Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 03.08.2012, Az.: L 11 AS 39/12 B ER
Anspruch eines rumänischen Staatsangehörigen auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 03.08.2012
- Aktenzeichen
- L 11 AS 39/12 B ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 23437
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2012:0803.L11AS39.12B.ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 22.12.2011 - AZ: S 43 AS 4919/11 ER
Rechtsgrundlagen
- AEUV Art. 18
- AEUV Art. 45
- AEUV Art. 49
- Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG
- Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 4
- Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 70
- (2004) § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU
- (2004) § 5 FreizügG/EU
- § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Bei Vorliegen einer Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU sind der Leistungsträger nach dem SGB II und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht an die Angabe in der Bescheinigung gebunden, woraus sich das Aufenthaltsrecht ergeben soll.
- 2.
Eine selbständige Erwerbstätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU liegt nicht vor, wenn es sich um eine Tätigkeit handelt, deren Umfang sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt.
- 3.
Es ist davon auszugehen, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr 2 SGB II für Arbeitsuchende rumänischer Staatsangehörigkeit europarechtskonform ist. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 22. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Zwischen den Beteiligten ist im Streit, ob die Antragsteller einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) haben.
Der 1988 geborene Antragsteller zu 1. und die 1993 geborene Antragstellerin zu 2. sind rumänische Staatsangehörige. Sie haben zwei gemeinsame Kinder, die 2010 geborene Antragstellerin zu 3. und einen am I. geborenen Sohn, die ebenfalls die rumänische Staatsangehörigkeit besitzen. Die Antragsteller reisten nach ihren Angaben im Dezember 2010 nach Deutschland ein und sind seit dem 28. Dezember 2010 in J. gemeldet, zunächst unter der Anschrift K. Straße 89 und seit dem 1. Juli 2011 unter der Anschrift L. 5. Der Antragsteller zu 1. meldete am 18. Januar 2011 als Gewerbe einen Hausmeisterservice an. Die Landeshauptstadt J. stellte ihm am 17. Mai 2011 eine Bescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) aus, wonach "am heutigen Tag" (gemeint: 17. Mai 2011) wegen der Glaubhaftmachung einer selbständigen Tätigkeit ein Aufenthaltsrecht bestehe. Als nahen Familienangehörigen eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers wurden für die Antragstellerinnen zu 2. und 3. am 19. Mai 2011 Freizügigkeitsbescheinigungen ausgestellt. Der Antragsteller bezieht für seine beiden Kinder Kindergeld in Höhe von jeweils 184 EUR monatlich und für den am 30. Dezember 2011 geborenen Sohn Elterngeld in Höhe von 375 EUR monatlich.
Am 15. Juni 2011 stellten die Antragsteller beim Antragsgegner einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Zu seiner selbständigen Tätigkeit gab der Antragsteller zu 1. an, dass er hieraus mangels Aufträgen bislang kein Einkommen erzielt habe. Die voraussichtlichen Betriebseinnahmen beliefen sich in den Monaten Juli bis November 2011 auf insgesamt 600 EUR und die voraussichtlichen Betriebsausgaben auf 250 EUR. Auf die schriftliche Aufforderung des Antragsgegners vom 25. Juli 2011, nähere Angaben über seine selbständige Tätigkeit, insbesondere Einzelheiten über die verfolgte Geschäftsidee sowie seine schulische und berufliche Ausbildung, zu machen, legte der Antragsteller zu 1. fünf Quittungen über die Zahlung von 50 EUR (Quittung vom 8. August 2011: Kellerreinigung), 40 EUR (Quittung vom 15. August 2011: Treppenhausreinigung), 45 EUR (Quittung vom 18. August 2011: Rasenmähen), 60 EUR (Quittung vom 23. August 2011: Kellerstreichen) sowie 20 EUR (Quittung vom 25. August 2011: Treppenhausreinigung) vor.
Mit Bescheid vom 5. September 2011 lehnte der Antragsgegner den Leistungsantrag mit der Begründung ab, dass ein Anspruch nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ausgeschlossen sei, da sich der Antragsteller zu 1. allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. Auf die Aufforderung vom 25. Juli 2011 habe er nur mit der Vorlage von Quittungen reagiert. Betriebsausgaben seien überhaupt nicht und Betriebseinnahmen für die Zeit vor August 2011 nicht nachgewiesen. Ingesamt erscheine es nicht plausibel, dass der Antragsteller zu 1. eine selbständige Tätigkeit ausübe.
Im Widerspruchsverfahren wandte sich der Antragsteller zu 1. gegen die Annahme, er übe keine selbständige Tätigkeit aus. Dass er noch nicht gut deutsch spreche, stehe dem nicht entgegen, da es in J. viele Geschäftsleute mit Migrationshintergrund gebe. Außerdem spreche er neben Rumänisch auch fließend Spanisch, was den Kreis potentieller Kunden erweitere. Da er die Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen könne, sei er nicht auf einen eigenen PKW angewiesen. Aus der Höhe der bisherigen Einkünfte könne nicht geschlossen werden, dass er keine selbständige Tätigkeit ausübe. Das Finanzamt scheine keinen Zweifel an der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit gehabt zu haben, da es eine Steuernummer erteilt habe. Nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung sei erst nach rund drei Jahren zu überprüfen, ob eine selbständige Tätigkeit ernsthaft betrieben werde. Ausschlaggebend sei in jedem Fall die Gewinnerzielungsabsicht und nicht der tatsächlich erzielte Gewinn. Er legte zwei Quittungen über 290 EUR (Quittung vom 28. September 2011: Entrümpelung und Malerarbeiten) und 300 EUR (Quittung vom 28. Oktober 2011: Tresenbau und Malerarbeiten) vor.
Am 1. Dezember 2011 stellten die Antragsteller erneut einen Leistungsantrag, über den der Antragsgegner noch nicht entschieden hat.
Ebenfalls am 1. Dezember 2011 haben die Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Hannover den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung haben sie darauf verwiesen, dass der Antragsteller zu 1. eine europarechtlich geschützte selbständige Tätigkeit ausübe. Er bemühe sich nachhaltig und ernsthaft um Aufträge, was durch die eingereichten Quittungen belegt sei. Unerheblich sei hingegen, ob die Tätigkeit einen bestimmten Gewinn abwerfe. In jedem Fall bestehe ein Leistungsanspruch als Arbeitsuchender, weil der im SGB II enthaltene Leistungsausschluss nicht europarechtskonform sein dürfte. Es liege ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 4 Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr 883/2004) vor. Der Antragsteller zu 1. hat weitere Quittungen aus der Zeit vom 20. Januar 2011 bis zum 24. Juni 2011 vorgelegt. Auf Anfrage des SG hat er Name und Anschrift von zwei Auftraggebern mitgeteilt. Zu den weiteren Aufträgen könne er keine Angaben mehr machen, weil er sich an die Adressen nicht erinnern könne (Schriftsatz vom 19. Dezember 2011).
Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es bestehe kein Anordnungsanspruch, weil ein Leistungsanspruch nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ausgeschlossen sei. Eine selbständige Tätigkeit des Antragstellers zu 1. sei nicht glaubhaft gemacht worden. Sein Vortrag, dass er sich nur an die Adressen von zwei Auftraggebern erinnern könne, werde als Schutzbehauptung gewertet. Die vorgelegten Quittungen reichten zur Glaubhaftmachung nicht aus. Europarechtliche Vorschriften ständen dem Leistungsausschluss nicht entgegen. Auch bestehe keine Bindung an die erteilten Freizügigkeitsbescheinigungen (Beschluss vom 22. Dezember 2011).
Gegen den am 24. Dezember 2012 zugestellten Beschluss vom 22. Dezember 2011 haben die Antragsteller am 10. Januar 2012 Beschwerde eingelegt. Ergänzend zu ihrem bisherigen Vorbringen führen sie aus, dass sämtliche Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II erfüllt seien. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II greife nicht ein, weil schon wegen der vorliegenden Freizügigkeitsbescheinigung von einer selbständigen Tätigkeit des Antragstellers zu 1. auszugehen sei. Im Übrigen sei noch nicht geklärt, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II europarechtskonform sei. Die sich in diesem Zusammenhang stellenden komplizierten Rechtsfragen rechtfertigten im Eilverfahren die Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Leistungsgewährung.
Der Antragsgegner ist weiterhin der Auffassung, dass der Antragsteller zu 1. keine selbständige Tätigkeit ausübt und der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II eingreift. Selbst wenn die Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit dem Europarecht noch nicht abschließend geklärt sei, sei im Eilverfahren von ihrer Wirksamkeit auszugehen.
Der Antragsgegner hat mit Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 2012 den Widerspruch gegen den Bescheid vom 5. September 2011 zurückgewiesen. Hiergegen haben die Antragsteller am 10. Januar 2012 Klage beim SG Hannover erhoben, über die bislang nicht entschieden ist.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.
Nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht (Anordnungsanspruch) und die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist, insbesondere auch ein Eilbedürfnis vorliegt (Anordnungsgrund). Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs 2 Zivilprozessordnung i.V.m. § 86b Abs 2 Satz 4 SGG).
Vorliegend haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
Es bestehen bereits erhebliche Zweifel daran, dass sie die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II erfüllen. Insbesondere erscheint die Hilfebedürftigkeit (§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3, § 9 SGB II) der Antragsteller fraglich. Nach ihrer Einreise nach Deutschland im Dezember 2010 haben sie erst im Juni 2011 Leistungen nach dem SGB II beantragt. Ihren Lebensunterhalt konnten sie bis dahin offensichtlich ohne Inanspruchnahme von SGB II-Leistungen sichern, wobei unklar geblieben ist, auf welche Weise dies erfolgt ist. Vor diesem Hintergrund ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar, dass sie im Juni 2011 oder zu einem späteren Zeitpunkt hilfebedürftig geworden sind.
Dem braucht nicht weiter nachgegangen zu werden. Denn bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist jedenfalls davon auszugehen, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II eingreift und einem Anspruch sowohl des Antragstellers zu 1. als auch der Antragstellerinnen zu 2. und 3. entgegensteht.
Nach dieser Vorschrift sind von der Leistungsberechtigung Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen ausgenommen. Der Leistungsausschluss greift demnach nicht ein, wenn neben dem aus dem Zweck der Arbeitsuche abgeleiteten Aufenthaltsrecht ein weiteres Aufenthaltsrecht besteht (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10, SozR 4-4200 § 7 Nr 21, Rn 17). Da die Antragsteller Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union sind, sind sie nach Maßgabe des FreizügG/EU zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt. Die generell in Betracht kommenden Aufenthaltsrechte sind in § 2 Abs 2 FreizügG/EU aufgeführt. Es ist davon auszugehen, dass sich ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 1. aus dem Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs 2 Nr 1 Var 2 FreizügG/EU) ergibt. Er hat Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II beantragt. Erwerbsfähige Personen, die Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen, müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen und aktiv an allen Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit mitwirken (§ 2 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB II). Hierzu gehören insbesondere Bemühungen um die Aufnahme einer Beschäftigung. Daher kann sich der Antragsteller zu 1. nicht darauf berufen, er strebe überhaupt nicht die Aufnahme einer Arbeit an.
Es liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der Antragsteller zu 1. auf ein weiteres der in § 2 Abs 2 FreizügG/EU aufgeführten Aufenthaltsrechte stützen kann. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller zu 1. niedergelassener selbständiger Erwerbstätiger i.S.d. § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU ist.
Bei der Prüfung, ob ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU besteht, ist darauf abzustellen, ob eine unter die europarechtliche Niederlassungsfreiheit (Art 49 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV -) fallende Tätigkeit ausgeübt wird. Das FreizügG/EU dient insgesamt der Umsetzung der europarechtlicher Vorgaben (Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 - Freizügigkeitsrichtlinie) und nimmt in § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU erkennbar Bezug auf die europarechtliche Niederlassungsfreiheit. Auf die Niederlassungsfreiheit kann sich berufen, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Tätigkeit ausübt (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH -, Urteil vom 25. Juli 1991 - C-221/89, Rn 20). Der Begriff der Niederlassung ist nach der Rechtsprechung des EuGH weit zu verstehen. Maßgeblich ist die Möglichkeit für einen Unionsangehörigen, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen (EuGH, Urteil vom 11. März 2010 - C-384/08, Rn 36). Sofern es sich um eine Tätigkeit handelt, deren Umfang sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt, wird das Vorliegen einer Niederlassung verneint (Oberverwaltungsgericht - OVG - Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. November 1995 - 18 B 815/94, NVwZ-RR 1996, 708; vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 21. Juni 2010 - 1 B 137/10, zitiert nach Juris).
Vorliegend hat der Antragsteller zu 1. nicht glaubhaft gemacht, dass er eine selbständige Erwerbstätigkeit i.S.d. § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU ausübt. Bereits im Verwaltungsverfahren hat er nur unzureichend bei der Aufklärung des Sachverhalts mitgewirkt. So hat er die von ihm geforderten näheren Angaben über seine selbständige Tätigkeit nicht oder allenfalls unvollständig gemacht. Belege über Betriebsausgaben hat er nicht vorgelegt. Zutreffend hat der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 2012 darauf hingewiesen, dass Belege über die beim Finanzamt eingereichten Unterlagen oder die von dort erlassenen Bescheide ebenfalls nicht vorgelegt worden sind. Diese Mängel sind auch im gerichtlichen Verfahren nicht behoben worden. Vielmehr hat sich der Antragsteller zu 1. im Wesentlichen auf die Vorlage von Quittungen beschränkt, die aber nicht den Schluss rechtfertigen, dass er eine dauerhafte selbständige Tätigkeit ausübt. Die den Zeitraum von Januar bis August 2011 betreffenden Quittungen enthalten keine überprüfbaren Angaben, da die Anschriften der Auftraggeber nicht aufgeführt sind. Auf Anfrage des SG hat sich der Antragsteller zu 1. auch nicht in der Lage gesehen, für diesen Zeitraum nähere Angaben über seine Auftraggeber zu machen. Dass er im erstinstanzlichen Verfahren Quittungen auch aus den Monaten Januar bis einschließlich Juni 2011 vorgelegt hat (Blatt 33 bis 60 der Gerichtsakte), steht zudem im Widerspruch zu seinem früheren Vorbringen, wonach er bis ca. Juni 2011 überhaupt keine Aufträge gehabt haben soll (Schreiben an den Antragsgegner vom 20. Juni 2011). Dieser widersprüchliche Vortrag begründet erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Antragstellers zu 1.
Für die Zeit von September 2011 bis Januar 2012 hat der Antragsteller zu 1. zwar Quittungen vorgelegt, die konkrete Angaben über die jeweiligen Auftraggeber enthalten. Danach soll er in dieser Zeit monatliche Einkünfte in Höhe von 290 EUR bis 350 EUR erzielt haben. Dies reicht für die Annahme einer dauerhaften selbständigen Tätigkeit allerdings noch nicht aus. Schließlich ist der Antragsteller zu 1. seit Januar 2012, soweit ersichtlich, nicht mehr erwerbstätig gewesen. So hat er lediglich darauf verwiesen, er habe sich seither erfolglos um neue Aufträge bemüht (Schriftsatz vom 26. März 2012). Im Hinblick auf den im Hauptsacheverfahren streitbefangenen Zeitraum von mittlerweile mehr als einem Jahr (nämlich ab Juni 2011) stellt sich eine selbständige Tätigkeit, für die für lediglich vier Monate Bruttoeinnahmen von monatlich 290 EUR bis maximal 350 EUR mittels Quittungen belegt worden sind, als völlig untergeordnet und unwesentlich dar. Eine stabile und kontinuierliche Teilnahme am Wirtschaftsleben kann hierin nicht gesehen werden.
Die Freizügigkeitsbescheinigung vom 17. Mai 2011 führt bei summarischer Prüfung nicht dazu, dass mit Bindungswirkung für den Antragsgegner und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit festgestellt wäre, dass der Antragsteller zu 1. auch in der Zeit ab 15. Juni 2011 (Antragstellung) eine selbständige Erwerbstätigkeit i.S.d. § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU ausübt. Ungeachtet des grundsätzlich deklaratorischen Charakters der Freizügigkeitsbescheinigung ist zwar von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs 5 FreizügG/EU festzustellen und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht einzuziehen (BSG, aaO., Rn 14). Diese Bindung erstreckt sich aber nicht auf den Rechtsgrund für das Aufenthaltsrecht. Der Zweck der Freizügigkeitsbescheinigung besteht darin, dass demjenigen, der sie besitzt, nicht entgegengehalten werden kann, dass er nicht freizügigkeitsberechtigt sei. Insoweit ist aber die Begründung für das Freizügigkeitsrecht unerheblich (Geyer in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht 2008, § 5 FreizügG/EU Rn 2). Eine andere Beurteilung folgt auch nicht aus der konkreten Fassung der Bescheinigung vom 17. Mai 2011, wonach der Antragsteller zu 1. die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit glaubhaft gemacht hat. Dies bezieht sich nämlich ausdrücklich nur auf den Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung und damit auf einen vor der Beantragung von SGB II-Leistungen liegenden Zeitpunkt (vgl. § 37 SGB II).
Dem Antragsteller zu 1. steht auch kein Aufenthaltsrecht als nicht niedergelassener Erbringer von Dienstleistungen i.S.d. § 2 Abs 2 Nr 3 FreizügG/EU zu. Die Vorschrift erfasst nur denjenigen, der sich lediglich vorübergehend in Deutschland aufhält und hier keinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Dienelt in: Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, § 2 FreizügG/EU Rn 65, 73). Vorliegend machen die Antragsteller aber geltend, dass sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 30 Abs 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch) in Deutschland haben. Anderenfalls wäre ein Leistungsanspruch auch bereits nach § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II ausgeschlossen.
Dass die Voraussetzungen für ein sonstiges Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 FreizügG/EU erfüllt sind, ist weder erkennbar noch von den Antragstellern geltend gemacht worden.
Der Senat hält in der vorliegenden Konstellation § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II auch unter Berücksichtigung europarechtlicher Vorgaben für anwendbar.
Der Leistungsausschluss für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, ist zum 1. April 2006 in das SGB II aufgenommen worden. Mit der Regelung hat der deutsche Gesetzgeber von der nach Art 24 Abs 2 i.V.m. Art 14 Abs 4 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (RL 2004/38/EG) eröffneten Ermächtigung Gebrauch gemacht (vgl. Bundestag-Drucksache 16/688, Seite 13). Nach Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder während des längeren Zeitraums nach Art 14 Abs 4 Buchstabe b RL 2004/38/EG - also während der Arbeitsuche - einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Regelung mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 39 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft - EGV -; nunmehr: Art 45 AEUV) und dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art 12 EGV; nunmehr: 18 AEUV) vereinbar, wobei finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht als Sozialhilfe i.S.d. Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG qualifiziert werden können (EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009 - C-22/08, C-23/08, Rn 45, 46).
Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind bei summarischer Prüfung als Sozialhilfe i.S.d. Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG einzustufen (ebenso: Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Mai 2012 - L 3 AS 1477/11 - zitiert nach Juris; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Februar 2010 - L 15 AS 30/10 B ER - zitiert nach Juris; Loose in: GK-SGB II § 7 Rn 32.19). Hierfür spricht die Unterscheidung innerhalb des SGB II zwischen den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit (Kapitel 3 Abschnitt 1, §§ 14 bis 18e SGB II) und den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Kapitel 3 Abschnitt 2, §§ 19 bis 35 SGB II). Während die erstgenannten Leistungen offenkundig dem Zweck dienen, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, gilt dies nicht für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Diese Leistungen entsprechen in ihrer Aufgabe vielmehr der Sozialhilfe als Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Dies wird daran deutlich, dass sich die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II einerseits und nach dem SGB XII andererseits gegenseitig ausschließen (§ 5 Abs 2 SGB II, § 21 SGB XII).
Art 4 VO (EG) Nr 883/2004 steht der Anwendbarkeit des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II vorliegend nicht entgegen. Bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II handelt es sich um besondere beitragsunabhängige Leistungen i.S.d. Art 70 VO (EG) Nr 883/2004 (vgl. zur Vorgängervorschrift Art. 4 Abs 2a Verordnung (EWG) Nr 1408/71: BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 - B 4 AS 14/10 R, SozR 4-4200 § 7 Nr 22, Rn 20). Für diese Leistungen ist zwar die Geltung des Art 4 VO (EG) Nr 883/2004 (Gleichbehandlungsgebot) - anders als die des Art 7 VO (EG) Nr 883/2004 - nicht ausdrücklich ausgeschlossen (Art 70 Abs 3 VO (EG) Nr 883/2004). Die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen werden jedoch nur in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt (Art 70 Abs 4 Satz 1 VO (EG) Nr 883/2004). Hierin dürfte eine andere Bestimmung i.S.d. Art 4 VO (EG) Nr 883/2004 zu sehen sein. Weiter ist zu berücksichtigen, dass § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II gerade der Umsetzung von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG dient. Es spricht vieles dafür, dass diese Regelung gegenüber Art 4 VO (EG) Nr 883/2004 spezieller und daher vorrangig ist (LSG Baden-Württemberg, aaO.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. Mai 2012 - L 9 AS 347/12 B ER - zitiert nach Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juni 2012 - L 20 AS 2/12 B ER, L 20 AS 50/12 B PKH - zitiert nach Juris).
Dementsprechend besteht keine Veranlassung, § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II vorliegend nicht anzuwenden. Den in der Rechtsprechung und in der Literatur geäußerten Zweifeln an der Vereinbarkeit der Vorschrift mit europarechtlichen Vorgaben schließt sich der Senat nicht an (vgl. hierzu: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. Mai 2011 - L 6 AS 356/11 B ER; LSG Hessen, Beschluss vom 14. Juli 2011 - L 7 AS 107/11 B ER; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, § 7 Rn 141).
Somit steht der Glaubhaftmachung eines Leistungsanspruchs für den Antragsteller zu 1. § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II entgegen. Ein Leistungsanspruch der Antragstellerinnen zu 2. und 3. ist ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Dies folgt jedenfalls daraus, dass sie - wegen fehlender Leistungsberechtigung des Antragstellers zu 1. - nicht mit einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben (§ 7 Abs 2 Satz 1, Abs 3 Nr 3, 4 SGB II).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).