Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 22.11.2017, Az.: 5 A 1787/15

Legasthenie; Nachteilsausgleich; Notenschutz; Versäumnisse des Gesetzgebers

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
22.11.2017
Aktenzeichen
5 A 1787/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 53666
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

Die Klägerin beansprucht nach bestandenem Abitur die nachträgliche Gewährung von sog. Notenschutz für ihre schriftlichen Leistungen in der gymnasialen Oberstufe und in der Abiturprüfung ohne Anwendung der Punktabzugsregel bei Rechtschreibfehlern (sog. GRZ-Fehler). Nach fiktiver Berechnung würde dies zu einer geringfügig besseren Durchschnittsnote des Abiturzeugnisses (3,4 statt 3,5) führen.

Die am 26. Juni 1997 geborene Klägerin besuchte im Schuljahr 2014/2015 den 12. Jahrgang bei dem Beklagten. Sie leidet nach der fachärztlichen Stellungnahme von Dr. med. K. (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, …) vom 13. Dezember 2012 an einer „Isolierten Rechtschreibstörung, <ICD 10>, F 81.1“ durchschnittlicher Ausprägung. Deswegen nahm sie seit längerem an außerschulischen Fördermaßnahmen teil. Auf Antrag wurde diese Rechtschreibstörung bis einschließlich des 10. Jahrgangs (Schuljahr 2012/2013) bei der Bewertung von Rechtschreibleistungen berücksichtigt. Im Oktober 2013 beantragte die Klägerin sinngemäß, auch im 11. Jahrgang (Qualifikationsphase/Oberstufe) weiter wie bisher zu verfahren. Der Beklagte bot mit Bescheid vom 15. November 2013 einen Nachteilsausgleich (u.a. Zeitverlängerung, technische Hilfsmittel) an, lehnte aber für die Oberstufe die Gewährung eines besonderen Notenschutzes ab. Dagegen legte die Klägerin, die den angebotenen Nachteilsausgleich als nicht hilfreich ansah, Widerspruch ein. Mit einzelfallbezogenem Erlass vom 3. April 2014 versagte das Nds. Kultusministerium unter Verweis auf den durch die maßgebenden Erlasse gegebenen Bewertungsspielraum den begehrten Notenschutz. Dies teilte der Beklagte den Eltern der Klägerin durch nicht mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 2014 mit.

Den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vom November 2014 -

der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO aufzugeben, die für die gymnasiale Oberstufe bestehende Regelung über eine mögliche Herabsetzung einer Klausurnote bei gehäuften Verstößen gegen die Sprachrichtigkeit bei der Antragstellerin bis zum Abschluss der Abiturprüfung in allen Fächern seit Antragstellung bei der Antragsgegnerin auf Gewährung eines Nachteilsausgleichs nicht mehr anzuwenden,

hilfsweise,

wie vor, jedoch mit sofortiger Wirkung nicht mehr anzuwenden -

lehnte die Kammer ab (Beschluss vom 15. Dezember 2014 - 5 B 3886/14 -). Die dagegen gerichtete Beschwerde blieb ohne Erfolg (Beschluss des Nds. OVG vom 10. März 2015 - 2 ME 7/15 -). Ab dem 1. Halbjahr des Schuljahres 2013/2014 im 12. Jahrgang nahm die Klägerin teilweise bei Prüfungen einen Zeitausgleich in Anspruch (vgl. Berichte des Beklagten vom 20. Februar 2015, Bl. 99 f. GA 5 B 3886/14, und 10. Dezember 2015, Bl. 54 f. GA: zusätzliche Korrekturlesezeit nach Ende der Bearbeitungszeit), lehnte aber weitere technische Hilfsmittel (Duden oder Notebook mit Rechtschreibprogramm) ab.

Nach bestandenen Prüfungsleistungen im Frühjahr 2015 erhielt die Klägerin das Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife vom 1. Juli 2015 mit einer Durchschnittsnote von 3,5. Die Lehrkräfte der Fächer Deutsch, Geschichte und Biologie, deren Gebrauch von der Punktabzugsregel die Klägerin bei schriftlichen Leistungen in der gymnasialen Oberstufe und der Abiturprüfung beanstandet, hielten in ergänzenden Stellungnahmen an ihrer Leistungsbewertung fest. Sie erläuterten nochmals ihre Bewertungen und wiesen darauf hin, dass ihnen eine Unterscheidung zwischen Legasthenie bedingten und nicht Legasthenie bedingten Rechtschreibfehlern nicht möglich sei.

Die Klägerin hat bereits am 21. April 2015 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor: Sie könne die Neu- und Besserbewertung ihres Abiturzeugnisses und vorausgehend sämtlicher abiturrelevanter schriftlicher Prüfungsleistungen verlangen, bei denen die Beurteiler von der Punktabzugsregel Gebrauch gemacht hätten. Neben einer leichten Verbesserung der Durchschnittsnote erlange sie hierdurch jedenfalls Rehabilitation für die erlittenen Diskriminierungen. Ihre Legasthenie beruhe auf einer genetischen Disposition, sei eine lebenslange Behinderung, allenfalls therapeutisch zu lindern, aber im Wesentlichen unheilbar. Sie bewirke eine veränderte Hirnfunktion, die trotz ausreichender - oder wie hier sogar überdurchschnittlicher - Intelligenz, Beschulung und starkem eigenen Bemühen insbesondere die visuelle Wahrnehmung und Verarbeitung mit der Folge vermindere, dass Wissen bzw. Erlerntes nur eingeschränkt frei von Rechtschreibfehlern verschriftlicht werden könne. Legastheniker litten häufig unter bedeutsamen psychischen Problemen, weil Lehrkräfte und Schulverwaltungen sie mangels ausreichender Ausbildung und fehlenden Fachwissens nicht von lernschwachen Schülern bzw. Schülern mit einer nicht behindertenbedingten Lese- und Rechtschreibschwäche unterscheiden könnten und ihnen mit ungeeigneten Mitteln und Maßnahmen begegnen würden (vgl. Professor Dr. Schulte-Körne, Ärzteblatt, Nachricht vom 5. März 2014, BA 002, Anlage 8). Eine solche Diskriminierung habe auch sie – die Klägerin – erlitten.

Für die Punktabzugsregel gebe es keine belastbare Rechtsgrundlage. Ihre Anwendung trotz der unstreitig bestehenden Behinderung verstoße gegen Verfassungsrecht, namentlich Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 oder Abs. 3 Satz 2 bzw. Art. 12 Abs. 1 GG und die so genannte Wesentlichkeitstheorie, sowie Völkerrecht (Art. 1, 2, 24 der sog. Behindertenrechtskonvention - BRK) und verletze sie erheblich in ihren Rechten. Der ihr angebotene Nachteilsausgleich sei untauglich, um ihre Diskriminierung zu kompensieren, zumal angebotene Zeitverlängerungen bei Rechtschreibstörungen anerkanntermaßen keine Vorteile brächten und die Benutzung von Duden oder Notebook mit Rechtschreibprogramm nur den empfundenen Stress erhöhten sowie auf Ablehnung der übrigen Schülerschaft stießen. Entgegen der Auffassung des Beklagten, der Schulbehörden und Gerichte gehöre das Absehen von der Punktabzugsregel richtigerweise zum verfassungsrechtlich gebotenen Nachteilsausgleich und sei nicht als Notenschutz einzuordnen. Gegenteiliges sei bislang obergerichtlich noch nicht abschließend geklärt, zumal noch Verfassungsbeschwerden gegen das Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juli 2015 (6 C 35.14) anhängig seien. Offenbar hege das Bundesverfassungsgericht Zweifel an der Richtigkeit dieses Grundsatzurteils. Auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - Nds. OVG - sei von diesem jüngst verpflichtet worden, seine bisherige Rechtsprechung in einem ordnungsgemäßen Berufungsverfahren zu überprüfen. Unabhängig von der dogmatischen Zuordnung könne sie ein solches Vorgehen verlangen. In der Oberstufe und für das Abitur sei die Rechtschreibung als solche nicht prüfungsrelevant, sondern das Fachwissen.

Selbst hilfsweise, im Rahmen der Ermessensausübung auf der Grundlage ministerieller Erlasse und Auslegungsvorgaben der Verwaltungsgerichte, die hier (theoretisch) eine differenzierte pädagogische Betrachtung und Bewertung im Einzelfall ermögliche, werde ihre ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber Mitprüflingen mit geringerem Sachwissen, aber besseren Rechtschreibkenntnissen praktisch nicht – durch ganz oder teilweises Absehen von der Punktabzugsregel – ausgeglichen oder relativiert. Die Schwierigkeit bzw. sogar Unmöglichkeit, zwischen Legasthenie bedingten und nicht Legasthenie bedingten Fehlern zu unterscheiden, räumten selbst ihre Beurteiler in den ergänzenden Stellungnahmen ein. Gegebenenfalls sei hier durch einen Fachgutachter zu klären, zu welcher Fehlerkategorie die ihr vorgeworfenen Rechtschreibfehler gehörten. Versäumnisse des niedersächsischen Gesetzgebers bei der seit längerem gebotenen Schaffung einer Notenschutz-Regelung für u.a. Legastheniker dürften ihr nicht zum Nachteil gereichen. Auch die gebotene Gleichbehandlung mit anderen Formen der Behinderung im Schulbereich, mit dem Ausschluss der Punktabzugsregel bis zum 10. Schuljahrgang nach Erlasslage, mit anerkannten Notenschutz-Regelungen im niedersächsischen Hochschulrecht und geltenden Notenschutz-Bestimmungen im Schulrecht anderer Bundesländer wie etwa Bayern, Schleswig-Holstein oder Nordrhein-Westfalen lege nahe, abiturrelevante Prüfungsleistungen ohne Punktabzugsregel zu bewerten. Keineswegs bewirke das Außerachtlassen der Punktabzugsregel eine Überkompensation der bestehenden Nachteile gegenüber Mitprüflingen mit geringerem Sachwissen, aber besseren Rechtschreibkenntnissen, sondern nur eine Milderung. Trotz hohen Sachwissens beschränkten sich die Betroffenen vorsorglich häufig auf möglichst kurze Ausführungen. Zumindest die vom Nds. OVG auch konkret für ihren Fall aufgezeigte Hilfslösung auf Ermessensebene müsse wirksam werden.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 15. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 2014 und Abänderung des Abiturzeugnisses vom 1. Juli 2015 zu verpflichten, ihr nachträglich sog. Notenschutz für ihre schriftlichen Leistungen in den Fächern Deutsch, Biologie und Geschichte in der gymnasialen Oberstufe (Schuljahre 2013/2014 sowie 2014/2015) und in der Abiturprüfung ohne Anwendung der Punktabzugsregel bei Rechtschreibfehlern zu gewähren,

hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts aufgrund einer Neubewertung sämtlicher Aufsichtsarbeiten in den Fächern Deutsch, Biologie und Geschichte in den Schuljahren 2013/2014 und 2014/2015 sowie der Abiturprüfung, in denen von der Punktabzugsregel wegen gehäufter Rechtschreibfehler Gebrauch gemacht wurde, erneut über das Ergebnis des Zeugnisses der allgemeinen Hochschulreife zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf die Entscheidungen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und erwidert ergänzend, schon der geringfügige Unterschied zwischen erhaltener und begehrter Durchschnittsnote des Abiturzeugnisses lasse den Schluss zu, dass die Klägerin durch ihre isolierte Rechtschreibstörung im Hinblick auf das tatsächliche Abiturprüfungsergebnis nicht wesentlich beeinträchtigt gewesen sei. Jedenfalls könne sie den der Sache nach begehrten Notenschutz weder aus Verfassungsrecht noch aus Völkerrecht verlangen. Solange eine gebotene gesetzliche Regelung des Landesgesetzgebers zum Notenschutz fehle, verbleibe es bei den allgemein gültigen Grundsätzen der Leistungsbewertung. Hierbei müssten grundgesetzlich geschützte Abwehrrechte gegen die grundgesetzlich geschützte Pflicht des Staates zur Herstellung der Chancengleichheit gegeneinander abgewogen werden, was im hiesigen Einzelfall ebenso wenig zur Rechtswidrigkeit der gefundenen Bewertungen führe. Im Ergebnis könne die Teilleistungsstörung der Klägerin nur im Rahmen der geltenden Erlasslage durch die zur Leistungsbewertung berufene Fachlehrkraft bzw. des Mitglieds der Fachprüfungskommission in den jeweiligen Prüfungsfächern berücksichtigt werden. Die dort im Rahmen des pädagogischen Beurteilungsspielraums getroffene Bewertung sei auch dann nicht rechtlich zu beanstanden, wenn die Beurteiler nicht zwischen Legasthenie bedingten und nicht Legasthenie bedingten Fehlern unterscheiden könnten. Aus der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ergäben sich keine konkreten Handlungsanweisungen für die Schulbehörden. Die Klägerin habe entgegen der mehrfachen Angebote versäumt, Nachteilsausgleich in Form eines Notebooks mit Rechtschreibprogramm zu verlangen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte 5 B 3886/14, der von der Klägerin überreichten Unterlagen und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.

Die Klägerin kann weder unmittelbar die Nichtanwendung der Punktabzugsregel bei Rechtschreibfehlern für ihre schriftlichen Leistungen in den Fächern Deutsch, Biologie und Geschichte in der gymnasialen Oberstufe in den Schuljahren 2013/2014 und 2014/2015 sowie in der Abiturprüfung 2015 (I) noch eine Neubewertung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (II) verlangen. Mithin vermag sie weder die Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 15. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 2014 noch eine Abänderung des ihr erteilten Abiturzeugnisses vom 1. Juli 2015 zu erreichen.

I. Ein Anspruch steht der Klägerin weder unter dem Gesichtspunkt des Nachteilsausgleichs (1) noch unter dem des Notenschutzes (2) zu. Sie hat nicht zur Überzeugung der Kammer dargelegt, dass zum Ausgleich der bei ihr bestehenden Beeinträchtigungen konkret die Nichtanwendung der Punktabzugsregel erforderlich ist.

1. Die Klägerin kann die begehrte Nichtanwendung der Punktabzugsregel (a) nicht als eine Maßnahme des Nachteilsausgleichs verlangen. Ihr steht zwar wegen ihrer Behinderung grundsätzlich Nachteilsausgleich zu (b), dieser umfasst aber weniger weit reichende Hilfen (c), die die Klägerin zudem nicht ausgeschöpft hat (d).

a. Nach der Verordnung über die Abschlüsse in der gymnasialen Oberstufe, im Beruflichen Gymnasium, im Abendgymnasium und im Kolleg (AVO-GOBAK) vom 19. Mai 2005 (Nds. GVBl. S. 169), in der für die Abiturprüfung 2015 maßgeblichen Fassung, zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. Februar 2014 (Nds. GVBl. S. 53), bestimmt sich die im Abitur erreichte Durchschnittsnote nach der Punktzahl der Gesamtqualifikation (§ 14 Abs. 2 i.V.m. Anlage 2). Die Punktzahl der Gesamtqualifikation ergibt sich aus der Punktsumme bestimmter Schulhalbjahresergebnisse (Block I) und der Punktsumme der in den fünf Prüfungsfächern in vierfacher Wertung erzielten Leistungen (Block II; s. § 15 Abs. 1 und Abs. 3 AVO-GOBAK). Für die Punktzahl der abiturrelevanten Einzelqualifikationen in der Oberstufe gelten allgemein die Bestimmungen in §§ 1, 7 Abs. 3, 10 der Verordnung über die gymnasiale Oberstufe - VO-GO - vom 17. Februar 2005 (Nds. GVBl. S. 51) und speziell in den Abiturprüfungen die §§ 1 Abs. 2 und 9 AVO-GOBAK, die jeweils durch Verwaltungsvorschriften mit dem Ziel einer gleichförmigen Anwendung näher erläutert werden. Soweit sich darin Vorgaben zur Punktabzugsregel bei Rechtschreibfehlern finden, dienen diese lediglich der einheitlichen Handhabung und Begrenzung der ohnehin allgemein geltenden Grundsätze der Leistungsfeststellung und Leistungsbewertung von Prüfungsarbeiten, wonach die Note aufgrund der pädagogischen Abwägung von Stärken und Schwächen (zu denen Mängel der sprachlichen Richtigkeit gehören) einer Leistung gemessen am Anforderungsprofil und auch dem Leistungsniveau von Mitprüflingen gebildet wird. Prozessual bedeutet dies für die Klägerin, dass es keineswegs ausreicht, erfolgreich zu beanstanden, es fehle – etwa mangels einer nach der sog. Wesentlichkeitstherorie gebotenen gesetzlichen Regelung – an einer wirksamen Rechtsgrundlage für die Punktabzugsregel. Stattdessen wäre es erforderlich, einen Anspruch auf ausnahmsweise Nichtanwendung des allgemeinen Maßstabs der Leistungsbewertung zur Überzeugung des Gerichts darzutun.

Die für die Klausuren/Abiturprüfung in der Oberstufe geltenden Grundsätze der Leistungsfeststellung und Leistungsbewertung in Ausfüllung der KMK-Vorgabe “Vereinbarung der Gestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II“ (KMK-Sek II, vom 13. Dezember 1973 idF vom 6. Juni 2013) enthalten im Übrigen keine starren Festlegungen. So heißt es in Nr. 10.13 EB-VO-GO (Ergänzenden Bestimmungen zur Verordnung über die gymnasiale Oberstufe vom 17. Februar 2005 idF vom 4. Februar 2014, SVBl. 2005, 177, 2014, 116):

„Schwerwiegende und gehäufte Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit in der deutschen Sprache oder gegen die äußere Form in einer Klausur nach Nrn. 10.8 und 10.9 oder einer Facharbeit oder einer gleichwertigen schriftlichen Feststellung im Seminarfach nach Nrn. 10.10 und 10.11 führen zu einem Abzug von einem Punkt oder zwei Punkten bei der einfachen Wertung; als Richtwerte gelten die Angaben in Nr. 9.11 EB-AVO-GOBAK entsprechend.“

Nr. 9.11 EB-AVO-GOBAK (Ergänzende Bestimmungen zur Verordnung über die Abschlüsse in der gymnasialen Oberstufe, im Fachgymnasium, im Abendgymnasium und im Kolleg, RdErl. d. MK vom 19. Mai 2005 idF vom 4. Februar 2014, SVBl. 2005, 361, 2014, 116) wiederum regelt:

"… schwerwiegende und gehäufte Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit in der deutschen Sprache oder gegen die äußere Form führen zu einem Abzug von einem Punkt oder zwei Punkten bei der einfachen Wertung. Als Richtwerte sollten gelten: Abzug eines Punktes bei durchschnittlich fünf Fehlern …; Abzug von zwei Punkten bei durchschnittlich sieben und mehr Fehlern …. Bei der Entscheidung über einen Punktabzug ist ein nur quantifizierendes Verfahren nicht sachgerecht. Vielmehr sind Zahl und Art der Verstöße zu gewichten und in Relation zu Wort, Zahl, Wortschatz und Satzbau zu setzen. Wiederholungsfehler werden in der Regel nur einmal gewertet. …."

b. Die Klägerin leidet unstreitig an einer Behinderung, die sie grundsätzlich zum Nachteilsausgleich berechtigt. Nach der fachärztlichen Stellungnahme von Dr. med. K., Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, … vom 13. Dezember 2012 besteht bei ihr eine „Isolierte Rechtschreibstörung, <ICD 10>, F 81.1“ durchschnittlicher Ausprägung. Ein individueller oder allgemeiner Klärungsbedarf hinsichtlich des Krankheitsbildes besteht nicht (mehr). Sowohl der Beklagte als auch das Gericht beziehen sich auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - in dem Grundsatzurteil vom 29. Juli 2015 (- 6 C 35.14 -, BVerwGE 152, 330 = juris, Rn. 18 m. w. N.), das Folgendes ausgeführt hat:

Bei der Legasthenie handelt es sich „um eine dauerhafte Lese- und Schreibstörung aufgrund einer neurobiologischen, entwicklungsbiologisch und zentralnervös begründeten Störung der Hirnfunktion. Davon zu unterscheiden sind Lese- und Rechtschreibschwächen, die andere Ursachen haben und erfolgversprechend behandelt werden können. Legasthenie lässt Begabung und Intelligenz unberührt; die intellektuelle Erfassung von Sachverhalten ist nicht beeinträchtigt. Jedoch ist die Lese- und Schreibgeschwindigkeit verringert, so dass Legastheniker überdurchschnittlich viel Zeit benötigen, um schriftliche Texte aufzunehmen, zu verarbeiten und ihre Gedanken aufzuschreiben. Aufgrund dessen sind sie beeinträchtigt, ihre als solche nicht eingeschränkte intellektuelle Befähigung darzustellen, d. h. ihre tatsächlich vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten in schriftlichen Prüfungen nachzuweisen. Hinzu kommt eine Rechtschreibschwäche; die Rechtschreibung von Legasthenikern ist überdurchschnittlich fehlerbehaftet.“

Zur Herstellung der Chancengleichheit in den schriftlichen Prüfungen konnte die Klägerin daher Maßnahmen des Nachteilsausgleichs beanspruchen, die ihr auch vom Beklagten angeboten wurden. Zur Rechtsnatur des Nachteilsausgleichs hat das BVerwG (a.a.O. Rn. 14 ff.) ausgeführt, dass der Anspruch auf Nachteilsausgleich dem verfassungsrechtlich verankerten Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 ggf. i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG entspringt. Dieses soll sicherstellen, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein. Allerdings sind einheitliche Prüfungsbedingungen geeignet, die Chancengleichheit derjenigen Prüflinge zu verletzen, deren Fähigkeit, ihr vorhandenes Leistungsvermögen darzustellen, erheblich beeinträchtigt ist. Daher steht diesen Prüflingen ein Anspruch auf Änderung der einheitlichen Prüfungsbedingungen im jeweiligen Einzelfall verfassungsunmittelbar zu. Weiter heißt es (a.a.o., Rn. 16):

„Den Schwierigkeiten des Prüflings, seine vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter Geltung der einheitlichen Bedingungen darzustellen, muss durch geeignete Ausgleichsmaßnahmen Rechnung getragen werden. Dieser Nachteilsausgleich ist erforderlich, um chancengleiche äußere Bedingungen für die Erfüllung der Leistungsanforderungen herzustellen. Aus diesem Grund muss die Ausgleichsmaßnahme im Einzelfall nach Art und Umfang so bemessen sein, dass der Nachteil nicht "überkompensiert" wird. Die typische Ausgleichsmaßnahme in schriftlichen Prüfungen ist die Verlängerung der Bearbeitungszeit; in Betracht kommt auch die Benutzung technischer Hilfsmittel.“

c. Anders als von der Klägerin und vereinzelt in der Literatur (vgl. Langenfeld, Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und des besonderen Schutzes für Schüler und Schülerinnen mit Legasthenie an allgemeinbildenden Schulen, SVBl. 2007, 211, 226; Marwege, Legasthenie und Dyskalkulie in der Schule, Universitätsverlag Göttingen, 2013, abrufbar unter http://webdoc.sub.gwdg.de/univerlag2013/Marwege/diss.pdf, S. 183; Cremer/Kolok, Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Umgang mit Legasthenie und Dyskalkulie in der Schule, DVBl. 2014, 333, 337) vertreten, umfasst der Nachteilsausgleich nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bei Legasthenikern nicht auch eine Änderung des allgemeinen Maßstabs der Leistungsbewertung, hier etwa die Nichtanwendung der Punktabzugsregel. Ein derartiges Begehren ist vielmehr rechtlich als Verlangen von Notenschutz (dazu unten 2) zu werten (BVerwG, a.a.O. Rn. 20,  30 m.w.N.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 10. März 2015 - 2 ME 7/15 -, juris Rn. 14; Brockmann/Littmann/Schippmann, Nds. SchulG, Stand: Sept. 2017, § 34 Anm. 3.5.3 und 3.5.4; Beaucamp, Möglichkeiten und Grenzen des Grundsatzes der Chancengleichheit im Bildungsrecht, DVBl. 2014, 1364). Allein aus dem Umstand, dass beim Bundesverfassungsgericht mehrere Verfassungsbeschwerden gegen die o.g. Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts anhängig sind, ergeben sich keine überzeugenden Argumente für eine andere Einschätzung. Auch dem Beschluss vom 9. Juni 2016 (- 1 BvR 2453/12 -, juris), mit dem die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - Nds. OVG - in einem ähnlich gelagerten Fall zur Durchführung einer Berufungsverhandlung verpflichtet hat, lassen sich keine Hinweise auf eine andere dogmatische Einordnung entnehmen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. Februar 2017 - 2 PA 46/17 -, juris Rn. 15). Vielmehr sind die Beanstandung und Zurückverweisung prozessualen Gründen (Gebot des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) und dem Umstand geschuldet, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (20. September 2012) die umstrittene Frage des Umfangs des Nachteilsausgleichs für an Legasthenie leidende Schüler noch nicht höchstrichterlich geklärt war.

Dementsprechend können Prüflinge, die an Legasthenie leiden, zur Herstellung der Chancengleichheit in schriftlichen Prüfungen etwa lediglich die angemessene Verlängerung der Bearbeitungszeit beanspruchen, sofern die Feststellung der Rechtschreibung nicht Prüfungszweck ist. Damit kann zumindest die langsamere Lese- und Schreibgeschwindigkeit, nicht aber die Rechtschreibschwäche kompensiert werden (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 19 m. w. N.). Hinsichtlich der – wie hier isolierten – Rechtschreibschwäche kommt ferner der Einsatz technischer Hilfsmittel (etwa [elektronischer] Duden oder Notebook mit Rechtschreibprogramm) in Betracht.

d. Wird dem Prüfling ein Nachteilsausgleich gewährt, so ist dieser gehalten, die ihm gewährten Erleichterungen zweckgerecht voll zu nutzen, bevor er rügt, sie seien unzureichend bemessen worden (vgl. Niehaus/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 259 m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 10. März 2015 - 2 ME 7/15 -, juris Rn. 16; VG Münster, Beschluss vom 28. August 2017 - 1 L 1154/17 -, juris Rn. 28). Die Klägerin hatte die Angebote des Nachteilsausgleichs nicht ausgeschöpft. Zwar hatte sie teilweise bei Prüfungen einen Zeitausgleich in Anspruch genommen (vgl. Berichte des Beklagten vom 20. Februar 2015, Bl. 99 f. GA 5 B 3886/14, und 10. Dezember 2015, Bl. 54 f. GA: zusätzliche Korrekturlesezeit nach Ende der Bearbeitungszeit, was im Abiturzeugnis zu Recht nicht vermerkt wurde), lehnte aber weitere technische Hilfsmittel ab. Ihr Hinweis, angebotene Hilfen wie Duden oder Notebook mit Rechtschreibprogramm erhöhten nur den empfunden Stress und stießen auf Ablehnung der übrigen Schüler, ist unzureichend. Ebenso wenig verfängt ihr jüngst erhobener Einwand, die Qualität der in der Zeit von 2013 bis Frühjahr 2015 verfügbaren Rechtschreibprogramme sei unzureichend gewesen.

2. Die Klägerin kann die begehrte Nichtanwendung der Punktabzugsregel nicht als eine Maßnahme des Notenschutzes (a) verlangen. Ein solcher Notenschutz ergibt sich weder aus dem niedersächsischen Recht (b) noch aus Verfassungsrecht (c), Völkerrecht (d) oder etwaigen Versäumnissen des niedersächsischen Gesetzgebers (e).

a. Bei Maßnahmen des Notenschutzes wird auf die einheitliche Anwendung des allgemeinen Maßstabs der Leistungsbewertung ganz oder teilweise verzichtet. Die begehrte Nichtanwendung der Punktabzugsregel würde für Legastheniker (und Prüflinge mit Legasthenie bedingter isolierter Rechtschreibschwäche) den allgemeinen Bewertungsmaßstab verbessern und fällt darunter. Da die Abweichung von den allgemeinen Bewertungsmaßstäben wesentlich in die Grundrechte der Betroffenen sowie ihrer Mitprüflinge eingreift, ist eine Regelung lediglich durch Verwaltungsvorschriften bzw. ministerielle Erlasse unzureichend, sondern eine mindestens einfachgesetzliche Regelung geboten (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 41; Bay. VGH, Urteil vom 28. Mai 2014 - 7 B 14.22 -, juris; Rux, Referat auf dem 18. Deutschen Verwaltungsgerichtstag Hamburg 2016, Arbeitskreis 2, Dokumentation 2017, Seite 69 ff., 71 ff., 83 Fußnote 36, 84 Fußnote 39, hält insoweit für erwägenswert, ob es ausreicht, wenn das Schulgesetz bereits mittelbar eine Zieldifferenzierung zulässt, dort der Vorrang des gemeinsamen Unterrichts oder das Bekenntnis zum Inklusionsprinzip geregelt sind oder ob die gesetzliche Regelung in der vorausgegangenen Zustimmung zur BRK und dem allgemeinen Anspruch auf Chancengleichheit zu sehen ist), die auch die Frage eines entsprechenden Vermerks im Abschlusszeugnis umfassen sollte.

b. Eine mögliche Regelung des Notenschutzes für u.a. Schüler mit Legasthenie durch Gesetz oder Verordnung hat der niedersächsische Gesetzgeber bislang nicht getroffen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. Februar 2017 - 2 PA 46/17 -, juris Rn. 15). Soweit in Verwaltungsvorschriften, nämlich der oben wiedergegebenen Punktabzugsregel, ein begrenztes Abweichen nach Ermessen im Einzelfall eröffnet wird, besteht kein Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten der Prüfer; im Übrigen wird insoweit allenfalls das hilfsweise Begehren der Klägerin betroffen (vgl. unten II).

c. In der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ist mittlerweile geklärt, dass sich weder aus Art. 3 Abs. 1 GG noch aus Abs. 3 Satz 2 GG jeweils ggf. i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG zwingend ein Notenschutz des begehrten Inhalts ergibt.

Zum Gebot der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, a.a.O., Rn. 21 ff.) u.a. ausgeführt:

„Schulische Abschlussprüfungen sind regelmäßig dazu bestimmt festzustellen, ob die Prüflinge über bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zum Besuch einer weiterführenden Schule, zur Aufnahme einer Berufsausbildung oder zur Ausübung eines Berufs erforderlich sind. Aus diesem Prüfungszweck folgt, dass der Prüfungserfolg davon abhängt, ob und in welchem Maß bestimmte allgemein gültige Leistungsanforderungen erfüllt werden. Gelingt dieser Nachweis nicht, ist die Prüfung nicht bestanden, ohne dass es auf die Gründe ankommt. Dementsprechend werden die Prüfungsleistungen nach einem Maßstab bewertet, der keine Rücksicht darauf nimmt, aus welchen Gründen allgemein geltende Leistungsanforderungen nicht erfüllt werden. Es dient der Wahrung der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG, diesen Maßstab einheitlich an alle Prüfungsleistungen anzulegen, um aufgrund von Bewertungsrelationen zwischen den Leistungen die für die Notenbildung unverzichtbaren Mindest- und Durchschnittsanforderungen zu bestimmen.

Davon macht der Notenschutz Ausnahmen: Er trägt dem Umstand Rechnung, dass es Prüflingen subjektiv unmöglich ist, bestimmten Leistungsanforderungen zu genügen. Zu ihren Gunsten wird auf die einheitliche Anwendung des allgemeinen Maßstabs der Leistungsbewertung verzichtet. Entweder werden die subjektiv nicht zu erfüllenden Anforderungen nicht gestellt oder die Nichterfüllung wird nicht bewertet, sodass die Prüflinge insoweit keine Kenntnisse und Fähigkeiten nachweisen müssen. Auch kann der Nichterfüllung bestimmter Anforderungen bei der Leistungsbewertung ein geringeres Gewicht beigemessen werden.

Maßnahmen des Notenschutzes führen zwangsläufig zu einer erheblichen Verbesserung der Erfolgschancen in der Prüfung. Unter Umständen eröffnet ein individuell angepasster Maßstab Prüflingen erst eine reelle Möglichkeit, die Prüfung zu bestehen oder ein mehr als ausreichendes Ergebnis zu erzielen. Demnach stellt Notenschutz unter dem Aspekt der Chancengleichheit stets eine Bevorzugung derjenigen Prüflinge dar, denen er gewährt wird (BVerwG, Beschluss vom 13. Dezember 1985 - 7 B 210.85 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 223; VGH Kassel; Beschluss vom 5. Februar 2010 - 7 A 2406/09.Z - NVwZ-RR 2010, 767 <769>; OVG Lüneburg, Beschlüsse vom 10. Juli 2008 - 2 ME 309/08 - NVwZ-RR 2009, 68 und vom 10. März 2015 - 2 ME 7/15 - NVwZ-RR 2015, 574 <576>; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Juni 2009 - 3 M 16.09 - juris Rn. 4 f.; Langenfeld, RdJB 2007, 211 <222 f.>; Ennuschat/Volino, Behindertenrecht 2009, 166 <167 f.>; Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, 2. Aufl., Art. 3 Rn. 245).“

Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG begründet generell keine verfassungsunmittelbaren Ansprüche, sondern eröffnet dem Normgeber Handlungsmöglichkeiten (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 24 ff.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 10. März 2015, a.a.O., Rn. 25 f.; VG Münster, a.a.O., Rn. 62). Gewährung von Notenschutz ist eine durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gedeckte, aber nicht gebotene Förderungsmaßnahme. Unter anderem führte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, a.a.O., Rn. 32 ff.) hierzu aus:

„Vor allem aber ließe ein aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hergeleiteter Anspruch auf behindertengerechten Notenschutz für schulische Prüfungen außer Betracht, dass sich im Schulwesen die Grundrechte und die staatliche Schulaufsicht nach Art. 7 Abs. 1 GG gleichrangig gegenüber stehen. Nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz müssen beide Verfassungspositionen schon auf abstrakt-genereller Ebene nach Möglichkeit schonend ausgeglichen werden (BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 - BVerfGE 93, 1 <21>; Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218 <244 f.>; BVerwG, Urteil vom 11. September 2013 - 6 C 25.12 - BVerwGE 147, 362 Rn. 11).

Aus Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein umfassend zu verstehender staatlicher Bildungs- und Erziehungsauftrag. Danach ist es Sache des Staates, d.h. der Länder, die Schulformen und die dafür geltenden Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele festzulegen. Dies umfasst die Befugnis, die für einen Schulabschluss erforderlichen fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die Bedingungen für deren Nachweis und die durch den Abschluss vermittelte Qualifikation zu bestimmen (BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 1977 - 1 BvR 799/76 - BVerfGE 45, 400 [BVerfG 22.06.1977 - 1 BvL 23/75] <415>; Urteil vom 9. Februar 1982 - 1 BvR 845/79 - BVerfGE 59, 360 <377> und Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 1 BvR 9/97 - BVerfGE 96, 288 <303 f.>; BVerwG, Urteile vom 17. Juni 1998 - 6 C 11.97 - BVerwGE 107, 75 <78 f.> und vom 11. September 2013 - 6 C 25.12 - BVerwGE 147, 362 Rn. 11).

Davon ausgehend kann die Schulaufsicht den Erwerb eines Schulabschlusses und der dadurch vermittelten berufsbezogenen Qualifikation, insbesondere den Erwerb des die allgemeine Hochschulreife vermittelnden Abiturs, an den Nachweis eines allgemeinen Ausbildungs- und Kenntnisstandes knüpfen. Dies bedingt die Anwendung eines allgemeinen, an objektiven Leistungsanforderungen ausgerichteten Bewertungsmaßstabs für die Notengebung in einzelnen Prüfungen (vgl. unter 2.c, S. 9). Abweichungen von diesem Maßstab beeinträchtigen die Aussagekraft der Noten und letztlich des Schulabschlusses. Je größeres Gewicht individuellen Besonderheiten für die Bewertung zukommt, desto weniger ist der Schluss gerechtfertigt, dass die Noten und der Schulabschluss eine allgemein gültige Qualifikation vermitteln. Mit der Einführung von Bewertungsmaßstäben, die dem individuellen Leistungsvermögen durch Notenschutz Rechnung tragen, können je nach Reichweite Änderungen der Lernziele und ein schulischer Systemwechsel verbunden sein.

c) Aufgrund dessen ist es grundsätzlich Aufgabe des für die Schulaufsicht zuständigen Organs, darüber zu entscheiden, ob und auf welche Weise behinderte Schüler durch Notenschutz gefördert werden. Dabei muss in die Entscheidungsfindung einfließen, welche Folgen die Versagung von Notenschutz auf deren schulischen und beruflichen Werdegang voraussichtlich haben wird. Die Schwere der Nachteile, die ohne Notenschutz drohen und die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts muss in das Verhältnis zu den Auswirkungen des Notenschutzes auf die Chancengleichheit und die Aussagekraft der Notengebung und des Schulabschlusses gesetzt werden.“

Dass hier ein etwaiger von diesem Grundsatz abweichender Ausnahmefall (BVerwG, a.a.O., Rn. 27: etwa, um behinderungsbedingte schwerwiegende Nachteile für die Betroffenen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsverwirklichung, abzuwenden oder wenn keine schutzwürdigen Belange entgegenstehen) vorliegt, hat die Klägerin weder geltend gemacht noch ist dies sonst ersichtlich. Dem steht schon entgegen, dass die Klägerin lediglich an Legasthenie in Form einer Isolierten Rechtschreibstörung durchschnittlicher Ausprägung leidet, es mithin an einem besonders schwerwiegenden Krankheitsbild mit außergewöhnlichen zusätzlichen Einschränkungen fehlt.

d. Das Begehren der Klägerin lässt sich auch nicht auf Art. 1, 2, 24 des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention - BRK), dem der Bundestag mit Vertragsgesetz vom 21. Dezember 2008 (BGBl. 2008 II 1419) zugestimmt hat und das in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft trat (vgl. hierzu Hess. VGH, Urteil vom 12. November 2009 - 7 B 2763/09 -, juris), stützen, weil darin zwar eine gleichberechtigte Behandlung Behinderter mit Nichtbehinderten, nicht aber eine Bevorzugung von Behinderten gefordert wird (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 10. März 2015, a.a.O., Rn. 29).

e. Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt sich für sie auch kein Anspruch auf Nichtanwendung der Punktabzugsregel aus etwaigen Versäumnissen des niedersächsischen Gesetzgebers, etwa, weil dieser unterlassen habe, trotz der ihm bekannten Problematik eine Notenschutzregelung auf Gesetzes- oder Verordnungsebene zu treffen (so im Ergebnis auch: OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. Februar 2017 - 2 PA 46/17 -, juris Rn. 15). Es liegt generell im gesetzgeberischen Ermessen, ob, wann und welche gesetzliche Bestimmungen erlassen werden. Das gilt auch für grundrechtsrelevante Regelungsinhalte wie hier die Frage eines Notenschutzes der begehrten Art. Eine gesetzliche Regelung in diesem Bereich ist zwar möglich und sogar wünschenswert, keineswegs aber dringend geboten. Unabhängig davon erscheint es speziell hier als opportun, etwa den Ausgang der Verfassungsbeschwerden gegen die o.g. Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abzuwarten oder darauf zu verweisen, dass es für Legastheniker nach Erlasslage zumindest bis zum 10. Schuljahrgang Notenschutz und danach immerhin Nachteilsausgleich sowie – auch gerichtlich anerkannte – Abhilfemöglichkeiten der Prüfer im Einzelfall gibt. Selbst im Falle gravierender gesetzgeberischer Untätigkeit folgte hieraus kein Herstellungsanspruch des Betroffenen, mit dem ein Gericht das Begehrte unabhängig von dem Fehlen einer Rechtsgrundlage zusprechen könnte. Ein Gericht ist auch keineswegs befugt, anstelle des Gesetzgebers Ansprüche auf Notenschutz im Wege der Gleichbehandlung aus fragmentarischen Regelungen in sachlich oder räumlich wesentlich anders gelagerten Bereichen (Ausschluss der Punktabzugsregel bis zum 10. Schuljahrgang nach Erlasslage, Notenschutz-Regelungen im niedersächsischen Hochschulrecht oder geltende Notenschutz-Bestimmungen im Schulrecht anderer Bundesländer) abzuleiten.

II. Ebenso wenig kann die Klägerin hilfsweise verlangen, dass die Beurteiler ihre Bewertung der von der Punktabzugsregel betroffenen Arbeiten nochmals überdenken. Ein derartiges Überdenkungsverfahren mit der (jedenfalls theoretischen) Möglichkeit, im Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände einschließlich der bestehenden Legasthenie der Klägerin ganz oder teilweise von der Punktabzugsregel abzusehen, hat stattgefunden. Damit ist die in Niedersachsen einzig verbleibende Aussicht auf Notenschutz verbraucht, auch wenn hier keiner der Beurteiler in keinem der Fälle von der ursprünglichen Leistungsbewertung abrücken wollte. Das Gericht ist nicht befugt, den Beurteilungsvorgang anstelle der zuständigen Beurteiler durchzuführen. Es vermochte auch keine nach § 114 Satz 1 VwGO bedeutsamen Ermessensfehler der Beurteiler im Überdenkungsverfahren festzustellen.

Zu den oben unter I.1.a zitierten Verwaltungsvorschriften in Nr. 9.11 EB-AVO-GOBAK und Nr. 10.13 EB-VO-GO hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Nds. OVG, Beschluss vom 10. März 2015, a.a.O, Rn. 22) ausgeführt:

„Diese Vorgaben ermöglichen in gewissem Umfang eine differenzierende Bewertung der schriftlichen Arbeiten. Danach liegt, da laut Erlass eine "allein quantifizierende Beurteilung" gerade nicht als sachgerecht angesehen wird, die Entscheidung über einen Punktabzug im pädagogischen Verantwortungsbereich der wertenden Lehrkraft. Durch die offene Formulierung in Nr. 9.11 EB-AVO-GOFAK kann einerseits dem Interesse der Antragstellerin an einer Berücksichtigung der durch ihre Behinderung vorgegebenen Einschränkungen, andererseits der Verpflichtung, nicht behinderte Schüler gegenüber behinderten nicht ihrerseits zu benachteiligen, in zureichendem Maße einzelfallbezogen entsprochen werden. Allein eine derartige Einzelfallbetrachtung dürfte geboten sein, da es zum einen innerhalb des Erscheinungsbildes der Legasthenie - bzw. hier der isolierten Rechtschreibstörung - Unterschiede geben dürfte und zum anderen auch die Übergänge zwischen Vorliegen und Nichtvorliegen der Störung fließend sein dürften (ebenso Sen., Beschl. v. 20.9.2012 - 2 LA 234/11 -, v. 25.3.2011 - 2 ME 52/11 -, jeweils n.v.).“

Hiervon ausgehend kann die Klägerin aus Gründen der Gleichbehandlung lediglich verlangen, dass die Beurteiler die vorgezeichnete Verwaltungspraxis auch bei ihr berücksichtigen und die Legasthenie bedingten Einschränkungen mit in die pädagogische Beurteilung der erbrachten Leistung einfließen lassen. Ein konkreter Anspruch, von der Punktabzugsregel ganz oder teilweise abzusehen, besteht hingegen nicht. Dies gilt auch dann, wenn - ggf. auch mangels näherer Anleitung seitens der Schulverwaltung - die Beurteiler ersichtlich Schwierigkeiten haben, praktisch mit dem eröffneten Verantwortungsbereich umzugehen. Selbst wenn das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die praktische Wirksamkeit der aufgezeigten einzelfallbezogenen Abhilfemöglichkeit erheblich überschätzt haben sollte, führte dies – wie bereits oben ausgeführt – nicht zu weitergehenden Ansprüchen auf Notenschutz.

Die Lehrkräfte der Fächer Deutsch, Geschichte und Biologie, deren Gebrauch von der Punktabzugsregel die Klägerin bei schriftlichen Leistungen in der gymnasialen Oberstufe und der Abiturprüfung beanstandet, erhielten im Laufe des gerichtlichen Verfahrens auf Initiative der Bevollmächtigten des Beklagten zweimal Gelegenheit, ihre Beurteilungen (jedenfalls zu vorliegenden, von der Klägerin ordnungsgemäß zurückgegebenen Arbeiten) zu überdenken. Dabei hielten sie allesamt in ergänzenden Stellungnahmen an ihren ursprünglichen Leistungsbewertungen fest (vgl. Erklärungen der Geschichts-Lehrerin G., des Deutsch-Lehrers B., der Biologie-Lehrerin P. sowie allgemein der stellvertretenden Schulleiterin M., Blatt 51 ff. GA). Sie erläuterten nochmals ihre Bewertungen und wiesen unter anderem darauf hin, dass ihnen eine Unterscheidung zwischen Legasthenie bedingten und nicht Legasthenie bedingten Rechtschreibfehlern nicht möglich sei. Dabei geht das Gericht davon aus, dass den Beurteilern der ihnen eröffnete Verantwortungsbereich nebst Abweichungsmöglichkeit von der Punktabzugsregel - jedenfalls in der zweiten Runde des Überdeckungsverfahrens - hinreichend deutlich wurde. Denn sie erhielten Kenntnis von den hier im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Beschlüssen, insbesondere der Beschwerdeentscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 10. März 2015, die in den Zuleitungsvermerken der Landesschulbehörde (etwa vom 29. Oktober 2015, Blatt 53 GA) und der stellvertretenden Schulleiterin (Blatt 56 GA) noch weiter erläutert wurde. Auch die zunächst eingereichte Klageschrift der Klägerin war ihnen gleich zu Anfang bekannt gegeben worden (Blatt 49 GA). Insoweit hatten sie ausreichende Sach- und Rechtskenntnisse für ihre ergänzenden Ermessenserwägungen. Trotz hinreichender Kenntnis der Behinderung der Klägerin und der im Einzelfall bestehenden Abweichungsmöglichkeit von der Punktabzugsregel blieben sämtliche Beurteiler aufgrund der kurz dargelegten Erwägungen bei den ursprünglich erteilten Noten. Unschädlich ist dabei, wenn sie in diesem Zusammenhang unter anderem auf die grundsätzlichen oder jedenfalls jeweils individuell bestehenden Schwierigkeiten hinwiesen, zwischen Legasthenie bedingten und nicht Legasthenie bedingten Rechtschreibfehlern der Klägerin unterscheiden zu können. Diese Teilerwägung war keineswegs abschließend oder unzutreffend.

Vor diesem Hintergrund bleibt auch kein Raum für eine (ohnehin prozessual nachrangige) gerichtliche Feststellung, der Beklagte habe die Klägerin in rechtswidriger Weise bei der Bewertung der bezeichneten abiturrelevanten schriftlichen Leistungen benachteiligt.