Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 15.06.2004, Az.: 7 B 2809/04
Asyl; Asylbewerber; Frist; Fristberechnung; Gutachten; Leistung; Unterbrechung; Untertauchen
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 15.06.2004
- Aktenzeichen
- 7 B 2809/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 50997
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs 1 AsylbLG
- § 4 AsylbLG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Untertauchen von 6 Monaten und länger unterbricht die 36-Monatsfrist. Erst wenn wieder Leistungen nach § 3 AsylbLG gewährt werden, beginnt die Frist wieder neu.
Die Zeit, in der Leistungen nach § 4 AsylbLG gewährt werden, zählt bei der Berechnung der Frist nicht mit.
Zur Frage der Glaubhaftmachung mittels eines psychiatrischen Gutachtens
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Gründe
Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO mit Beschluss vom 14.05.2004 zur Entscheidung übertragen hat.
Der Antrag der Antragsteller zu 2.) bis 4.) ist bereits unzulässig.
Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 09.06.2004 erklärt, ihnen Leistungen nach § 2 AsylbLG gewähren zu wollen. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass der Antragsgegner seiner Ankündigung auch nachkommt. Für eine entsprechende Verpflichtung des Antragsgegners durch das Gericht besteht nach alledem nunmehr kein Rechtsschutzinteresse mehr. Gleichwohl haben die Antragsteller zu 2.) bis 4.) weder ihren Antrag zurückgenommen noch die Hauptsache für erledigt erklärt.
Der Antrag des Antragstellers zu 1.) ist demgegenüber zwar weiterhin zulässig. Der Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG entsprechend dem BSHG zu gewähren, ist jedoch unbegründet.
Eine einstweilige Anordnung kann das Gericht gem. § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur vorläufigen Regelung eines streitigen Rechtsverhältnisses dann erlassen, wenn glaubhaft gemacht ist, dass der geltend gemachte Anspruch gegenüber dem Antragsgegner besteht und ohne eine vorläufige Regelung wesentliche, in § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO näher beschriebene Nachteile zu entstehen drohen (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO iVm § 920 Abs. 2 ZPO).
Im vorliegenden Fall ist es dem Antragsteller zu 1.) nicht gelungen, einen Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO
Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.d.F. der Bekanntmachung vom 05.08.1997 (BGBl. I S. 2022) ist das Bundessozialhilfegesetz auf Leistungsberechtigte nur dann entsprechend anzuwenden, wenn diese über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten, frühestens beginnend am 01.06.1997, Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und wenn ihre Ausreise zum einen nicht erfolgen kann und zum anderen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen.
Die zeitlichen Voraussetzungen der genannten Vorschrift sind bereits beim Antragsteller zu 1.) nicht erfüllt.
Der Antragsteller war rund 7½ Monate vom 31.08.2001 bis 17.04.2002 untergetaucht. Der Lauf der Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG wurde dadurch unterbrochen. Der Antragsteller kann - selbst wenn die übrigen Voraussetzungen der Vorschrift bei ihm vorliegen würden - erst dann erhöhte Leistungen nach § 2 AsylbLG erhalten, wenn er beginnend ab 06.05.2002 für eine Dauer von 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten hat.
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat zu der Frage, "ob Zeiten, in denen der Ausländer vorübergehend für die Ausländerbehörde nichterreichbar war, den Zeitraum des Fristenlaufs nach § 2 AsylbLG dergestalt unterbrechen, dass die 36-Monats-Freist neu zu laufen beginnt" u.a. wie folgt entschieden:
"Wie das Verwaltungsgericht nicht verkannt hat, ist eine Unterbrechung und ein erneutes Anlaufen der Frist nicht ohne Weiteres mit dem Wortlaut der Vorschrift ("insgesamt 36 Monate") zu vereinbaren, der Wortlaut spricht dafür, dass die Gesamtdauer des Leistungsbezugs maßgebend ist, wobei Unterbrechungen unschädlich sind. Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift (s. u.) ist ein anderes Ergebnis nicht zu gewinnen, da die Entstehungsgeschichte hierzu schweigt und auch die ursprüngliche Fassung ("in Fällen des § 1 Abs. 1 Nr. 3 nach Ablauf von 24 Monaten nach erstmaliger Erteilung einer Duldung...") eine Antwort auf die hier interessierende Frage nicht aufzeigt.
Die Äußerungen in der Literatur (Goldmann, Zur Leistungsprivilegierung des Asylbewerberleistungsgesetzes, ZfF. 2000, 121) und Hohm (Gemeinschaftskommentar zum Asylbewerberleistungsgesetz, Stand: Dezember 2000, Rdnr. 23 zu § 2) sind nicht aussagekräftig, da sie im Wesentlichen Rechtsbehauptungen enthalten. Entsprechendes gilt für den Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums vom 28. April 2000 (41.31 - 12235 - 8.4.2.1).
Eine Relativierung der Fristberechnung erfordern allerdings Sinn und Zweck des Asylbewerberleistungsgesetzes, zumal der Wortlaut der Vorschrift nicht in dem Sinne eindeutig ist, dass es ausgeschlossen ist, an Sinn und Zweck der Vorschrift orientierte Auslegungskriterien heranzuziehen, ohne den Wortlaut der Vorschrift zu missachten. Nachhaltige und tiefgreifende Unterbrechungen des Zeitraums führen dazu, dass nach einer solchen Unterbrechung die Fristberechnung erneut zu beginnen hat. Das gilt insbesondere, weil in solchen Fällen die "Integrationskomponente", auf die auch die Begründung zum Entwurf der Vorschrift abhebt (BT-Drs. 13/2746, S. 15) nicht mehr zum Tragen kommt, die es nach Ablauf von 36 Monaten des Leistungsbezugs in niedrigerer Höhe dem Leistungsberechtigten ermöglichen soll, sich "durch öffentliche Mittel" in die deutsche Gesellschaft zu integrieren (aaO, S. 15). Wird der 36-Monatszeitraum aber nachhaltig unterbrochen, so steht dieser Leistungsberechtigte ebenso da, wie ein Leistungsberechtigter, der die Leistungen noch nicht 36 Monate lang bezogen hat. Nachhaltige Unterbrechungen müssen sich deshalb auf einen längeren Zeitraum erstrecken, die Dauer der Unterbrechung muss im gewissen Umfang mit der 36-Monatsfrist korrespondieren, d.h. dass allenfalls eine Unterbrechung von 6 Monaten hinreicht, um die Frist neu anlaufen zu lassen. Auch sind nur Unterbrechungen bedeutsam, die es rechtfertigen, auch nach Ablauf von insgesamt 36 Monaten des Leistungsbezugs, einen Integrationsbedarf zu verneinen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sich der Ausländer längere Zeit in seinem Heimatland aufgehalten hat und deshalb die Vorbereitung der Integration in die deutsche Gesellschaft abgebrochen hat, entsprechendes gilt, wenn ein Ausländer längere Zeit "untertaucht", und er so die Wartezeit, nach deren Ablauf ihm erst wegen des Integrationsbedarfs höhere Leistungen bewilligt werden dürfen, nicht erfüllt. Danach ergibt sich zugleich, dass anderweitige Leistungsunterbrechungen - etwa Hilfe Dritter oder wegen des Bezugs von Einkommen (vgl. Hohm, aaO) - die Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht erneut anlaufen lassen."
(Beschluss vom 27.03.2001 - 12 MA 10121, zit. n. Juris¸ ebenso VG Würzburg, Urteil v. 24.10.2002 - W 3 K 02.375 -, in: GK-AsylbLG, VII zu § 2 Abs. 2 - VG-Nr.3 und GK-AsylblG, Loseblattwerk, Stand Dezember 2003, § 2 Rdnr 23).
Das Gericht folgt dieser Auffassung. Auch das Abstellen auf eine 6-Monats-Dauer der Unterbrechung ist dabei nicht willkürlich, sondern orientiert sich an bereits bestehenden gesetzlichen Regelungen, die dem Sinn und Zweck nach ähnliche Sachverhalte regeln sollen wie etwa § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG. Der Antragsteller war nach alledem "längere Zeit" im Sinn des o.g. Beschlusses untergetaucht. Er hatte sich für über sieben Monate dem Zugriff der Ausländerbehörde entzogen. Durch diesen langen Zeitraum hat er die Vorbereitung seiner Integration in die deutsche Gesellschaft abgebrochen.
In der Zeit vom 18.04.2002 bis 05.05.2002 hat der Antragsteller dann wegen eines stationären Krankenhausaufenthaltes Leistungen nach § 4 AsylbLG erhalten. Die Zeit, in der er Leistungen nach § 4 AsylbLG erhalten hat, bleibt bei der Berechnung der Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG unberücksichtigt, weil es sich eben nicht um Leistungen nach § 3 des Gesetzes gehandelt hat (vgl. dazu auch GK-AsylbLG, Loseblattwerk, Stand Dezember 2003, § 2 Rdnr. 19).
Die 36-Monats-Frist beginnend ab 06.05.2002 ist nach alledem bei dem Antragsteller zu 1.) noch nicht abgelaufen.
Lediglich der Vollständigkeit halber weist das Gericht darauf hin, dass darüber hinaus Zweifel bestehen, ob der Antragsteller mit dem Vortrag einer psychischen Erkrankung bereits hinreichend glaubhaft gemacht hat, dass er nicht freiwillig ausreisen kann und/oder diese Erkrankung seiner Abschiebung entgegensteht.
Abgesehen davon, dass in der Türkei auch die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen möglich ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 09.10.2002 zur Türkei) und eine Reiseunfähigkeit des Antragstellers zum heutigen Zeitpunkt nicht erkennbar ist (vorgetragen wurde dazu jedenfalls nichts), bestehen Zweifel, ob der Antragsteller seine psychiatrische Erkrankung überhaupt schon hinreichend glaubhaft gemacht hat.
Im Gegensatz zu körperlichen Erkrankungen sind psychiatrische Krankheiten oft nur schwer exakt nachzuweisen. Der Arzt ist bei seiner Diagnose in vielen Fällen darauf angewiesen, was der Patient erzählt und ob er dies glaubt. Leider erfreut sich das Vorschützen einer psychischen Erkrankung aufgrund der schwierigen naturwissenschaftlichen Nachweislage oder zusätzlich gar die Drohung mit einem Selbstmord dann auch einer gewissen Beliebtheit, um sich damit einen weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik zu verschaffen.
Es sind daher kritische Anforderungen an entsprechende ärztliche Gutachten und Atteste zu stellen. Grundvoraussetzung für die Brauchbarkeit einer ärztlichen oder psychologischen Begutachtung ist neben der fachlichen Kompetenz des Arztes bzw. Psychologen, ein detailliertes Gutachten in dem anhand der Kriterien des ICD-10 nachvollziehbare Aussagen über Ursachen und Wirkungen der Erkrankung sowie diagnostische Feststellungen zum weiteren Verlauf der Behandlung enthält. Dabei muss das Gutachten sowohl im methodischen Vorgehen als auch in der Darstellung transparent und nachvollziehbar sein. Mitentscheidend für die Brauchbarkeit eines Gutachtens mit der Diagnose eines psychischen Krankheitsbildes ist hierbei, dass bei Interpretationen und Schlussfolgerungen aus den erhobenen Informationen angegeben wird, auf welche Befundtatsachen sich diese stützen. Wesentlicher Bestandteil der Begutachtung ist dann die inhaltliche Analyse der vom Facharzt selbst erhobenen Aussage in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen. Im Rahmen einer Konstanzanalyse muss vergleichen werden, welche Aussagen ein Patient zu verschiedenen Zeitpunkten zu demselben Sachverhalt gemacht hat (vgl VG Sigmaringen, Urt. v. 8.10.2003 - A 7 K 12635/02 - Asylmagazin 1-2, 2004, S. 38; VG Stade, Beschluss vom 23.02.2004 - 2 B 163/04 -).
Aus den vorliegenden Verwaltungsvorgängen ist nur ersichtlich, dass der Antragsteller zu 1.) einen Selbstmord-Versuch begangen hat. Es lässt sich ohne weitere Angaben dazu aber nicht nachvollziehen, ob dieser Versuch als ernsthaft einzustufen ist oder ob er nur dem Zweck diente, eine Abschiebung zu verhindern. Im Übrigen heißt es im Schreiben des Landeskrankenhauses Hildesheim vom 03.05.2002 schon, dass sich der Antragsteller von den Selbstmordabsichten distanzieren konnte.
Das Landeskrankenhaus diagnostizierte in diesem Schreiben beim Antragstelle eine "posttraumatische Belastungsstörung", ohne dies allerdings näher zu begründen.
Aus dem Verfahren 1 A 1504/02 ist dem Gericht allerdings das Gutachten des Dr. V. G. vom 14.11.2003 bekannt. Es fällt bei diesem Gutachten jedoch auf, dass der Arzt die vom Antragsteller vorgetragenen Ereignisse in der Türkei als wahr und zutreffend annimmt und daraus seine Schlussfolgerungen zieht.
Ob der Antragsteller aber tatsächlich das von ihm Vorgetragene in der Türkei auch so erlebt hat ist sehr zweifelhaft. Immerhin kam das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in seinem Bescheid vom 21.10.1997 zu dem Schluss, dass seine Angaben zu den Asylgründen "flach, vage und unsubstantiiert" seien und sie "in weiten Teilen nicht der Wahrheit" entsprechen würden. Auch vor dem Verwaltungsgericht hatte der Antragsteller dann mit seiner Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter keinen Erfolg. Mit Urteil vom 12.01.2000 - 11 A 6405/97 - wurde vielmehr die Entscheidung des Bundesamtes bestätigt. Die vom Antragsteller angestrengten Asylfolgeverfahren führten ebenfalls nicht zu einem Bleiberecht des Antragstellers in Deutschland.
Es kann nach alledem nicht angenommen werden, dass der Antragsteller die dem Arzt geschilderten Vorfälle in der Türkei tatsächlich so erlebt hat. Darauf basiert jedoch gerade das Gutachten des Arztes. Mithin hat der Antragsteller seine psychiatrische Erkrankung nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Andere Gründe, die einer freiwilligen Ausreise oder einer Abschiebung entstehen, sind nicht vorgetragen und nicht erkennbar. Abschiebungshindernisse nach §§ 51, 53 AuslG wurden bei ihm bereits mehrfach rechtskräftig verneint.
Zur weiteren Aufklärung hinsichtlich der gesundheitlichen Gründe wäre die Einholung eines weiteren Gutachtens eines anderen Arztes, der den Kläger bislang nicht behandelt und deshalb mit ihm auch nicht durch einen Behandlungsvertrag verbunden ist, einzuholen. Aber abgesehen davon, dass in Eilverfahren grundsätzlich keine Beweisaufnahme in Betracht kommt, bedarf es hier jedoch schon deshalb keine weiteren Aufklärung hinsichtlich der vorgetragenen Erkrankung des Antragstellers, weil - wie oben ausgeführt - der Antrag bereits aus einem anderen Grund keinen Erfolg haben kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.