Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 14.12.2010, Az.: 3 A 84/09
Rechtmäßigkeit der Auflösung einer Versammlung bzw. der Erteilung von Platzverweisen; Beeinträchtigung von Grundrechten im Hinblick auf das besondere Feststellungsinteresse nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO; Fortsetzungsfeststellungsinteresse wegen der Nichtbefolgung einer polizeilichen Anordnung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 14.12.2010
- Aktenzeichen
- 3 A 84/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 41961
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:2010:1214.3A84.09.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 2 Abs. 1 GG
- Art. 8 GG
- Art. 19 Abs. 4 GG
- § 42 Abs. 2 VwGO
- § 15 VersammlG
In der Verwaltungsrechtssache
des Herrn A.,
Klägers,
gegen
die Polizeidirektion Lüneburg,
Auf der Hude 2, 21339 Lüneburg,
Beklagte,
Streitgegenstand: Auflösung eines Umzuges (Versammlungsrecht),
hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 3. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2010 durch den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts Siebert, die Richterin am Verwaltungsgericht Dr. Thorn-Christoph, den Richter Dr. Vogt sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Düsenberg und Fischer
für Recht erkannt:
Tenor:
Es wird festgestellt, dass die Auflösung der vom Kläger angemeldeten und geleiteten Versammlung am 11. April 2009 rechtswidrig war.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Auflösung einer von ihm angemeldeten Versammlung und die anschließende Erteilung von Platzverweisen an die vormaligen Teilnehmer der Versammlung rechtswidrig waren.
Am 16. Januar 2009 meldete der Kläger für den 11. April 2009 eine Versammlung unter dem Motto "gegen linke Gewalt" bei der Stadt Lüneburg an. Die Versammlung sollte von 13:00 bis 20:00 Uhr stattfinden und von etwa 150 Teilnehmern des rechten Spektrums besucht werden. Beabsichtigt war, am Bahnhof Lüneburg zunächst eine 30minütige Auftaktkundgebung abzuhalten und dann über die Bahnhofstraße, die Bleckeder Landstraße/Lünertorstraße und die Lüner Straße zu ziehen. An der Ecke B. vor dem Tätowierstudio "C." sollte dann eine 30minütige Zwischenkundgebung stattfinden, anschließend sollte der Aufzug über die Straße Auf dem Kauf, Bei der Abtspferdetränke, Ilmenaustraße in die Altenbrückertorstraße Nr. 3 führen, wo eine zweite 30minütige Zwischenkundgebung vor dem Bekleidungsgeschäft "D." stattfinden sollte. Anschließend sollte der Aufzug über den östlichen Teil der Altenbrückertorstraße und die Bahnhofsstraße zurück zum Bahnhof. ziehen, wo schließlich eine Abschlusskundgebung stattfinden sollte. Jeweils von 15:00 Uhr bis 18:00 Uhr sollten darüber hinaus Mahnwachen vor dem Bekleidungsgeschäft "D." und dem Tätowierstudio "C." zu dem Motto "gegen linke Gewalt" stattfinden, da beide Geschäfte in der Vergangenheit verschiedenen politisch motivierten Angriffen wie Sachbeschädigungen durch Graffiti ausgesetzt waren.
Im Gegenzug meldete der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) am 19. Januar 2009 eine Demonstration unter dem Motto "Lüneburg ist bunt - Gegen Rechtsextremismus und Rassismus" ebenfalls für den 11. April 2009 an. Durch das "Bündnis für Demokratie/Netzwerk gegen Rechtsextremismus" erfolgten weitere Anmeldungen für Veranstaltungen am 11. April 2009.
Mit Bescheid vom 16. Februar 2009 verbot die Stadt Lüneburg die vom Kläger angemeldete Versammlung gemäß § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes (VersammlG). Durch Beschluss des erkennenden Gerichts vom 26. März 2009 (3 B 17/09) wurde die aufschiebende Wirkung der vom Kläger gegen diese Entscheidung am 9. März 2009 erhobenen Klage (3 A 61/09) wiederhergestellt. Nachdem am 1. April 2009 ein Kooperationsgespräch zwischen dem Kläger und der Versammlungsbehörde stattgefunden hatte, erließ die Stadt Lüneburg mit Verfügung vom 3. April 2009 verschiedene Auflagen hinsichtlich der genannten Versammlung, unter anderem wurde der Veranstaltungsbeginn auf 16:00 Uhr verlegt und die zeitliche Dauer auf drei Stunden ab Veranstaltungsbeginn begrenzt. Durch Beschluss des erkennenden Gerichts vom 8. April 2009 (3 B 24/09) wurde die aufschiebende Wirkung der vom Kläger am 7. April 2009 (3 A 76/09) gegen diese Auflagen erhobenen Klage teilweise wiederhergestellt, so dass die Veranstaltung um 13:00 Uhr beginnen konnte.
Am 11. April 2009 begann bereits gegen 10 Uhr die Demonstration des DGB und des "Bündnis für Demokratie/Netzwerk gegen Rechtsextremismus" mit etwa 2.000 Teilnehmern, die als Protest gegen die vom Kläger angemeldete Versammlung nach einer Auftaktkundgebung am St. Lambertiplatz als Aufzug über die vom Kläger gemeldete Route führte. Diese Veranstaltung endete um 13 Uhr und verlief weitestgehend störungsfrei. Gegen 13:00 Uhr begann die von dem Kläger geleitete Versammlung mit etwa 250 Teilnehmern vor dem Lüneburger Hauptbahnhof. Zunächst wurden die Versammlungsauflagen verlesen und eine Ansprache gehalten. Danach bewegte sich der Aufzug in Richtung Innenstadt. Gegen 13:30 Uhr wurde der Aufzug von der Polizei an der Einmündung der Bahnhofsstraße in die Bleckeder Landstraße/Lünertorstraße gestoppt. Grund dafür war eine Sitzblockade auf der Stint-Brücke (Lünerstraße/Kaufhausstraße), die gegen 13:29 Uhr begonnen hatte. Hierzu hatten sich zunächst etwa 70 Personen auf der betreffenden Brücke in kleinen Gruppen versammelt und dort gegenüber den Einsatzkräften der Polizei den Eindruck erweckt, sich zufällig dort aufzuhalten und keine Verbindung miteinander zu haben. Als diese Personen von Konfliktmanagementteams der Polizei angesprochen wurden, formierten sie sich zu Sitzreihen und verhakten jeweils ihre Arme und Beine mit denen des daneben Sitzenden (s. Foto in der Landeszeitung vom 2. September 2009, S. 5). Zahlreiche weitere Personen schlossen sich zügig an, so dass die Brücke schließlich von etwa 167 sitzenden Personen blockiert wurde. Dazu wurde ein Transparent mit der Aufschrift"(...) wir stellen uns quer" ausgerollt und Pappschilder hochgehalten, die Protest gegen die Versammlung des Klägers zum Ausdruck brachten. Dazu tauschten die Teilnehmer der Blockade teilweise ihre vorher getragene unauffällige Sommerkleidung gegen schwarze Bekleidung wie Kapuzensweatshirts, Jeans und Baseball-Kappen.
In der Folge führten der Kläger und der Konfliktmanager der Beklagten Kooperationsgespräche. Der Polizeidirektor E., der in telefonischen Kontakt mit dem Einsatzleiter Herrn Ltd. Polizeidirektor F. stand, schlug dem Kläger vor, den Aufzugsweg zu verkürzen und nur über die Schießgrabenstraße - Altenbrücker Torstraße und von dort zurück zum Bahnhof zu ziehen. Dies lehnte der Kläger mit der Begründung ab, dass die Zielorte der Demonstration (Bekleidungsgeschäft "D. " und Tätowierstudio "C. ") über die verkürzte Route nicht erreicht werden könnten. In der Folge wies Herr E. den Kläger darauf hin, dass die Versammlung aufgelöst werde, wenn er sich nicht kooperativ verhalte und die alternative Aufzugstrecke akzeptiere. Dies lehnte der Kläger wiederum ab. Daraufhin wurde die vom Kläger geleitete Versammlung um 14:14 Uhr auf Anordnung des LtdPD F. durch den Einsatzleiter der Beklagten mit der Begründung aufgelöst, dass bei einem Marsch auf der geplanten Route die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch die zu erwartenden Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten gefährdet sei.
Gegen 15 Uhr erteilte Herr E. den nicht in Lüneburg wohnhaften Teilnehmern der aufgelösten Versammlung Platzverweise für die Lüneburger Innenstadt (Gebiet westlich des Bahnhofs), nachdem diese mehrfachen Aufforderungen, die aufgelöste Versammlung in östlicher Richtung oder über den Bahnhof zu verlassen, nicht nachgekommen waren. Die geplanten Mahnwachen vor dem Geschäft "D." und dem Tätowierstudio "C. " wurden verboten.
Die Räumung der Sitzblockade auf der Stintbrücke einschließlich der Feststellung der Identität der Versammlungsteilnehmer begann nach Anordnung der Auflösung der Versammlung gegen 14:00 Uhr (erste Auflösungsverfügung um 13:47 Uhr) und dauerte bis 15:21 Uhr an.
Am 21. April 2009 hat der Kläger vor dem erkennenden Gericht Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen im Zusammenhang mit der von ihm am 11. April 2009 geleiteten Versammlung erhoben. Zur Begründung trägt er vor, die Auflösung der Versammlung sei nicht erforderlich gewesen, der Aufzug hätte stattdessen an der Einmündung zur Bleckeder Landstraße warten können bis die Sitzblockade aufgelöst worden sei, da zu diesem Zeitpunkt noch über zwei Stunden Versammlungszeit zur Verfügung gestanden hätten. Im Bereich seiner Versammlung sei die Situation ruhig und stabil gewesen. Darüber hinaus habe die Beklagte früher gegen die Blockierung der Brücke vorgehen müssen, um die Verdichtung der Blockade zu verhindern, da sich zunächst nur etwa 40 bis 50 Personen auf der Brücke befunden hätten. Weiterhin habe er das Angebot gemacht, durch die Bleckeder Landstraße Richtung Osten zu marschieren, was der Kontaktbeamte der Beklagten jedoch ohne Begründung abgelehnt habe. Der östliche Bereich der Bleckeder Landstraße sei völlig frei von Gegendemonstranten gewesen, zudem hätte ein eventuelles Nachrücken von Gegendemonstranten auf Grund der Bahnlinie leicht verhindert werden können. Die vom Einsatzleiter der Beklagten vorgeschlagene Alternativroute allein über die Schießgrabenstraße sei nicht akzeptabel gewesen, da der Versammlungszweck, auf die "linke Gewalt" gegenüber den genannten Geschäften hinzuweisen, hierbei nicht zu erreichen gewesen wäre. Der Vorschlag, von der Schießgrabenstraße in Richtung des Geschäfts "D." zu ziehen, sei ihm nicht unterbreitet worden, so dass er sich keine Gedanken darüber gemacht habe, ob dies eine akzeptable Alternative hätte darstellen können.
Für die erteilten Platzverweise habe kein Grund bestanden, ein solcher sei auch von Seiten der Beklagten nicht mitgeteilt worden. Er habe die Absicht, erneut in Lüneburg zu demonstrieren. Es sei in diesem Zusammenhang damit zu rechnen, dass es erneut zu Gegendemonstrationen und Straßenblockaden kommen werde. Darüber hinaus bedürfe er der Rehabilitation als Leiter der rechtswidrig aufgelösten Versammlung.
Der Kläger beantragt,
festzustellen, dass die Auflösung der von ihm angemeldeten und geleiteten Demonstration am 11. April 2009 rechtswidrig war und festzustellen, dass die gegenüber den Demonstrationsteilnehmern erteilten Platzverweise rechtswidrig waren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Maßnahmen für rechtmäßig. Die einsatzführende Dienststelle habe erst am 9. April 2010 von der Route und den endgültigen Zeiten des klägerischen Aufzuges Kenntnis erlangt, so dass der Einsatz und insbesondere das Sperrstellenkonzept sehr kurzfristig habe organisiert werden müssen. Zudem habe es im Vorfeld der streitgegenständlichen Versammlung am 28. März 2009 in Lübeck eine in der Größenordnung vergleichbare Demonstration der rechten Szene gegeben, bei der es zu massiven Störungen durch Gegendemonstranten gekommen sei, die versucht hätten, auf die Aufzugsstrecke einzuwirken. Es sei in diesem Zusammenhang auch zu Übergriffen auf Polizeiverkehrsposten und zu Steinwürfen auf Einsatzfahrzeuge und einem Angriff auf das zweite Polizeirevier gekommen, ein Wasserwerfereinsatz sowie die Abänderung der geplanten Marschstrecke des Aufzuges seien dort notwendig gewesen. Vor Beginn der Veranstaltung am 11. April 2009 habe es Hinweise darauf gegeben, dass von Teilnehmern sowohl der rechten Versammlung als auch der linken Gegendemonstration die Konfrontation gesucht werden sollte. So seien verschiedene Gegenstände wie Schlagstöcke, Taschenmesser, Quarzsandhandschuhe und Pyrotechnik sichergestellt worden. Zudem hätten bereits gegen 9:48 Uhr etwa 120 Personen des linken Spektrums eine polizeiliche Absperrung überrannt. Innerhalb der Demonstration des Bündnisses gegen Rechts hätten sich bis zu 350 gewaltgeneigte bis gewaltbereite Personen aufgehalten.
Der Aufzug des Klägers habe bereits an der Einmündung der Bahnhofsstraße in die Lünertorstraße/Bleckeder Landstraße durch eine Polizeikette gestoppt werden müssen, da es im weiteren Verlauf der Aufzugstrecke zu einer Blockade gekommen sei. Hierbei hätten zahlreiche Teilnehmer an der Aufzugspitze versucht, gewaltsam gegen die Polizeikette zu drängen, um die Absperrlinie zu durchbrechen und weiterziehen zu können, so dass Schlagstockeinsätze erforderlich gewesen seien. Die Auflösung der Blockade auf der Stintbrücke sei äußerst schwierig und zeitaufwändig gewesen, da sich die Teilnehmer eng zusammen gekauert, mit den Armen verhakt und auch die Beine in einander verschlungen hätten. Es sei davon auszugehen gewesen, dass sich in der Blockade zum Teil gewaltbereite Personen befunden hätten und dass es bei einem Aufeinandertreffen mit dem klägerischen Aufzug zu Auseinandersetzungen gekommen wäre.
Zeitgleich habe die Sicherung der insgesamt 36 Sperrstellen entlang der vorgesehen klägerischen Aufzugsstrecke ein extrem kräfteintensives Halten erfordert, da wiederholt größere Gruppen von teilweise gewaltbereiten Gegendemonstranten gegen die Sperren gedrängt hätten. Auf Grund der sich zuspitzenden Situation seien Kooperationsgespräche mit dem Kläger geführt worden. Da nicht abschätzbar gewesen sei, wie viel Zeit die Räumung der Stintbrücke in Anspruch nehmen werde, sei nach einer alternativen Routenführung gesucht worden. Hierbei habe die Aufklärung durch den Hubschrauber ergeben, dass eine verkürzte Route über die Schießgrabenstraße angeboten werden könne, die die gefahrenträchtige Situation im "Wasserviertel" vermieden hätte. Der Kläger habe jedoch auf der geplanten Routenführung zu den Geschäften "D. " und "C. " beharrt, ein anderes Angebot zur Routenführung habe dieser nicht unterbreitet. Da es bei Weiterführung des klägerischen Aufzuges auf der geplanten Route zwangsläufig zu einem Aufeinandertreffen der Gruppierungen "Links" und "Rechts" gekommen wäre, sei die Auflösung des Aufzuges das einzige Mittel gewesen, um die im Fall des Zusammentreffens unmittelbar zu erwartenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu verhindern. Es hätten nicht nur Gefahren für die körperliche Unversehrtheit der jeweiligen Demonstrationsteilnehmer sondern auch unbeteiligter Dritter sowie massive Sachbeschädigungen an Geschäften, Häusern und Fahrzeugen gedroht. Ein Abwarten an Ort und Stelle mit zeitgleicher Räumung der Stintbrücke habe keine mögliche Alternative zur Auflösung dargestellt, da zum einen nicht absehbar gewesen sei, wie viel Zeit die Räumung in Anspruch nehmen würde und zum anderen wegen des massiven Drucks auf die Sperrstellen entlang der gesamten Marschroute eine Umgruppierung der Einsatzkräfte zu Gunsten der Räumung der Blockade nicht in Frage gekommen sei. Zudem seien Wanderungsbewegungen von Gegendemonstranten entlang der Gleise in Richtung des klägerischen Aufzugs sowie ein brennender Müllcontainer in der Nähe des Geschäfts "D." gemeldet worden. Die gesicherte Fortführung des klägerischen Aufzuges über die vorgeschlagene Alternativstrecke habe die einzige Möglichkeit neben der Auflösung dargestellt, um unmittelbar bevorstehende gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten zu verhindern.
Nach der Auflösung der klägerischen Versammlung sei es zu körperlichen Angriffen auf Einsatzkräfte, einem Steinwurf und Beleidigungen der Einsatzkräfte durch ehemalige Versammlungsteilnehmer gekommen. Eine Personengruppe habe versucht, die Sperren in Richtung Innenstadt zu durchbrechen. Die angespannte Lage in der Innenstadt (Geschehen an den Sperrstellen, brennende Abfallcontainer und vorläufige Festnahmen nach Widerstand von Gegendemonstranten) und die Versuche der ehemaligen Teilnehmer der klägerischen Versammlung, sich den eindeutigen Anweisungen, sich in Richtung Bahnhof zu entfernen, zu widersetzen, hätten die Untersagung der Mahnwachen und die Erteilung von Platzverweisen für die Innenstadt westlich des Bahnhofs um 14:38 Uhr erforderlich gemacht.
Das Gericht hat Beweis erhoben über den Inhalt der Kooperationsgespräche zwischen dem Kläger, Herrn G. und dem Polizeidirektor Herrn E. am 11. April 2009 zwischen 13:30 Uhr und der Auflösung der Versammlung durch die informatorische Anhörung der genannten Personen. Darüber hinaus wurde der Leitende Polizeidirektor F. informatorisch zu der Sicherheitslage am 11. April 2009 angehört. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Außer der Gerichtsakte haben die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten des wegen des Verdachts der Nötigung gegen Herrn E. durch die Staatsanwaltschaft Lüneburg zum Aktenzeichen 5103 Js 10443/09 geführten Verfahrens vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Akten sowie die Sitzungsniederschrift vom 14. Dezember 2010 ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Soweit der Kläger die Feststellung begehrt, dass die Auflösung der von ihm geleiteten Versammlung am 11. April 2009 rechtswidrig war, ist die Klage zulässig und begründet. Hinsichtlich der begehrten Feststellung der Rechtswidrigkeit der den vormaligen Versammlungsteilnehmern am 11. April 2009 erteilten Platzverweise ist die Klage dagegen unzulässig.
Die Klage ist insgesamt nach § 113 Abs. 1 Satz 4 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) als so genannte Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft. Nach dieser Vorschrift spricht das Gericht, wenn sich der Verwaltungsakt erledigt hat, auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
Die von dem Kläger geleitete Versammlung am 11. April 2009 in Lüneburg ist durch den Polizeidirektor E. durch drei aufeinanderfolgende Lautsprecherdurchsagen gegen 14:14 Uhr aufgelöst worden. Dieser Auflösung kommt die Qualität eines Verwaltungsaktes zu (vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 24.06.2008 - 3 A 89/07 - [...]), der sich mit seiner Vollziehung erledigt hat.
Voraussetzung für die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist, dass der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsaktes hat. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) enthält ein Grundrecht auf wirksamen und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Der Einzelne soll staatliche Eingriffe nicht ohne gerichtliche Prüfung ertragen müssen. Indessen begründet nicht jeder Eingriff durch Akte der öffentlichen Gewalt ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse, sondern ein solches Interesse besteht nur dann, wenn die Maßnahme, die Gegenstand der Klage ist, Grundrechte schwer beeinträchtigt, die Gefahr einer Wiederholung besteht oder wenn aus Gründen der Rehabilitierung ein rechtlich anerkennenswertes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit angenommen werden kann (BVerfG, Beschluss vom 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, DVBl 2004, 822, sowie in [...]).
Hinsichtlich der gewünschten Feststellung der Rechtswidrigkeit der Versammlungsauflösung ist ein derartiges berechtigtes Interesse des Klägers anzunehmen, da die angefochtene Maßnahme sein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit schwer beeinträchtigt hat. Die Möglichkeit, nachträglichen Rechtsschutz gegen einen vorprozessual erledigten Verwaltungsakt zu erlangen, muss immer dann gegeben sein, wenn die Ausübung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder die Versammlung - wie vorliegend - aufgelöst worden ist, da derartige Eingriffe die schwerste mögliche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit darstellen (BVerfG, Beschluss vom 03.03.2004 -1 BvR 461/03 - [...] RN. 37). Auf die Frage, ob eine fortwirkende Beeinträchtigung im grundrechtlich geschützten Bereich gegeben ist, kommt es in einem solchen Fall ebenso wenig an wie darauf, ob vergleichbare Versammlungen auch in der Zukunft stattfinden sollen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 23.03.1999 -1 C 12/97 - NVwZ 1999, 991 - [...]).
Unzulässig ist die Klage dagegen, soweit der Kläger die Feststellung der den ehemaligen Versammlungsteilnehmern nach der Auflösung der Versammlung erteilten Platzverweise beantragt. Dem Kläger fehlt insoweit die erforderliche Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO, da er durch gegenüber anderen Personen ausgesproche Anordnungen nicht in seinen eigenen Rechten verletzt sein kann. Soweit sich der Kläger gegen den ihm persönlich erteilten Platzverweis wendet, ist die Klage ebenfalls unzulässig, da ihm das erforderliche Feststellungsinteresse fehlt.
Ein diesbezügliches Rehabilitationsinteresse kann nicht angenommen werden.
Ein Rehabilitationsinteresse begründet ein Feststellungsinteresse dann, wenn es bei vernünftiger Würdigung der Verhältnisse des Einzelfalls als schutzwürdig anzuerkennen ist. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn der Kläger durch die streitige Maßnahme in seinem Persönlichkeitsrecht objektiv beeinträchtigt ist (BVerwG, Beschluss vom 14.03.1976 - 1 WB 54.74 -, BVerwGE 53, 134, 138). Eine solche Beeinträchtigung kann sich auch aus der Begründung der streitigen Verwaltungsentscheidung ergeben (BVerwG, Urteil vom 19.03.1992 - 5 C 44.87-, Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 244 S. 86 f.). Dabei ist vorliegend zu berücksichtigen, dass die streitgegenständliche Verfügung keine Auswirkungen auf das grundrechtlich geschützte Versammlungsrecht hat, da die von dem Kläger geleitete Versammlung zum Zeitpunkt des Erlasses des Platzverweises bereits aufgelöst war. Aus diesem Grund gelten hinsichtlich des erforderlichen Feststellungsinteresses nicht die Kriterien, die für Maßnahmen, die das Versammlungsrecht beschränken, entwickelt wurden (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, BVerfGE 110, 77, 92 und BVerwG, Beschluss vom 04.10.2006 - 6 B 64/06 -).
Hiervon ausgehend wirkt der dem Kläger erteilte Platzverweis für diesen nicht persönlich diskriminierend. So enthält die in Rede stehende Verfügung keine Ausführungen über die Persönlichkeit des Klägers oder zu seinem Verhalten, sie ist nicht "wegen des Klägers" und seiner Persönlichkeit ergangen, sondern aus Gründen, die außerhalb der Persönlichkeit des Klägers liegen. Bei vernünftiger Würdigung der Verhältnisse des vorliegenden Falles wird der Kläger in seinem Persönlichkeitsrecht nicht beeinträchtigt - weder damals bei Erteilung des Platzverweises, noch heute im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Es ist nicht erkennbar geworden, dass durch den in Rede stehenden Platzverweis Grundrechte des Klägers schwer und tiefgreifend beeinträchtigt oder verletzt worden sind. Es ist in diesem Zusammenhang davon auszugehen, dass die bloße Beeinträchtigung von Grundrechten das besondere Feststellungsinteresse nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nicht zu begründen vermag, da angesichts des umfassenden Schutzes der Rechtssphäre der Bürger durch die Freiheitsrechte, insbesondere durch die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, das eingrenzende Kriterium eines Grundrechtseingriffes anderenfalls praktisch leer liefe. Ein Feststellungsinteresse aufgrund eines Grundrechtseingriffes kann sich deshalb nur dann ergeben, wenn es sich um besonders tiefgreifende und folgenschwere Grundrechtsverstöße handelt oder die Grundrechtsbeeinträchtigung faktisch noch fortdauert (Nds. OVG, Urteil vom 19.02.1997 - 13 L 4115/95 -, NdsVBl 1997, 285; OVG Greifswald, Beschluss vom 23.02.2006 - 3 O 4/06 -, NordÖR 2006, 200).
Durch die Aussprache eines Platzverweises für die Lüneburger Innenstadt ist weder die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 GG noch ein anderes Recht des Klägers besonders tiefgreifend und folgenschwer verletzt worden. Auch dauert eine mögliche Rechtsverletzung nicht faktisch fort. So hat der Kläger vorgetragen, dem erteilten Platzverweis nicht Folge geleistet zu haben, da er ihn als rechtswidrig erkannt habe. Wird die streitgegenständliche Verfügung durch den Betreffenden ignoriert und setzt die Polizei diese nicht mit Zwangsmitteln durch, ist eine Beeinträchtigung der möglicherweise betroffenen Grundrechte weder tiefgreifend noch folgenschwer (vgl. Urteil der Kammer vom 24.06.2006 -3 A 89/07 - ; bestätigt durch Nds. OVG, Beschluss vom 20.09.2010 - 11 LA 275/08 - [...]). Auch kann unter diesen Voraussetzungen nicht festgestellt werden, dass eine Grundrechtsbeeinträchtigung, will man sie dem Grunde nach gleichwohl annehmen, faktisch jetzt noch fortdauert und eine gegenwärtige Beschwer begründet.
Auch das Gebot effektiven Rechtsschutzes begründet ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse vorliegend nicht.
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährt grundsätzlich einen Anspruch auf Rechtsschutz in der Hauptsache und nicht nur auf Rechtsschutz in einem Eilverfahren (BVerfG, Beschluss vom 03.03.2004, a.a.O.). Dies kann es gebieten, bei typischerweise kurzfristiger Erledigung von Beeinträchtigungen, die Rechtsschutzmöglichkeiten des Bürgers zu erweitern (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 16. Aufl. 2009, § 113 Rn. 145). Dies kommt namentlich in Betracht bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen und in den Fällen, die unter Richtervorbehalt stehen. Trotz kurzfristiger Erledigung kann daher ein Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses angenommen werden in Fällen der Wohnungsdurchsuchung, des Gewahrsams, bei Unterbringung psychisch auffälliger Personen, in Fällen der Abschiebungshaft oder bei sonstigen Freiheitsrechten der Person (BVerfG, Beschluss vom 05.12.2001 - 2 BvR 527/99 u.a. -, BVerfGE 104, 220, 232 ff).
Ein solcher Fall mit vergleichbarer Interessenlage liegt hier nicht vor. Die in Rede stehende Erteilung eines Platzverweises berührt kein über Art. 2 Abs. 1 GG hinausgehendes Freiheitsrecht des Klägers, diese Maßnahme steht auch nicht unter Richtervorbehalt und ist für den Kläger auch nicht - wie festgestellt - mit einem tief greifenden Grundrechtseingriff verbunden gewesen, der diskriminierenden Charakter hätte.
Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Hinblick auf ein gegen den Kläger wegen der Nichtbefolgung der polizeilichen Anordnung zu erwartendes Strafverfahren kann nicht angenommen werden. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass gegen den Kläger wegen der Nichtbefolgung der polizeilichen Anordnung strafrechtlich ermittelt wurde.
Ein Feststellungsinteresse besteht auch nicht aus dem Gesichtspunkt von Schadenersatz- oder Entschädigungsansprüchen des Klägers. Er hat nicht deutlich gemacht, dass ein entsprechender Prozess mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist.
Ein schützenswertes Fortsetzungsfeststellungsinteresse aus dem Gesichtspunkt einer Wiederholungsgefahr ist schließlich ebenfalls nicht gegeben. Ein mit der drohenden Wiederholung eines erledigten Verwaltungsaktes begründetes berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes setzt die hinreichend bestimmte Gefahr voraus, dass von der Behörde unter wesentlich unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Regelung getroffen wird (BVerwG, Beschl. vom 16.10.1989 - 7 B 108/89 -, NVwZ 1990, 360; Beschluss vom 09.05.1989 -1 B 166/88 -, [...]). Dabei ist nicht der Nachweis erforderlich, dass einem zukünftigen behördlichen Handeln in allen Einzelheiten die gleichen Umstände zugrunde liegen. Zumindest muss aber von einer in den Grundzügen sich wiederholenden Sachlage ausgegangen werden (Nds. OVG, Beschluss vom 19.02.1997, - 13 L 4115/95 -, NdsVBl 1997, 285). Die nur vage Möglichkeit einer Wiederholung genügt nicht. Nur wenn der Kläger hinreichend bestimmten Anlass haben muss, mit einer Wiederholung des behördlichen Handelns zu rechnen, kann ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse bejaht werden.
Dies ist vorliegend nicht der Fall. Es gibt keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass sich die Geschehnisse in Lüneburg am 11. April 2009, die zur Erteilung des streitgegenständlichen Platzverweises geführt haben (Auflösung der Versammlung auf Grund einer Blockade von Gegendemonstranten, massiver Druck an den polizeilichen Sperrstellen, brennende Müllcontainer und vorläufige Festnahmen nach Widerstand von Gegendemonstranten, Wanderbewegungen von Gegendemonstranten in Richtung der Gleise, angespannte Situation in der Innenstadt), hier oder an einem anderen Ort in vergleichbarer Weise in der Zukunft wiederholen werden.
Die Klage ist - soweit sie zulässig ist - auch begründet.
Die Auflösung der vom Kläger geleiteten Versammlung am 11. April 2009 war rechtswidrig.
Die auf § 15 Abs. 3 Alternative 4 i.V.m. Abs. 1 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge - Versammlungsgesetz (VersammlG) gestützte Auflösungsverfügung verstieß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da sie nicht das mildeste geeignete Mittel zur Abwehr der drohenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellte.
Nach der genannten Vorschrift kann die zuständige Behörde eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn die Voraussetzungen für ein Verbot gegeben sind. Das ist der Fall, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst hierbei den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wird in der Regel angenommen, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht (BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 - 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 - BVerfGE 69, 315 - [...]). Nicht ausreichend ist hierbei eine abstrakte Gefahr, die Gefährdung muss vielmehr nach dem gewöhnlichen Ablauf der Dinge unmittelbar bevorstehen, der Eintritt der Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit in aller Kürze zu erwarten sein (vgl. VG Köln, Urteil vom 29.10.2009 - 20 K 6466/08 - [...] RN. 16 f. m.w.N.).
Vorliegend ist unter Beachtung der dargestellten Grundsätze davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt der Auflösung der klägerischen Versammlung eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gegeben war. Nach den vorliegenden Berichten der eingesetzten Polizeibeamten über das Geschehen am 11. April 2009 (vgl. beispielsweise Verlaufsbericht der PI Lüneburg/Lüchow-Dannenberg/Uelzen, Bl. 68 der Verwaltungsakte; Stellungnahme der 22. EHu 3 zum UnterstützungseinSatz 1üneburg am 11.04.2009, Bl. 91 ff. der Gerichtsakte) sowie der Angaben in der mündlichen Verhandlung von Herrn F. und Herrn E. drohte im maßgeblichen Zeitpunkt unmittelbar ein Aufeinandertreffen von Gegendemonstranten mit der vom Kläger geleiteten Versammlung, wobei mit einem gewalttätigen Verlauf mit Gefahren für Leib, Leben und Gesundheit insbesondere der Teilnehmer der klägerischen Versammlung zu rechnen war. Diese Gefährdung resultierte vor allem daraus, dass gewaltbereite Gegendemonstranten versuchten, auf dem gesamten Routenverlauf der geplanten Aufzugsroute der klägerischen Versammlung durchzubrechen. Zudem hatten gewaltbereite Personen aus der linken Szene bereits Steine aus dem Gleisbett der Bahnstrecke aufgenommen, die sich in unmittelbarer Nähe zur Aufzugsstrecke befand. Darüber hinaus war die Stimmung insbesondere in der Innenstadt aufgeheizt; dort versuchten aggressive Kleingruppen mit bis zu 40 Personen auf die Aufzugsstrecke zu gelangen. Die Gewaltbereitschaft der Gegendemonstranten wird durch die Dokumentation der beschlagnahmten Gegenstände wie Quarzsandhandschuhe und Pyrotechnik belegt (s. Aufstellung Bl. 96 f. GA). So hat auch der mit dem Ermittlungsverfahren gegen den leitenden Polizeidirektor F. und den Polizeidirektor E. wegen des Verdachts der Nötigung durch die streitgegenständliche Versammlungsauflösung befasste Staatsanwalt in seiner Einstellungsverfügung (Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Lüneburg vom 16.07.2009, NZS 5103 Js 10443/09, Bl. 98 ff. GA) in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die Befürchtung, es werde, wenn der klägerische Aufzug wie ursprünglich gerichtlich bestätigt durch die Innenstadt, insbesondere das Wasserviertel, geführt werde, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu gewaltsamen, jedenfalls die Gesundheit der Aufzugsteilnehmer gefährdenden Übergriffen auf den "Aufzug Rechts", auf die diesen Aufzug sichernden Polizeikräfte sowie zu einer Gegenwehr und damit in den engen Gassen des Wasserviertels zu einer für die Polizei nicht mehr zu beherrschenden Eskalation kommen, durch Tatsachen ausreichend belegt und begründet war.
Festzuhalten ist jedoch, dass, auch wenn aus der klägerischen Versammlung heraus in gewissem Umfang Störungen wie beispielsweise Beleidigungen gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten erfolgten, die drohende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in erster Linie aus der Gewaltbereitschaft der vorrückenden Gegendemonstranten resultierte, so dass von einer Inanspruchnahme der klägerischen Versammlung als so genannter Nichtstörer auszugehen ist.
Drohen - wie festgestellt - Gewalttaten als Gegenreaktion auf eine Versammlung, muss sich die behördliche Maßnahme grundsätzlich primär gegen den Störer richten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 - 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81; Beschluss vom 12.05.2010 -1 BvR 2636/04 - jeweils zitiert nach [...]). Es ist dann die Aufgabe der zum Schutz der rechtstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung des Versammlungsrechts hinzuwirken. Gegen die - nicht störende - Versammlung darf in einer solchen Situation grundsätzlich nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden (BVerfG, Beschluss vom 01.09.2000 -1 BvQ 24/00 - [...]). Die Annahme eines polizeilichen Notstandes setzt voraus, dass eine Gefahr auf andere Weise nicht abgewehrt werden kann, etwa weil die Verwaltungsbehörde nicht über ausreichende eigene, eventuell durch Amts- und Vollzugshilfe zu ergänzende Mittel und Kräfte verfügt, um die gefährdeten Rechtsgüter wirksam zu schützen. Zur Feststellung dieser Voraussetzungen können zwar grundsätzlich die polizeilichen Angaben über Art und Ausmaß erforderlicher Gegenmaßnahmen und zur Überlastung der Polizei als Grundlage einer vorzunehmenden Folgenabwägung herangezogen werden, jedoch dürfen Gefahren nicht berücksichtigt werden, die bei Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anders als durch Inanspruchnahme des Nichtstörers ausgeschlossen werden können. Geht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht von der Versammlung selbst, sondern von einer Gegenveranstaltung aus, ist insbesondere zu überprüfen, ob die Inanspruchnahme des Nichtstörers durch eine versammlungsrechtliche Verfügung gegenüber den Veranstaltern der Gegendemonstration vermieden werden kann. Keinesfalls darf der Nichtstörer einem Störer gleichgestellt und die Auswahl des Adressaten der versammlungsrechtlichen Verfügung von bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig gemacht werden. Dabei ist auch zu prüfen, ob ein polizeilicher Notstand durch Modifikationen der Versammlungsmodalitäten entfallen kann, ohne dadurch den konkreten Zweck der Versammlung zu vereiteln (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26.06.2007 -1 BvR 1418/07 - und vom 10.05.2006 - 1 BvQ 14/06 - [...]).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze war die Auflösung der klägerischen Versammlung nicht gerechtfertigt, da sie nicht das mildeste zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit geeignete Mittel darstellte.
Es ist zwar davon auszugehen, dass weder die Umleitung des Aufzuges über die Bleckeder Straße in Richtung Osten, noch das weitere Aufhalten der klägerischen Versammlung an der Einmündung der Bahnhofsstraße bis zum Abschluss der Räumung der Stintbrücke geeignete Maßnahmen zur Abwehr der drohenden Gefahren darstellten. Es wäre jedoch möglich gewesen, den klägerischen Aufzug über die Schießgrabenstraße in die Altenbrücker Torstraße in Richtung Westen bis zu dem Geschäft "D. " zu leiten, vor welchem die zweite Kundgebung und eine Mahnwache geplant waren. Durch eine solche Streckenführung hätte der Zweck der klägerischen Versammlung zumindest teilweise gewahrt werden können. Damit stand ein milderes Mittel als die Auflösung der Versammlung zur Abwehr der drohenden Gefahren zur Verfügung, mit welchem der ursprüngliche Versammlungszweck noch weitgehend hätte verwirklicht werden können.
Das Gericht kann die Frage, ob zwischen dem eingesetzten Konfliktmanager der Beklagten und dem Kläger die Möglichkeit einer alternativen Streckenführung über die Bleckeder Straße in Richtung Osten diskutiert wurde, offen lassen, da diese Streckenänderung kein geeignetes Mittel zur Verhinderung der drohenden Gefahren für die körperliche Unversehrtheit der Versammlungsteilnehmer wegen des drohenden Auseinandertreffens mit gewaltbereiten Gegendemonstranten dargestellt hätte. Die Strecke durch den Ostteil der Stadt war im betreffenden Zeitpunkt nicht gesichert. Es ist nach den übereinstimmenden und schlüssigen Angaben des leitenden Polizeidirektors F. sowie des Polizeidirektors E. in der mündlichen Verhandlung sowie den vorliegenden Einsatzberichten davon auszugehen, dass eine Umverteilung der eingesetzten Polizeibeamten zur Sicherung dieser bis zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Strecke zum einen nicht zeitnah hätte erfolgen können und zum anderen dazu geführt hätte, dass die bisher gesicherten Sperrpunkte, auf die bereits massiver Druck ausgeübt wurde (s. beispielsweise Stellungnahme zum Unterstützereinsatz der 22. EHu 3 vom 09.06.2009, Bl. 91 ff. GA), nicht mehr hätten gehalten werden können und sich damit gewaltbereite Gegendemonstranten Zutritt zu der Demonstrationsstrecke hätten verschaffen können. Die den Demonstrationszug begleitenden Einsatzkräfte wären nicht in der Lage gewesen, diese Strecke in ausreichendem Maße zu sichern, hierfür hätte es vorheriger Absperrungen und weiterer großräumiger Sicherungsmaßnahmen bedurft.
Die Beklagte ist nicht verpflichtet gewesen, den klägerischen Aufzug so lange aufzuhalten, bis die Räumung der Blockade der Stintbrücke durch Gegendemonstranten abgeschlossen war. Der Beklagten war es nach den vorliegenden Unterlagen und dem Vortrag in der mündlichen Verhandlung auch unter Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Kräfte auf Grund der örtlichen Gegebenheiten und der Art der Blockade nicht möglich, die Aufzugsstrecke in einer angemessenen Zeit von Störern frei zu räumen. Zum einen waren die verfügbaren Einsatzkräfte ab 13 Uhr weitestgehend mit der Sicherung der insgesamt 36 Sperrstellen entlang der geplanten Aufzugsstrecke befasst, auf die zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Stunden massiver Druck durch gewaltbereite Gegendemonstranten ausgeübt wurde. Zum anderen war die Blockade der Stintbrücke durch Gegendemonstranten äußerst professionell geplant und für die eingesetzten Polizeibeamten nicht vorhersehbar (vgl. detaillierte Beschreibung der Blockade auf S. 12 der Einstellungsnachricht der Staatsanwaltschaft Lüneburg vom 16.07.2009, Bl. 109 GA). Eine zügigere Räumung war auf Grund der besonderen Art der Blockade (mit Armen und Beinen ineinander verhakte Gegendemonstranten) nicht möglich. Für den Einsatzleiter und den Konfliktmanager war es daher nicht absehbar, welchen zeitlichen Rahmen die Räumung in Anspruch nehmen würde. Darüber hinaus wuchs der Widerstand der Teilnehmer der klägerischen Versammlung mit dem Fortschreiten der Sperrung der Aufzugsroute durch Polizeikräfte immer mehr an. So kam es bereits gegen 13:30 Uhr zu einem Durchbruchversuch gegenüber den die Bahnhofsstraße absperrenden Polizeikräften. Nach alledem war ein weiteres Aufhalten der klägerischen Versammlung an der Einmündung der Bahnhofsstraße bis zum Abschluss der Räumung der Stintbrücke nicht durchführbar.
Es ist jedoch festzustellen, dass die Möglichkeit bestanden hätte, den klägerischen Aufzug zumindest zu einem der Zielpunkte der Demonstration zu führen. Dass die Beklagte es unterlassen hat, dem Kläger als Versammlungsleiter vor der streitgegenständlichen Versammlungsauflösung dieses Angebot zu unterbreiten, führt zur Rechtswidrigkeit der in Rede stehenden Maßnahme. Es ist unter Berücksichtigung ihres Einschätzungsspielraums bei der Gefahrenprognose die Aufgabe der Polizei, dem Versammlungsleiter die nach ihrer Einschätzung möglichen Alternativen vorzuschlagen. Der Einsatzleiter der Polizei überblickt die Sicherheitslage und vermag es daher, die Durchführbarkeit alternativer Streckenführungen zu beurteilen. Dem Versammlungsleiter obliegt es dann, sich kooperativ im Hinblick auf zumutbare Modifikationen der Versammlung zu verhalten.
Vorliegend war nach der Einschätzung des Einsatzleiters, des leitenden Polizeidirektors F., die polizeiliche Sicherung einer Aufzugsroute über die Schießgrabenstraße in die Altenbrücker Torstraße in Richtung Westen bis zum Geschäft "D. " im betreffenden Zeitpunkt möglich. Diese alternative Streckenführung wäre demnach geeignet gewesen, den bestehenden Gefahren zu begegnen. Zudem hätte dem erklärten Versammlungszweck, auf politisch motivierte Angriffe gegen das genannte Bekleidungsgeschäft des Klägers aufmerksam zu machen, genügt werden können. Eine solche Modifikation der Versammlungsmodalitäten ist dem Kläger jedoch auf Grund eines Kommunikationsproblems zwischen dem Einsatzleiter und dem Konfliktmanager Polizeidirektor E. nicht unterbreitet worden. Nach den übereinstimmenden Angaben des Klägers, des Herrn G. sowie des Polizeidirektors E. hat dieser stattdessen den Vorschlag gemacht, von der Einmündung der Schießgrabenstraße in die Altenbrücker Torstraße direkt in Richtung Osten zum Bahnhof zu ziehen. In diesem Fall wäre das Geschäft "D. " und damit der primäre Versammlungszweck nicht zu erreichen gewesen.
Da dem Kläger die genannte alternative Streckenführung bis zu dem zweiten Zielpunkt des geplanten Aufzuges, die nach der maßgeblichen Einschätzung des Einsatzleiters der Polizei durchführbar und sicher gewesen wäre, nicht vorgeschlagen und von diesem nicht abgelehnt wurde, kann die streitgegenständliche Versammlungsauflösung auch nicht mit dem Vorwurf der fehlenden Kooperationsbereitschaft des Klägers begründet werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.