequentierte Strandbar niedergebrannt (BAMF, aaO., S. 17).
Die Gründe dafür, dass in der Praxis wohl nur relativ wenige Verurteilungen vorkommen, sind vielfältig. Eine Ursache ist, dass Homosexuelle in Nigeria sehr darauf bedacht sind, dass ihre Veranlagung und sexuelle Praxis nicht bekannt wird (Auskunft AA an VG Düsseldorf vom 25. Juli 2006; Auskunft AI an VG Düsseldorf vom 3. August 2006). Ferner werden die allgemeine Ineffizienz der Strafverfolgungsbehörden, Beweisschwierigkeiten, Korruption sowie zurückhaltendes Anzeigeverhalten der Bevölkerung genannt (vgl. Gutachten des Instituts für Afrika-Kunde vom 11.11.2002 an VG Oldenburg zu 2 A 2928/02; BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 19). Das zurückhaltende Anzeigeverhalten der Bevölkerung beruht aber nicht etwa auf gesellschaftlicher Toleranz gegenüber Homosexualität, sondern auf einem allgemeinen Mangel an Vertrauen in die nigerianische Polizei (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 19). Häufig nehmen etwa Nachbarn, die Fälle von Homosexualität bemerken, die Verfolgung selbst in die Hand, was bis hin zur Lynchjustiz geht (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 19; zur verbreiteten Lynchjustiz gegenüber Homosexuellen auch Institut für Afrika-Kunde, Gutachten an VG Oldenburg vom 11.11.2002 zu 2 A 2928/02 sowie Gutachten vom 19. Januar 2006 an VG München; Auskunft AI an VG Düsseldorf vom 3. August 2006). Wenn tatsächliche oder angebliche homosexuelle Handlungen bei den Behörden angezeigt werden, kommt es aber durchaus zum Versuch der Festnahme und Strafverfolgung des Beschuldigten (sofern dieser nicht höhere Bestechungsgelder als der Anzeigende aufzubringen vermag) (BAMF, Information Homosexualität in Nigerias, März 2007, S. 19, 27).
Ist der echte oder angebliche Homosexuelle erst einmal in die Fänge des staatlichen Sicherheitsapparates geraten, drohen ihm Polizeigewalt und selbst außergerichtliche Exekutionen (vgl. AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf). Aber auch wenn es „nur“ zu der gesetzlich vorgesehenen Inhaftierung kommt, bringt dies jahrelange Haft unter schlimmsten Bedingungen mit sich. Dabei kann letztendlich dahinstehen, ob die gesetzlich vorgesehene Höchststrafe im säkularen Süden des Landes bei 3 oder bei 14 Jahren Haft liegt. In Nigeria werden Untersuchungshäftlinge (die ca. 65 % der Gefängnisinsassen ausmachen) häufig länger inhaftiert als die Höchststrafe des ihnen vorgeworfenen Delikts dauern könnte, und zwar zum Teil 10 bis 15 Jahre. Auch Verurteilte bleiben wegen Schlamperei im Umgang mit den Vollzugsakten häufig noch nach Ablauf ihrer eigentlichen Haftstrafe im Gefängnis (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 11, 31; ähnl. AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf). Die Haftbedingungen sind - ganz besonders für Untersuchungshäftlinge - katastrophal. Nicht einmal die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser ist sicher gestellt. Immer wieder kommt es deshalb zu Todesfällen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 31).
Unter diesen Umständen besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger wegen seiner Homosexualität in Nigeria Freiheitsentzug droht. Dies gilt selbst dann, wenn man die Ausführungen des Klägers zu seiner Vorverfolgung durch Dorfbewohner für unglaubhaft erachtet und ihm daher nicht den herabgesetzten Wahrscheinlichkeitsmaßstab eines Vorverfolgten zugute kommen lässt (so im Ergebnis für die Situation Homosexueller in Nigeria auch VG Leipzig, Urteil vom 21.12.1998, A 2 K 30357/95, InfAuslR 1999, 309, 310; VG Chemnitz, Urteil vom 9.5.2003, 6 A 305358/97.A, juris; VG München, Urteil vom 30. Januar 2007, M 21 K 04.51494, Asylmagazin 9/2007, 25, 26; a. A. VG München, Gerichtsbescheid vom 9. Januar 2006, M 12 K 05.50666, juris, VG Oldenburg, Gerichtsbescheid vom 11. Februar 2003, 2 A 5145/02, VG Oldenburg, Urteil vom 25. November 2004, 2 A 2928/02).
Eine Verfolgung droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 150). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder statistischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht (BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 150).
An diesen Maßstäben gemessen, besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung des Klägers in Nigeria wegen seiner Homosexualität. Zwar liegt die statistische Wahrscheinlichkeit dafür unter 50 %, da nach den oben angeführten Erkenntnissen die tatsächliche Strafverfolgung einverständlicher homosexueller Handlungen in Nigeria rein quantitativ eine Ausnahme ist. Belastbare Erkenntnisse über den genauen Umfang der tatsächlichen Strafverfolgung liegen jedoch nicht vor; die genaue Zahl der „Ausnahmefälle“ ist unbekannt. Sicher ist aber aufgrund der oben ausgewerteten Erkenntnismittel, dass der weitgehenden Nichtverfolgung von einverständlicher Homosexualität unter Erwachsenen keine verfestigte, offizielle Politik, diese Strafrechtsnormen nicht mehr praktisch durchzusetzen, zugrunde liegt. Die nigerianische Bundesregierung und religiöse Autoritäten des Christentums wie des Islams verurteilten vielmehr gerade in letzter Zeit die Homosexualität scharf und befürworteten eine Ausdehnung ihrer Strafbarkeit. Wo homosexuelles Verhalten angezeigt wird sind die Behörden - vorbehaltlich ihrer allgemeinen Ineffizienz und Korruptionsanfälligkeit - bemüht, den Verdächtigen festzunehmen und zu verfolgen. Grund für die praktisch eher seltene Strafverfolgung Homosexueller ist nicht eine regional beschränkte gesellschaftliche Toleranz, die dazu führt, dass die Strafvorschriften gegen einverständliche homosexuelle Handlungen zumindest in den Großstädten des Südens nur noch auf dem Papier stehen, aber von den Behörden bewusst nicht mehr durchgesetzt werden. Vielmehr ergibt sich aus den oben angegebenen Erkenntnisquellen, dass nur allgemeine Missstände im nigerianischen Polizei- und Justizapparat, die große Vorsicht der Betroffenen, sich „nicht erwischen zu lassen“, sowie das mangelnde Vertrauen der Mehrheitsbevölkerung in die korrupte Polizei, die sie die Selbstjustiz einer Anzeige vorziehen lässt, eine Strafverfolgung größeren Umfangs hindern.
Unter diesen Umständen kann bei einem vernünftig denkenden, besonnen Menschen in der Lage des Klägers trotz der statistisch unter 50 % liegenden Wahrscheinlichkeit die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden. Es gibt keine verlässliche Grundlage, sondern lediglich eine gewisse statistische Chance für die Annahme, dass der Kläger in einer südnigerianischen Großstadt bei sorgfältigem Verbergen seiner sexuellen Präferenzen und bei Ausbleiben einer Anzeige aufgrund der Ineffizienz des Staatsapparates der eigentlich gesetzlich vorgeschriebenen und politisch gewollten Verfolgung entgeht. Sollte ihm dieses sorgfältige Verbergen aber einmal misslingen oder sollte ein Nachbar Verdacht schöpfen und den Kläger - anstatt zur üblichen Selbstjustiz zu greifen - bei der Polizei anzeigen, wird er aller Voraussicht nach auch in einer Großstadt Südnigerias mit der Verhaftung rechnen müssen. Wenn ein für eine bestimmte „soziale Gruppe“ kennzeichnendes Verhalten (hier: einverständliche homosexuelle Praktiken unter Erwachsenen Männern als typisches Verhalten der sozialen Gruppe „Homosexuelle“) im Heimatland des Ausländers mit Freiheitsstrafe bedroht wird, die Behörden dieses Landes grundsätzlich bemüht sind, diese Strafnormen im Rahmen des ihnen faktisch möglichen umzusetzen, und es keinerlei konkrete Anhaltspunkte für die Annahme gibt, der Ausländer werde zu denjenigen Fällen gehören, in denen die praktische Durchsetzung der Strafandrohung zufällig scheitert, dann besteht eine „begründete Furcht“, dass ihm Inhaftierung droht.
Dabei kann für die Beurteilung der Schwere der dem Kläger drohenden Gefahr auch nicht völlig außer Acht bleiben, dass ihm schon im Falle der bloßen vorläufigen Festnahme aufgrund einer Anzeige Polizeigewalt, extralegale Exekution oder langjährige Untersuchungshaft unter erbärmlichen Bedingungen drohen, bei denen nicht einmal seine Versorgung mit Wasser und Grundnahrungsmitteln sichergestellt ist. Unter solchen Begleitumständen ist besondere Vorsicht mit der Annahme geboten, eine rechtlich mögliche und politisch wie gesellschaftlich nahezu allgemein gewünschte Verfolgungsmaßnahme werde aufgrund praktischer Durchsetzungsmängel schon unterbleiben.
Der Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, der drohenden Inhaftierung in Nigeria dadurch zu entgehen, dass er sich dort in Zukunft entgegen seiner Veranlagung homosexueller Betätigung enthält. Homosexuelles Verhalten ist eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit der menschlichen Persönlichkeit und gehört daher zu der durch die völkerrechtlichen Menschenrechtsnormen (vgl. nur Art. 8 EMRK) geschützten Privatsphäre (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, NJW 1984, 541, 543). Die sexuelle Identität stellt einen konstitutiven Bestandteil der Persönlichkeit eines jeden Menschen dar. Wird ein Mensch gezwungen, diesen wesentlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit zu negieren, ist er in seiner durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde in erheblichem Maße beeinträchtigt (VG Gießen, Beschluss vom 28. August 1999, 10 E 30832-98, NVwZ-Beilage 1999, Heft 12, S. 7). Es kann ihm daher nicht ohne weiteres zugemutet werden, dieses persönlichkeitsprägende Merkmal zu unterdrücken oder zu verheimlichen (so im Ergebnis auch VG München, Urteil vom 30. Januar 2007, M 21 K 04.51494, Asylmagazin 9/2007, 25, 26 f.). Gerade für jemanden wie den Kläger, der glaubhaft angibt, sexueller Verkehr mit Frauen sei für ihn uninteressant, würde dies bedeuten, auf die einzige Form verzichten zu müssen, in der er nach seiner persönlichen Veranlagung den jedem Lebewesen ureigenen natürlichen Sexualtrieb in erfüllender Weise ausleben kann. Es kann von einem Betroffenen aber nicht verlangt werden, dass er generell auf sexuelle Betätigung verzichten muss, nur weil sein Sexualverhalten nicht demjenigen der Mehrheit entspricht (VG Gießen, Beschluss vom 28. August 1999, 10 E 30832-98, NVwZ-Beilage 1999, Heft 12, S. 8 [VG Stuttgart 11.08.1998 - 11 K 364/98]).
Die in Nigeria drohende Bestrafung des Klägers wegen homosexueller Betätigung ist auch „Verfolgung“ im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, und nicht nur gewöhnliche Strafverfolgung, wie sie nach § 60 Abs. 6 AufenthG einer Abschiebung nicht entgegen stünde.
„Verfolgung“ im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG ist nach § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG i. V. m. Art. 9 Abs. 2 c) Richtlinie 2004/83/EG unter anderem die „unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung.“ Eine solche stellt die dem Kläger in Nigeria drohende langjährige Inhaftierung wegen einverständlichem homosexuellen Geschlechtsverkehr mit Erwachsenen dar.
Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick in seinem Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 149 ausgeführt, der Untersagung einverständlicher homosexueller Betätigung unter Erwachsenen im Heimatland aus Gründen der dort herrschenden öffentlichen Moral könne für sich allein keine asylrechtliche Bedeutung beigemessen werden und der Zwang sich entsprechend den in dieser Hinsicht herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hiermit nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, stelle für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung i. S. d. Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a.F. dar. Der Einzelrichter ist jedoch nicht der Auffassung, dass diese ausdrücklich nur zum Asylgrundrecht ergangene Rechtsprechung (vgl. BVerwG, aaO., BVerwGE 79, 143, 145 f.) unter Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie auch auf § 60 Abs. 1 AufenthG Anwendung finden kann. Der Ausgangspunkt des Bundesverwaltungsgerichts, dass die veränderten sittlichen Anschauungen über Homosexualität in der Bundesrepublik nicht von Bedeutung für die Beurteilung eines im Ausland aus Gründen der öffentlichen Moral geltenden Verbotes homosexueller Betätigung sein könnten, da es nicht Aufgabe des Asylrechts sei, gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen (BVerwG, aaO., BVerwGE 79, 143, 149), trifft in Bezug auf § 60 Abs. 1 AufenthG und vor dem Hintergrund des Art. 10 Richtlinie 2004/83/EG, der sexuelle Orientierung ausdrücklich als mögliches Verfolgungskriterium nennt, nicht den Kern der sich stellenden Frage. Es geht vorliegend nicht darum, europäische Wertvorstellungen über Homosexualität in Nigeria „durchzusetzen“. Eine wie auch immer geartete „Zwangswirkung“ auf den Heimatstaat, die Strafverfolgung Homosexueller einzustellen, kann und soll von der Anerkennung einer solchen Bestrafung als „Verfolgung“ im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht ausgehen. Es geht vielmehr um die Frage, ob es nach den in § 60 Abs. 1 AufenthG und Art. 9, 10 Richtlinie 2004/83/EG zum Ausdruck kommenden humanitären Wertvorstellungen des europäischen Rechtskreises über den Umgang mit Flüchtlingen tolerabel ist, wenn ein europäischer Staat eine Person in ein Land ausweist, in dem ihr langjährige Freiheitsstrafe unter erbärmlichen Umständen droht, allein weil sie ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen dadurch Ausdruck verleiht, dass sie sich in Wahrnehmung des hierzulande als essentielles Menschenrecht betrachteten Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung auf freiwilliger Basis mit einer anderen erwachsenen Person homosexuell betätigt. Dies ist zu verneinen.
Staatliche Repressionen, die an die sexuelle Ausrichtung anknüpfen, bedürfen nach den in der EMRK kodifizierten europäischen Menschenrechtsvorstellungen besonders triftiger Gründe (vgl. EGMR, Urteil vom 27. September 1999, 33985/96 und 33986/96, Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich, NJW 2000, 2089, 2092). Vorurteile der heterosexuellen Mehrheitsbevölkerung gegenüber einer homosexuellen Minderheit sind keine ausreichende Rechtfertigung (EGMR, Urteil vom 27. September 1999, 33985/96 und 33986/96, Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich, NJW 2000, 2089, 2093). Der Zwang, eine von der Bevölkerungsmehrheit abweichende sexuelle Orientierung zu unterdrücken, obwohl durch sie Rechte Dritter nicht beeinträchtigt werden, stellt einen schweren und unerträglichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar (VG Gießen, Beschluss vom 28. August 1999, 10 E 30832-98, NVwZ-Beilage 1999, Heft 12, S. 7 f.). Eine daran anknüpfende langjährige Inhaftierung unter den in Nigeria üblichen Begleitumständen ist eine unverhältnismäßige Bestrafung und daher nach Art. 9 Abs. 2 c) der Qualifikationsrichtlinie eine im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG relevante Verfolgungsmaßnahme (so auch VG München, Urteil vom 30. Januar 2007, M 21 K 04.51494, Asylmagazin 9/2007, 25, 26). Soweit das erkennende Gericht im Urteil vom 28. Juli 2005, 7 A 1961/04 noch ausgeführt hat, auch der EGMR habe grundsätzlich anerkannt, dass eine Regelung männlichen homosexuellen Verhaltens zum Schutze der Moral notwendig sein könne, darf dabei nicht übersehen werden, dass der Straßburger Gerichtshof gleichwohl im Ergebnis noch nie die Menschenrechtskonformität einer Strafandrohung für einverständliche homosexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern bejaht hat (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, NJW 1984, 541 ff.; EGMR, Urteil vom 26. Oktober 1988, Serie A Bd. 142, S. 20, Norris ./. Irland; EGMR, Urteil vom 22. April 1993, Serie A, Bd. 259, S. 12, Modinos ./. Zypern; dazu auch Meyer-Ladewig, Hk-EMRK, Art. 8 Rn. 7).
Aber selbst wenn man die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 153 f. auf § 60 Abs. 1 AufenthG übertragen und die Strafverfolgung Homosexueller nur dann als „Verfolgung“ im Sinne dieser Norm anerkennen würde, wenn sie den Kläger gerade in seiner als besonders verderbnisstiftend angesehenen homosexuellen Veranlagung treffen soll, hätte die Klage Erfolg. Denn die in Nigeria für homosexuelles Verhalten drohende langjährige Inhaftierung soll Homosexuelle nicht nur nicht nur als Störer der öffentlichen Ordnung, sondern zugleich auch in ihrer als besonders verderbnisstiftend angesehenen sexuellen Veranlagung treffen (ähnl. auch VG Leipzig, Urteil vom 21.12.1998, A 2 K 30357/95, InfAuslR 1999, 309, 310). Das Bundesverwaltungsgericht schloss dies für die von ihm zu beurteilende Situation im Iran aus Äußerungen iranischer Autoritäten, nach denen Homosexuelle „Verkommene“ mit „satanischen Gelüsten“ seien, so dass sie „unter den Fluch Gottes“ fielen und „die Wurzeln der Homosexualität auszurotten“ seien (vgl. BVerwG, aaO., 154). Ähnlich klingen aber auch die vom BAMF in der Information „Homosexualität in Nigeria“ (März 2007) auf S. 7 - 9 zitierten Äußerungen nigerianischer Politiker und Religionsführer, bis hinauf zum Staatspräsidenten und dem Erzbischof der anglikanischen Kirche Nigerias: Danach ist Homosexualität eine „Abscheulichkeit“, „unnatürlich“, „unafrikanisch“ und „klar gegen die Bibel gerichtet“. Nigeria werde niemals derartige Beziehungen dulden, sondern der Infiltration durch die negative, fremde und im Westen entstandene homosexuelle Kultur Widerstand leisten. Auch hier wird Homosexualität nicht nur wegen greifbarer negativer sozialer Folgen ihrer praktischen Betätigung angegriffen, sondern schon als bloße Veranlagung wegen der ihr angeblich innewohnenden moralischen „Verderbnis“ verdammt.
Wenn das OVG Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 13. März 2007, OVG 3 N 13.07, juris, die Rechtsprechung des BVerwG dahingehend versteht, dass die Bestrafung von Homosexualität nur dann asylrelevant sei, wenn Todes- oder Leibesstrafen drohten, trifft dies nicht zu und lässt sich auch der zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts so nicht entnehmen. Dort wurde zwar auch erwähnt, dass dem Kläger im Iran die Todesstrafe drohe, letztlich entscheidend war aber nicht die Art der Strafandrohung, sondern ihr Zweck, nämlich dass sie den Kläger gerade in seiner als besonders verderbnisstiftend angesehenen homosexuellen Veranlagung als einer persönlichen Eigenschaft treffen sollte (vgl. BVerwGE 79, 143, 154). Dies kann je nach den Umständen des Einzelfalles auch bei einer langjährigen Gefängnisstrafe der Fall sein und ist es in Bezug auf Nigeria - wie ausgeführt - auch.
Da in der Person des Klägers mit Bezug auf Nigeria die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, ist nach § 59 Abs. 3 S. 2 AufenthG in der Abschiebungsandrohung Nigeria als der Staat zu bezeichnen, in den der Kläger nicht abgeschoben werden darf. Die Androhung der Abschiebung des Klägers nach Nigeria war daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.