Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 28.04.2003, Az.: 1 B 20/03
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Zusammenhang mit einem Asylantrag eines vietnamesischen Staatsangehörigen; Bei der Abwägung anzulegender Maßstab; Prüfungsumfang des Gerichts; Möglichkeit der Einschätzung des Verfolgungsrisiko und Bestrafungsrisiko in Vietnam ; Stärke des Rechtsweggarantieanspruchs beeinflussenden Faktoren
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 28.04.2003
- Aktenzeichen
- 1 B 20/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 31032
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:2003:0428.1B20.03.0A
Rechtsgrundlagen
- § 36 Abs. 4 AsylVfG
- § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO
- § 80 Abs. 5 VwGO
- Art. 16a Abs. 4 GG
- Art. 19 Abs. 4 GG
Fundstelle
- NVwZ 2004, 126-127 (Volltext mit amtl. LS)
Das Verwaltungsgericht 1. Kammer Lüneburg hat
durch
den Einzelrichter ...
am 28. April 2003 beschlossen:
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage 1 A 68/03 wird angeordnet.
Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei.
Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
Gründe
Der 1967 geborene Antragsteller vietnamesischer Staatsangehörigkeit reiste im Oktober 2001 über China, Mongolei, die ehemalige Sowjetunion sowie unbekannte Länder im November 2001 in das Bundesgebiet ein und stellte hier am 10. Januar 2002 einen Asylantrag. Dieser Antrag wurde nach einer Anhörung des Antragstellers vom 14. Januar 2002 durch Bescheid allerdings erst vom 1. April 2003 als offensichtlich unbegründet abgelehnt, dagegen hat der Antragsteller am 8. April 2003 bei der Kammer Klage erhoben (1 A 6b/03) und zugleich den vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 1 A 68/03 hat Erfolg.
1.
Im Verfahren des § 8ö Abs. 5 VwGO sind regelmäßig die beiderseitigen Interessen im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG gegeneinander abzuwägen. Geht jedoch - wie hier - dem Rechtsschutzantrag keine behördliche Vollzugsanordnung gem. § 8o Abs. 2 Nr. 4 VwGO voraus, weil nach der Einschätzung des Gesetzgebers auf dem Sachgebiet generell ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht (vgl. § 75 AsylVfG), ist analog dem Maßstab des § 8o Abs. 4 Satz 3 VwGO zu entscheiden (Finkelnburg/Jank, NJW-Schriften Bd. 12, 4. Auflage 1998, Rdn. 849 ff7851; Schoch/Schmidt-Aßmann-Pietzner, VWVG-Kommentar, Bd I / Std: Jan. 2000, § 80 Rdn. 252 m.w.N.) - es sei denn, es besteht hinsichtlich des Maßstabes eine gesetzliche Spezialregelung. Eine solche liegt mit § 36 Abs. 4 AsylVfG vor, ohne dass damit allerdings der o.a. Maßstab des § 80 Abs. 4 S. 3 VWGO verändert worden wäre. Denn auch hiernach kommt es auf ernstliche Zweifel an, die dann anzunehmen sind, wenn "Unklarheiten, Unsicherheiten und vor allem Unentschiedenheit bei der Einschätzung der Sach- und Rechtslage" bestehen (Schoch u.a., a.a.O.., Rdn. 194), so dass Erfolg wie Misserfolg des Hauptsacheverfahrens gleichermaßen wahrscheinlich sind.
2.
Mit Blick auf § 36 Abs. 4 AsylVfG, Art. 16 a Abs. 4 GG und Art. 19 Abs. 4 GG konzentriert sich in Verfahren der hier vorliegenden Art - bei Abweisung des Asylantrags im angefochtenen Bescheid als offensichtlich unbegründet - die gerichtliche Prüfung lediglich auf die Frage, ob der Asylantrag zu Recht bereits als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist. Denn in einem solchen Falle, in dem ja die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes die Vollziehbarkeit der angedrohten Abschiebung zur Folge hat, sind ganz besondere Anforderungen sowohl an die Sachverhaltsermittlung als aber auch an die Begründung der maßgeblichen Entscheidung zu stellen (BVerfG /1. Kammer d. 2. Senats, Beschl. v. 21.7.2000 - 2 BvR 1429/98 -, veröff. NVwZ-Beilage I 12/2000, S. 145; BVerfG DVBI. 1993, 1003). Es sind mithin hohe Anforderungen zu erfüllen, die nur dann gegeben sind, wenn die Aussichtslosigkeit der Klage "auf der Hand liegt" und "sich geradezu aufdrängt", z.B. sich eindeutig schon aus der Entscheidung selbst ergibt. Nur im Falle der uneingeschränkten Richtigkeit speziell des Offensichtlichkeitsurteils überwiegt nämlich das von der Antragsgegnerin in Anspruch genommene Abschiebungsinteresse ein individuelles Bleibeinteresse (Marx, AsylVfG, 4. Auflage 1999, § 36 Rdn. 58 m.w.N.). An der Richtigkeit dieses Urteils fehlt es jedoch stets schon dann, wenn der Tatsachenvortrag die "nicht entfernt liegende Möglichkeit ergibt, dass politische Verfolgung droht" (Marx, a.a.O., Rdn. 63) - mag der Asylantrag sich später im Verfahren der Hauptsache im Ergebnis auch als unbegründet herausstellen (Marx, a.a.O., Rdn. 71).
3.
Eine solche uneingeschränkte Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils (s.o.) ist hier nicht gegeben. Vielmehr besteht mit Blick auf das Klageverfahren 1 A 68/03 die nicht völlig fern liegende Möglichkeit, dass der Antragsteller bei Rückkehr nach Vietnam in Grund-, Menschen- und Freiheitsrechten beeinträchtigt und auf diese Weise politisch verfolgt wird. Der innerhalb der (besonderen) Frist des § 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylVfG erhobenen Klage kommen demgemäß hinreichende Erfolgsaussichten zu, die zugleich auch im Verfahren nach § 8o Abs. 5 VwGO ausreichende Zweifel am Offensichtlichkeitsurteil des angefochtenen Bescheides aufwerfen. Irreparable Maßnahmen - wie die angedrohte Abschiebung des Antragstellers mit ihren fast unabänderlichen Folgen - dürfen damit zunächst nicht ergriffen werden.
3.1.
Die Erfolgsaussichten der Klage rühren hier allerdings nicht daher, dass die im Bescheid dargelegten Glaubwürdigkeitszweifel vom erkennenden Gericht etwa nicht geteilt werden. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Bescheid vom 104.2003 Bezug genommen. In Übereinstimmung mit dem angefochtenen Bescheid ist davon auszugehen, dass hier erhebliche Glaubwürdigkeitszweifel bestehen.
3.2.
Soweit im angefochtenen Bescheid dann in der Sache selbst die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Gefahren und Gefährdungen des Antragstellers im Falle der Rückkehr Nach Vietnam letztlich verneint wird, ist diese Bewertung im Rahmen des vorliegenden (Eil-)Verfahrens jedoch nicht eindeutig sicher und plausibel - jedenfalls nicht in dem Maße, dass sie auch ein Offensichtlichkeitsurteil (s.o.) eindeutig stützen könnte.
Denn das Verfolgungs- und Bestrafungsrisiko in Vietnam gem. dem geänderten VietStGB ist schwer einzuschätzen, weil die Reaktionsweise vietnamesischer Behörden "ständigen, zum Teil sehr irrationalen Veränderungen unterworfen" ist (so die Stellungn. von Dr. G. Will, Hamburg, vom 14.9.2000, S. 3). Politische Opposition wird in Vietnam nicht toleriert, abweichende Meinungen werden erstickt, Dissidenten sind Repressionen seitens der vietnamesischen Regierung ausgesetzt (Lagebericht des a.A. v. 1.04.2003). Daher werden auch alle elektronischen sowie alle Printmedien durch die Regierung überwacht - das Internet eingeschlossen (Lagebericht a.a.O..). Versuche, mit Flugblättern oder Zeitungen eine Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, werden "strikt" unterbunden. Gegner des Sozialismus werden inhaftiert oder bestraft, u.a. gem. der Verordnung über Administrativhaft v. 14.04.1997. Angehörige der protestantisch-freikirchlich orientierten Minderheiten des Vietnamesischen Berglandes, die im Jahre 2001 nach niedergeschlagenen Aufständen in großer Zahl nach Kambodscha geflohen und dort vom UNHCR betreut worden waren, erhielten von den USA politisches Asyl (Ausreise in die USA im Frühjahr 2002). Nach der Einschätzung der IGFM (Pressemitteilung v. 18.10.2001) "entpuppt sich Vietnam als ein 'rechtsbeugender Staat'11. Dabei mag außer Betracht bleiben, dass Vietnam ohnehin ein Staat mit "besonders unzuverlässigem Urkundenwesen" ist und z.B. eine Legalisation von Vietnamesischen Urkunden "nach wie vor nicht möglich" ist (Nds. MJ v. 17.1.2002 - 44.12-120 241/30).
Auf Grund dieser vielschichtigen Situation ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden heute nicht mehr abzugeben. Es ist dem Zufall und der Behördenwillkür überlassen, ob jemand repressiv "behandelt" wird oder nicht. Willkürliche Verhaftungen Unter allen nur erdenklichen Vorwänden finden statt, wobei das Recht, einen Beistand hinzuzuziehen, nicht einmal eingehalten wird (so im Verfahren gegen Pfarrer Ly, vgl. IGFM-Presse-mitt. v. 22. 10. 2001; Einzelentscheider-Brief Febr. 1999). Fairnessgrundsätze europäischen Standards (Art. 6 EMRK) werden missachtet. Eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden ist im Einzelfall unmöglich:
"Da das Vorgehen der vietnamesischen Behörden und auch der Justiz, wie oben bereits ausgeführt, ganz wesentlich politisch beeinflusst und im übrigen in hohem Maße korrupt ist, ist eine objektive Beurteilung, ob sich die zuständigen Stellen von den...geschilderten Erwägungen bei der Entscheidung über das Ob und Wie einer Bestrafung des Betroffenen leiten lassen, praktisch unmöglich."- ai-Stellungnahme v. 2.2.1999 (ASA 41-97.145).
Damit ist für das vorliegende Verfahren noch nicht im Sinne eines Offensichtlichkeitsurteils (s.o.) völlig eindeutig, dass der Antragsteller, der aus der Sicht der vietnamesischen Behörden der sozialistischen Heimat den Rücken gekehrt und in den Westen geflohen ist, im Klageverfahren nicht als Flüchtling i.Sv § 3 AsylVfG anzuerkennen oder bei ihm ein Äbschiebungshindernis festzustellen wäre. Dabei fällt zu Gunsten des Antragstellers derzeit ins Gewicht, dass er nach eigenen Angaben in Hanoi bereits einmal für 3 Tage inhaftiert war und während dieser Zeit nachts etwa ab 1.00 Uhr für ca. 2 Stunden unter grellem Lampenlicht nach einer von ihm gelesenen, verbotenen Zeitung sowie einer damit zusammenhängenden Organisation befragt worden sein will. Diese schon in einem vorgelegten Schreiben (Bl. 16 d. Verwaltungsvorgänge) enthaltenen Angaben hat der Antragsteller bei seiner Anhörung vom 14.01.2002 im Kern wiederholt und inhaltlich bestätigt. Er hat hierbei unterstrichen, dass es das Ziel der nächtlichen Verhöre gewesen sei zu erfahren, ob er "einer Organisation angehöre". Das ist auf dem Hintergrund der Auskünfte und Informationen zu Vietnam insgesamt glaubhaft. Es ist dem Antragsteller auch - bei Zweifeln an einzelnen seiner Angaben (s.o.) - auch abzunehmen, dass er auf Grund der angewandten Verhörmethoden damals "viel Angst" hatte, er über Einzelheiten seiner Verhöre daher nicht so unbefangen berichten konnte, wie das der Einzelentscheider von ihm im Januar 2001 erwartet hat. Es ist nach Lage der Dinge zumindest auch möglich, dass seine Angaben zur Verhaftung seiner Freunde, die bislang nicht wieder aufgetaucht sind, stimmen. Auch seine Angaben zum polizeilichen Spritzen von Heroin, um eine Heroinabhängigkeit zu simulieren und so eine Strafschärfung zu erreichen, mögen zutreffen; ihnen ist bei der Anhörung nicht weiter nachgegangen worden. Unter diesen Umständen und mit Blick auf die sehr hohen Anforderungen im Falle der Annahme einer Offensichtlichkeit ist ihm zunächst einmal unter der Geltung des Art. 19 Abs. 4 GG vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren.
4.
Im Übrigen stehen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht etwa ausnahmsweise besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluss des Verfahrens der Hauptsache 1 A 49/02 die weitgehend irreparable, vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung durchzuführen, die angedroht worden ist (Pkt. 4 des Bescheides v. 21.1.2002). Denn es ist so, dass der Rechtschutzanspruch eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG umso stärker ist, je gewichtiger die auferlegte Belastung ist und je mehr die Verwaltungsmaßnahme - hier die Abschiebungsandrohung - Unabänderliches zu bewirken geeignet ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 m.w.N.). Deshalb ist sein Antrag nur im Falle unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAusIR 1995, 19), die regelmäßig erst im Hauptsacheverfahren zu erlangen ist, abweisbar:
Droht... dem Ast. bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist -... - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (so 3. Ka. des 2. Senats des BVerfG, Beschl. v. 27.1o.1995, NVwZ-Beilage 3/1996, S. 19 m.w.N.) An solcher unumstößlichen Richtigkeit im Sinne von Offensichtlichkeit fehlt es hier jedoch auch im Hinblick auf die erheblichen Glaubwürdigkeitszweifel (s.o.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.