Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 22.03.2000, Az.: 9 U 184/99
Verjährungsbeginn eines an den Kostenträger der Opferentschädigung übergegangenen Schadensersatzanspruchs ; Kenntnis des Leistungsträgers der Opferentschädigung vom Schadensfall ; Anforderungen an die Aussagetüchtigkeit eines Zeugen im Zivilrechtsstreit
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 22.03.2000
- Aktenzeichen
- 9 U 184/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 19898
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2000:0322.9U184.99.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover 19 O 151/98 vom 29. 07. 1999
Rechtsgrundlagen
- § 823 BGB
- § 852 BGB
- § 5 OEG
- § 81a BVG
- Art. 103 GG
Fundstelle
- OLGReport Gerichtsort 2000, 195-197
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Der Beginn der Verjährung eines nach § 5 OEG i. V. m. § 81a BVGübergegangenen Ersatzanspruchs bestimmt sich nach dem Zeitpunkt, in dem der Kostenträger der Opferentschädigung Kenntnis vom Schadensfall erhalten hat.
- 2.
Die Anforderungen an die Aussagetüchtigkeit eines Zeugen sind im Zivilrechtsstreit anders zu bemessen als dies in einem Strafverfahren der Fall ist.
Tenor:
Auf die Berufung des klagenden Landes wird das am 29. Juli 1999 verkündete Urteil der 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover mitsamt dem ihm zugrunde liegenden Verfahren aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.
Die durch das erstinstanzliche Urteil ausgelösten Kosten und die Gerichtskosten für das Berufungsverfahren werden nicht erhoben.
Wert der Beschwer: 30.465 DM.
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.
Gründe
Die Berufung des klagenden Landes hat zunächst insoweit Erfolg, als die angefochtene Entscheidung aufzuheben und der Rechtsstreit an das Landgericht zurückzuweisen ist. Denn das Verfahren des ersten Rechtszug leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, § 539 ZPO, und eine eigene Sachentscheidung durch den Senat ist nicht sachdienlich, § 540 ZPO, weil der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif und eine - möglicherweise gestufte - Beweisaufnahme erforderlich ist.
1.
Der Rechtsstreit ist nicht deshalb zur Entscheidung reif, weil etwa Frau ####### gegen den Beklagten aus unerlaubter Handlung (§§ 823 ff BGB) zustehenden Schadensersatzansprüchen, die gemäß § 5 OEG i. V. m. § 81 a BVG insoweit auf das klagende Land als Leistungsträger der Opferentschädigung übergegangen wären, die Einrede der Verjährung entgegengehalten werden kann.
a)
Zwar verjähren Ansprüche auf Ersatz des aus einer unerlaubten Handlung entstandenen Schadens bereits in drei Jahren von dem Zeitpunkt an, in welchem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt, § 852 Abs. 1 BGB. Die auf den rund 13 Jahre langen Zeitraum zwischen (behauptetem) Tatende und OEG-Regress beim Beklagten gestützte Verjährungseinrede greift aber dennoch nicht durch. Dies gilt schon deshalb, weil sich der Beginn der Verjährung des übergegangenen Ersatzanspruches nach dem Zeitpunkt bestimmt, in dem das klagende Land als Kostenträger der Opferentschädigung Kenntnis vom Schadensfall erhalten hat. Dies war aber nicht vor dem 4. Mai 1995 (Eingang des Antrages auf Versorgungsleistungen) der Fall. Die am 27. April 1998 bei Gericht eingegangene und dem Beklagten alsbald zugestellte Klage, §§ 209 Abs. 1 BGB, 270 Abs. 3 ZPO, ist daher noch in unverjährter Zeit erhoben worden.
b)
Nach geltendem Recht werden gegen Drittschädiger gerichtete Ersatzansprüche von Personen, denen gesetzliche Versicherungs-, Versorgungs- und andere Leistungsträger wegen des erlittenen Schadens Leistungen zu erbringen haben, regelmäßig in diesem Umfang auf die Leistungsträger übergeleitet (vgl. z. B. § 116 Abs. 1 SGB X und § 81 a BVG). In ständiger Rechtsprechung (BGHZ 48, 181 ff [BGH 10.07.1967 - III ZR 78/66]; BGH NJW 1984, 607 ff; BGH VersR 1992, 498; OLG Koblenz, NJW 1999, 224 f [OLG Koblenz 15.07.1998 - 3 U 909/98]) ist hierzu der Grundsatz entwickelt worden, dass die Ersatzansprüche des Leistungsberechtigten gegen den Drittschädiger dem Grunde nach bereits im Augenblick des schadensstiftenden Ereignisses übergehen. Damit sollen die Leistungsträger vor Verfügungen des Geschädigten über den Ersatzanspruch geschützt werden, die die Regressansprüche gefährden könnten. Im Interesse eines möglichst weit gehenden Schutzes der Leistungsträger wird für den Forderungsübergang im Zeitpunkt des schadensauslösenden Verhaltens selbst eine weit entfernte Möglichkeit des Eintritts von Schadensfolgen für ausreichend erachtet (BGH NJW 1967, 2199), selbst wenn diese Folgen erst Jahre später eintreten (BGH NJW 1983, 1912). Nur dann, wenn eine Schadensfolge bzw. Leistungspflicht zunächst geradezu ausgeschlossen erscheint oder eine bestimmte Leistungsberechtigung erst durch eine nachträgliche Gesetzesänderung begründet wird, erfolgt der Forderungsübergang auf den Leistungsträger nachträglich, nämlich mit Eintritt der zunächst nicht zu erwartenden Schadensfolge bzw. mit Inkrafttreten der Gesetzesänderung. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier aber nicht vor, weil die Ausbildung einer posttraumatischen Belastungsstörung bei dem hier behaupteten jahrelangen sexuellen Missbrauch der Geschädigten bereits bei Tatbegehung wahrscheinlich war.
Da als Folge des von der Geschädigten behaupteten jahrelangen sexuellen Missbrauches gesundheitliche Spätfolgen möglich sind, steht der Zeitpunkt des Antrags auf eine OEG-Entschädigung erst im Jahr 1995 dem unmittelbaren Forderungsübergang nicht entgegen. Denn die späte Antragstellung ist kein Indiz dafür, dass vorher noch keine tatbedingten gesundheitlichen Schäden vorlagen. Diese sind nach dem festgestellten psychologischen Befund der Geschädigten (dissoziative Bewusstseinsstörung) möglicherweise vorhanden gewesen, ohne dass ihre entschädigungsrechtliche Bedeutung erkannt worden ist.
c)
Der Übergang möglicher Ersatzansprüche der Geschädigten auf das klagende Land bereits bei (behaupteter) Tatbegehung des Beklagten hat zur Folge, dass es für die Beurteilung des Verjährungsbeginns allein auf die Kenntnis des Leistungsträgers ankommt und nicht auf die Kenntnis der Geschädigten. Dies ist gerade auch für den in § 81 a BVG bestimmten Forderungsübergang entschieden (BGH NJW 1984, 607) und muss daher auch beim Anspruchsübergang gemäß § 5 OEG gelten, der auf § 81 a BVG verweist (OLG Frankfurt/Main, VersR 1987, 592; OLG Koblenz, NJW 1999, 224 f [OLG Koblenz 15.07.1998 - 3 U 909/98]; BGH NJW 1992, 1381).
2.
Da ein etwaiger Anspruch nicht verjährt ist, bedarf es der Klärung der Frage, ob ein solcher Anspruch besteht. Bei der Beantwortung der Frage hat das Landgericht einen Verfahrensfehler begangen, der zur Aufhebung und Zurückverweisung führt. Denn das Landgericht hat das Gebot des rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs. 1 GG, verletzt, indem es erhebliche Beweisanträge des klagenden Landes nicht berücksichtigt hat.
a)
Das Landgericht hat den auf Vernehmung der Geschädigten ####### gerichteten Beweisantritt nicht berücksichtigt, weil es eine Ungeeignetheit dieses Beweismittels angenommen hat. Dem vermag der Senat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht zu folgen. In seinem Beschluss vom 28. Februar 1992 (NJW 1993, 254 f), hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt:
'Der Richter darf auch im Zivilverfahren von der Erhebung zulässiger und rechtzeitig angetretener Beweise nur dann absehen, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder die Richtigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache bereits erwiesen . . . ist, wobei bei der Zurückweisung eines Beweismittels als ungeeignet größte Zurückhaltung geboten ist . . . Der völlige Unwert eines Beweismittels muss feststehen, um es ablehnen zu dürfen. Nur ausnahmsweise kann dies der Fall sein . . . '
Danach war es vorliegend geboten, die Zeugin ######## zu vernehmen. Denn mit den im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten, auf die sich das Landgericht bei seiner Entscheidung gestützt hat, kann der völlige Unwert des angefochtenen Beweismittels im Zivilprozess nicht begründet werden.
Der Senat verkennt dabei nicht, dass aus den vom Landgericht ausführlich dargelegten Gründen, bei denen sich das Landgericht von den Feststellungen der Sachverständigen Dipl. - Psychologin Prof. Dr. ##################### und Dipl. -Psychologin ############## sowie Dr. ############## hat leiten lassen, gewichtige Argumente dafür sprechen, dass das klagende Land mit der Aussage der Zeugin ####### den ihm obliegenden Beweis für die dem Beklagten angelasteten Verfehlungen in der Tat nicht wird führen können. Gleichwohl kann von einer völligen Unergiebigkeit einer derartigen Aussage auch unter Berücksichtigung der vorgenannten Gutachten derzeit noch nicht ausgegangen werden.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass in dem vorliegenden Zivilrechtsstreit die Anforderungen, die an die Aussagetüchtigkeit zu stellen sind, anders zu bemessen sind als dies in einem Strafverfahren der Fall ist. Daher mag die Einstellung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens gegen den hier Beklagten auf der Grundlage der eingeholten Gutachten richtig gewesen sein; die Ungeeignetheit einer Aussage der Zeugin ####### für die Beweisführung im Zivilrozess folgt hieraus indes nicht. Während im Strafverfahren eine Verurteilung nur dann möglich ist, wenn - wegen § 264 StPO - dem Angeklagten die Begehung konkreter mit Strafe bedrohter Handlungen, also die Verwirklichung genau tatbestandlich umrissener Strafvorschriften nachgewiesen werden kann, reicht es für die Begründetheit einer auf Schadensersatz wegen unerlaubter Handlung gerichteten Zivilklage aus, dass sicher festgestellt werden kann, dass der eingeretene Schaden auf eine unerlaubte Handlung des Beklagten zurückzuführen ist. Vorliegend wäre daher die Klage des Landes erfolgreich, wenn nach dem Ergebnis einer Beweisaufnahme die sichere Feststellung getroffen werden könnte, dass die bei der Zeugin ####### festgestellten psychischen Schäden auf ein schuldhaftes Verhalten des Beklagten zurückzuführen sind, welches sich als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff i. S. d. § 1 Abs. 1 OEG qualifizieren lässt. Die Anforderungen an die zeitliche Einordnung, aber auch an die inhaltliche Konkretisierung bestimmter Handlungsabschnitte können dabei im Hinblick auf den hier einschlägigen Deliktstatbestand - zu dem nicht nur § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. bestimmten Sexualstraftaten, sondern auch § 823 Abs. 1 BGB (Verletzung insbesondere von Körper und Gesundheit) gehört - durchaus geringer sein als im Strafprozess.
Ferner ist zu beachten, dass die Sachverständigen übereinstimmend von 'schwerwiegenden traumatischen Geschehnissen' in der Kindheit und Jugend der Zeugin ####### und von einer 'posttraumatischen Belastungsstörung' nach 'Extrembelastung' ausgegangen sind. Eine Aufklärung, worin diese Störungen ihre Ursache haben können und ob eine solche Ursache ggf. aus dem außerfamiliären Bereich stammen kann, ist bisher unterblieben; kein Gutachter hat diese Möglichkeit auch nur erwähnt, geschweige denn die Traumatisierung der Zeugin auf andere Weise zu erklären versucht.
Das Landgericht wird daher die Zeugin ####### vernehmen müssen - wobei sich eine solche Vernehmung zunächst auch auf die Teilbereiche der dem Beklagten vorgeworfenen Handlungen beschränken kann, für die der Beklagte Gegenbeweis angetreten hat -, um sich einen eigenen Eindruck von der Persönlichkeit der Zeugin zu machen. Dies kann (und wird zweckmäßigerweise) im Beisein der bisher mit der Begutachtung der Zeugin beauftragten Sachverständigen geschehen, um mit deren Hilfe weitere Erkenntnisse zur Glaubwürdigkeit der Zeugin und zur Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zu gewinnen.
Weiter dürfte es geboten sein, die - vom klagenden Land bereits in erster Instanz benannte, vom Landgericht aber ebenfalls nicht gehörte - (sachverständige) Zeugin #######, die als Dipl. -Psychologin seit Oktober 1993 die Behandlung der Zeugin ####### durchgeführt hat und bei der sich die Zeugin ausweislich der Stellungnahme vom 11. Mai 1995 umfassend zu den behaupteten Missbrauchsandlungen geäußert hat, hinzuzuziehen. Denn einerseits kann diese Zeugin mögicherweise weiterführende Angaben zur Persönlichkeit der Zeugin ####### machen, andererseits könnten die Sachverständigen u. U. aufgrund ihrer Aussage zum Zustandekommen der Angaben der Zeugin ####### weitere Erkenntnisse zum realen Hintergrund der gegen den Beklagten erhobenen Vorwürfe gewinnen. Ob auch Frau #######, die - wenn auch wohl nicht als Aussagepsychologin - einschläige Fachkenntnisse besitzt, die Glaubwürdigkeit der Zeugin insgesamt bezweifelt, ist bislang nicht erkennbar; sowohl die Tatsache, dass sie das umfangreiche 'Protokoll' aufgenommen hat - anscheinend wohl auch zur Verwendung gegen den Beklagten - als auch die einleitenden Bemerkungen scheinen eher dagegen zu sprechen.
Schließlich könnte es sich zur Vorbereitung eines Beweisaufnahmetermins anbieen, den Sachverständigen die Behandlungsunterlagen der Zeugin ####### aus der Zeit vor 1993 - insbesondere die Unterlagen des Herrn Dr. ####### (Behandlung ab November 1988) - zugänglich zu machen.
Hiernach und auch wegen des Gewichts der Vorwürfe gegen den Beklagten und der Möglichkeit einer entsprechend schweren Schädigung seiner Tochter ist es verfahrensrechtlich geboten, den Versuch einer Aufklärung des Sachverhalts zu unternehmen.
Da noch nicht abzusehen ist, mit welcher Entscheidung der Rechtsstreit enden wird, ist die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens dem Landericht zu übertragen. Gerichtskosten für das Berufungsverfahren und die durch das erstinstanzliche Urteil ausgelösten Kosten sind jedoch nicht zu erheben
(§ 8 GKG).