Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 13.12.2010, Az.: 6 B 5596/10
Legasthenie; Rechtschreibfehler; Benotung; Abiturprüfung; Kursklausur; Nachteilsausgleich; gymnasiale Oberstufe
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 13.12.2010
- Aktenzeichen
- 6 B 5596/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 48014
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 9 GymOAbschlV ND
- § 23 GymOAbschlV ND
- Art 12 Abs 1 GG
- Art 3 Abs 3 S 2 GG
- § 10 GymOStV ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Auch in der Oberstufe des Gymnasiums müssen Schülerinnen und Schülern mit festgestellter Legasthenie bei der Anfertigung schriftlicher Arbeiten (Klausuren) Erleichterungen der äußeren Arbeitsbedingungen gewährt werden (wie OVG Lüneburg, Beschluss v.10.07.2008 - 2 ME 308/08 - NVwZ-RR 2009 S. 68 [OVG Niedersachsen 10.07.2008 - 2 ME 309/08]).
2. Die für die Oberstufe und die Abiturprüfung erlassenen Vorschriften über den pauschalen Punktabzug bei schwerwiegenden und gehäuften Verstößen gegen die Sprachrichtigkeit in schriftlichen Arbeiten und Prüfungsleistungen sind kein geeigneter Beurteilungsmaßstab, der eine differenzierte Benotung der Sprachkompetenz von Schülerinnen und Schülern mit festgestellter Legasthenie ersetzen könnte.
Gründe
I.
Die am x. x. 1993 geborene Antragstellerin ist Schülerin des gegenwärtigen Abiturjahrgangs (12. Jahrgang) der Antragsgegnerin, eines Gymnasiums in Hannover.
Am 5. Mai 2004 und am 21. April 2005 hatte ihr die Landeshauptstadt Hannover Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a SGB VIII in Gestalt einer Legasthenietherapie im Umfang von jeweils 40 Therapieeinheiten bewilligt. Der Hilfsmaßnahme lagen kinder- und jugendpsychiatrischen Stellungnahmen des Facharztes H. zugrunde, der bei der Schülerin eine umschriebene Lese- und Rechtschreibstörung nach F 81.0 ICD-10 der Klassifikation von Krankheiten durch die WHO festgestellt und das Vorhandensein oder Erwarten einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bescheinigt hatte. Die Trägerin der Kinder- und Jugendhilfe verlängerte die Maßnahme am 3. Oktober 2006 um weitere 20 Therapieeinheiten, nachdem der damalige Klassenlehrer der Antragstellerin die Therapie als schulergänzende Leistung für erforderlich gehalten hatte.
Im Verlauf des vergangenen und dieses Kurshalbjahres sind mehrere Klausuren der Antragstellerin wegen der Häufung von Rechtsschreibfehlern in den Fächern Politik und Deutsch ausdrücklich mit einer um ein bis zwei Punkte niedrigeren Punktzahl bewertet worden. Die Antragstellern beantragte aus diesem Anlass mit Schreiben vom 30. September 2010 bei der Antragsgegnerin, ihr mit Rücksicht auf die fortbestehende Legasthenie einen Nachteilsausgleich in der Gestalt eines Absehens von dem Punktabzug bei den Klausurnoten zu gewähren, möglicherweise auch durch eine angemessene Verlängerung der Bearbeitungszeit.
Mit Schreiben vom 7. Oktober 2010 lehnte die Antragsgegnerin die Einräumung eines Nachteilsausgleichs ab, weil nach dem Erlass des Niedersächsischen Kultusministeriums zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen (LRS-Erlass) eine Förderung von Schülerinnen und Schülern nur im Sekundarbereich I stattfinde.
Nachdem die Antragstellerin die von ihr im Antrag angekündigte Bescheinigung des Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie H. vom 8. November 2010 über das Fortbestehen der Lese-/Rechtschreibstörung vorgelegt hatte, teilte ihr der Oberstufenkoordinator der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 16. November 2010 mit, dass sie für die Abiturprüfung Erleichterungen bei den äußeren Prüfungsbedingungen in der Gestalt einer Verlängerung der jeweiligen Bearbeitungszeit erhalten werde. Zwischenzeitlich waren eine Klausur der Antragstellerin im Kurs Werte und Normen um einen Punkt und eine weitere Klausur im Kurs Politik um zwei Punkte wegen gehäufter Rechtschreibfehler schlechter bewertet worden.
Die Antragstellerin hat am 19. November 2010 Klage im Hauptsacheverfahren 6 A 5401/10 erhoben, mit der sie einen Nachteilsausgleich mit dem Inhalt einer Verlängerung der Bearbeitungszeit schriftlicher Arbeiten und einen Absehen von dem Punktabzug für schwerwiegende und gehäufte Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit in der deutschen Sprache beansprucht. Sie hat zur Klagebegründung vorgetragen, dass die Antragsgegnerin selbst nach Klageerhebung noch die Bewertung ihrer am 23. November 2010 geschriebenen Klausur im Fach Deutsch wegen formal-sprachlicher Mängel in der Gesamtnote von 4 Punkten auf 2 Punkte herabgesetzt hat, was im Ergebnis zur Note „mangelhaft“ geführt habe. Bei der bei ihr bestehenden Legasthenie handele es sich aber um eine Behinderung im Sinne von Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz, die vor allem die technische Fähigkeit des Lesens und des Schreibens beeinträchtige. Auf diese Behinderung müsse im Schulrecht Rücksicht genommen werden. Dass es hierfür mit Ausnahme des Erleichterungen für Prüflinge mit Behinderungen vorsehenden § 23 AVO-GOFAK keine konkreten Vorschriften und Regelungen für diesen Sachverhalt gebe, ändere nichts daran, dass sie nicht benachteiligt werden dürfe, indem die Schule sie undifferenziert als nichtbehinderte Schülerin behandele. Vielmehr habe sie wegen ihrer Behinderung Anspruch auf Gewährung eines Nachteilsausgleichs, der eine den Einzelfall berücksichtigende, angemessene Veränderung der äußeren Prüfungsbedingungen und erforderliche Schutzmassnahmen in Form von Befreiungen von allgemeinen Leistungsanforderungen und individueller schulischer Förderung beinhalte.
Mit Antragsschrift vom 3. Dezember 2010 beansprucht die Antragstellerin die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.
Die Antragstellerin trägt in Ergänzung der Klagebegründung vor, sie befürchte, dass sie mit Ausnahme der Fächer Mathematik und Physik auch in anderen Fächern als in Deutsch, Politik und Werte und Normen Klausurabwertungen erfahren werde. Im Rahmen des notwendigen Nachteilsausgleichs werde ihrer Behinderung allein mit einer Erleichterung der äußeren Prüfungsbedingungen nicht ausreichend Rechnung getragen. Eine Verlängerung der Bearbeitungszeit erleichtere zwar das Lesen des Prüfungstextes und das Textverständnis. Sie vermindere auch den Zeitdruck bei den schriftlichen Ausführungen und verbessere das Ausdruckvermögen. Damit werde aber die Zahl der Rechtschreibfehler nicht auf ein normales Maß reduziert. Vielmehr unterliefen einem Legastheniker mit mehr Bearbeitungszeit im Regelfall mehr Rechtschreibfehler als einem nicht behinderten Schüler ohne Zusatzzeit. Zusätzliche Zeit beseitige daher die Schwierigkeiten des Legasthenikers nicht. Es nütze ihm auch nichts, seine zusätzliche Zeit quasi am Ende der Klausur zur Fehlerbehebung einzusetzen, da er beim Lesen seiner Klausur infolge der Behinderung auch nicht in der Lage sei, misslungene Formulierungen, verdrehte oder fehlende Buchstaben und/oder Wörter, Interpunktionsfehler usw. zu erkennen und damit zu verbessern.
Vielmehr fordere der Ausgleich ihrer Behinderung einen aktiven Schutz durch die Schule, indem diese bei vermehrten Verstößen gegen die Sprachrichtigkeit nicht die Korrekturregeln über die Herabsetzung der Klausurnoten anwende. Sie, die Antragstellerin, fordere insoweit keine ungerechtfertigte Bevorzugung und verlange nicht, dass sie von den allgemeinen Leistungsanforderungen befreit werde, indem die Schule ihre Rechtschreibung nicht bewerte. Vielmehr wolle sie nur durch Nichtanwendung der Bewertungsregelung erreichen, dass sie wegen ihrer Behinderung nicht durch Herabsetzung ihrer Klausurergebnisse benachteiligt werde. Dies stelle keine Bevorzugung eines Menschen mit Behinderung dar, sondern folgt aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.
Die bereits ohne Nachteilsausgleich geschriebenen Kursklausuren seien wegen ihres Einflusses auf die jeweilige Kursnote, welche wiederum in die Abiturnote einfließe, neu zu bewerten. Diesem Umstand trage ihr Hilfsantrag Rechnung.
Die einstweilige Anordnung sei notwendig, weil die bisher vorgenommenen und weiterhin zu befürchtenden Abwertungen ihrer Klausurnoten als Bestandteil der jeweiligen Kursnote negativen Einfluss auf die Abiturnote insgesamt haben könnten, so dass ihr sprichwörtlich Punkte für die Abiturnote ganz oder aber teilweise verloren gingen. Ohne die verlangte Schutzmassnahme müsse sie damit rechnen, dass ihre Abiturnote insgesamt schlechter ausfalle, was sie bei ihrer späteren Berufsausbildung oder ihrem Studium wegen möglicher Zulassungsbeschränkungen beeinträchtige. Diese Benachteiligung sei vor dem Hintergrund der bestehenden Legasthenie nicht gerechtfertigt. Die Erlangung des Abiturs sei ein einmaliger Vorgang und könne nicht wiederholt werden. Es nütze ihr daher nichts, wenn sie sich später darauf berufe, dass sie zwar das Abitur unter der Beeinträchtigung ihrer Legasthenie absolviert habe, andererseits ihre Behinderung aber von der Schule für das Abitur nicht berücksichtigt worden sei.
Die Antragstellerin beantragt,
1. der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO aufzugeben, ihr mit sofortiger Wirkung in allen Fächern mit schriftlichen Leistungskontrollen - mit Ausnahme der Fächer Mathematik und Physik - einschließlich der bevorstehenden Abiturprüfungen im Rahmen des Nachteilsausgleichs eine angemessene Erleichterung der äußeren Prüfungsbedingungen durch Verlängerung der Bearbeitungszeit schriftlicher Leistungskontrollen von wenigstens 10 % der jeweils vorgesehenen Bearbeitungszeit zu gewähren,
2. der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO aufzugeben, die für die gymnasiale Oberstufe bestehende Regelung über eine mögliche Herabsetzung einer Klausurennote bei gehäuften Verstößen gegen die Sprachrichtigkeit bei ihr bis zum Abschluss der Abiturprüfung in allen Fächern - mit Ausnahme der Fächer Mathematik und Physik - seit ihrer Antragstellung bei der Beklagten auf Gewährung eines Nachteilsausgleiches, hilfsweise mit sofortiger Wirkung nicht mehr anzuwenden,
hilfsweise,
die von ihr gefertigten Politikklausuren vom 25.09.2009, 05.02.2010, 21.05.2010, 07.09.2010 und 12.11.2010, die Deutschklausuren vom 09.09.2010 und vom 23.11.2010 sowie die Werte und Normen-Klausur vom 27.10.2010 sowie alle eventuell noch nachfolgende Klausuren neu zu bewerten, soweit diese Klausuren eine Notenherabsetzung wegen gehäufter Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit erfahren haben oder noch erfahren werden und der Klägerin bei Anfertigung dieser Klausuren eine angemessene Erleichterung der äußeren Prüfungsbedingungen durch eine Verlängerung der Bearbeitungszeit im Rahmen des Nachteilsausgleichs nicht gewährt worden ist.
Die Antragsgegnerin stellt keinen Antrag und hat sich innerhalb der gesetzten Erwiderungsfrist nicht zur Sache geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Antragstellerin verweist die Kammer ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (Beiakte A) der Antragsgegnerin.
II.
Die Anträge sind mit ihrem überwiegenden Inhalt begründet.
1. Der Sachantrag zu 1. ist begründet, soweit die Antragstellerin eine Regelungsanordnung zur vorläufigen Verlängerung der Bearbeitungszeit für die im Antrag bezeichneten und zu bewertenden schriftlichen Arbeiten und Leistungsfeststellungen in den Kursen der Qualifikationsphase begehrt. Insoweit hat sie sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund gemäß § 920 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 123 Abs. 3 VwGO glaubhaft gemacht.
Die Antragstellerin kann von der Antragsgegnerin beanspruchen, dass ihr bei den in den Kursen der gymnasialen Oberstufe verlangten schriftlichen Leistungen dieselben Ausgleichsmaßnahmen zugute kommen, die auch anderen Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen eingeräumt werden.
Der Anspruch der Antragstellerin folgt aus dem sowohl das Prüfungsrecht als auch das Schulrecht beherrschende Grundsatz der Chancengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG. Dieser verlangt, dass vergleichbare Schülerinnen und Schüler bei den Leistungsanforderungen für die Erlangung des Abiturs so weit wie möglich vergleichbare Prüfungsbedingungen und Bewertungskriterien erhalten müssen (BVerwG, Urteil v. 9.8.1996 - 6 C 3/95 - NVwZ-RR 1998 S. 176, 177 m.w.N.). Insoweit macht es für die Geltung des Grundsatzes der Chancengleichheit im Abitur nach Art. 3 Abs. 1 GG keinen Unterschied, ob eine Prüfungsleistung nach § 2 AVO-GOFAK in Rede steht, die unmittelbar in der Abiturprüfung erbracht werden oder ob es um Leistungen geht, die nur mittelbar in Gestalt von Klausurenleistungen der Qualifikationsphase die Kursnote mitbestimmen, welche wiederum in die Zulassung zum Abitur eingebracht werden muss und im Übrigen die Gesamtqualifikation der Hochschulreife bestimmt. In beiden Fällen müssen jeder Schülerin und jedem Schüler derselben Fallgruppe dieselben Chancen zum Bestehen des Abiturs und zur Erlangung einer leistungsgerechten Gesamtqualifikation eingeräumt werden.
Sehen danach die die Klausurpraxis in Niedersachsen lenkenden Verwaltungsvorschriften vor, dass Schülerinnen und Schülern zum Ausgleich der mit einer Behinderung verbundenen Nachteile bei der Anfertigung schriftlicher Arbeiten (Klausuren) Erleichterungen der äußeren Arbeitsbedingungen gewährt werden, muss diese Praxis des Nachteilsausgleichs in jedem vergleichbaren Fall von Behinderung eingeräumt werden.
Die unstreitig festgestellte und fortdauernde Lese-/ Rechtschreibschwäche der Antragstellerin erfüllt die Kriterien der §§ 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX und 35a Abs. 1 SGB VIII und stellt damit auch mit Verbindlichkeit für das Schulrechtsverhältnis eine Behinderung im Rechtssinne dar (Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10.07.2008 - 2 ME 308/08 - NVwZ-RR 2009 S. 68 [OVG Niedersachsen 10.07.2008 - 2 ME 309/08]). Sie ist im vorliegende Fall durch den Facharzt H. und die Diplompädagogin I. als umschriebene Lese- und Rechtsschreibstörung im Zusammenhang mit einer beginnenden emotionalen Störung nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation als Beeinträchtigung mit Krankheitswert bei gleichzeitiger Teilhabebeeinträchtigung festgestellt worden, woraufhin ihr nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII Eingliederungshilfe bewilligt worden ist. Demzufolge fällt die Antragstellerin unter den Personenkreis der Schülerinnen und Schüler, deren Behinderungen nach Nr. 5 des Runderlasses des Niedersächsischen Kultusministeriums „Schriftliche Arbeiten in den allgemein bildenden Schulen“ (vom 16.12.2004, SVBl. S. 75) durch Gestaltung der äußeren Arbeitsbedingungen ausgeglichen werden. Hierzu zählt ausdrücklich auch der Ausgleich bei der Dauer der schriftlichen Arbeit. Diese Bestimmung ist nach Nr. 4.1 des Runderlasses des Niedersächsischen Kultusministeriums „Erlass zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen" (vom 04.10.2005, SVBl. S. 560 - LRS-Erlass -) so zu verstehen, dass sich der Nachteilsausgleich bei Schülerinnen und Schülern mit festgestellten besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben unter anderem in einer Verlängerung der Bearbeitungszeit ausdrückt. Die Vorschrift in Nr. 5 des Runderlasses „Schriftliche Arbeiten in den allgemein bildenden Schulen“ zählt zu den Bestimmungen des Erlasses, die uneingeschränkt auch auf Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe Anwendung finden.
Begründet ist der Sachantrag zu 1. auch, soweit die Antragstellerin eine Verlängerung in einem Umfang von mindestens zehn vom Hundert der jeweiligen Bearbeitungszeit beansprucht. Insoweit kann auf die zur Schreibzeitverlängerung bei Behinderungen der Schreibfähigkeit in der ersten juristischen Staatsprüfung entwickelten Ansatz zurückgegriffen werden (vgl. Nds. Oberverwaltungsgericht, a.a.O., S. 69; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht 2. Aufl., Rdnr. 225 m.w.N.).
Unbegründet ist der Sachantrag zu 1. hingegen, soweit mit ihm auch die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung einer Verlängerung der Bearbeitungszeit für die Prüfungsleistungen der Abiturprüfung verfolgt wird. Für eine solche einstweilige Anordnung besteht gegenwärtig keine besondere Dringlichkeit im Sinne von § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO (sog. Anordnungsgrund). Insoweit kann es der Antragstellerin in ihrem Rechtschutzinteresse zugemutet werden abzuwarten, ob die Antragsgegnerin ihre schriftliche Ankündigung vom 16. November 2010 über die auf § 23 Satz 1 AVO-GOFAK gestützte Verlängerung der jeweiligen Bearbeitungszeit für die Prüfungsaufgaben umsetzen wird.
2. Der Sachantrag zu 2. ist begründet, soweit die Antragstellerin darin die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin begehrt, die Vorschriften der Ergänzenden Bestimmungen zur VO-GO und AVO-GOFAK über den Punktabzug bei schwerwiegenden und gehäuften Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit in der deutschen Sprache in dem vom Rechtsschutzantrag erfassten Fächern insoweit nicht anzuwenden, als sich der Punktabzug auf Verstöße gegen die orthografische Richtigkeit und die Zeichensetzung in der deutschen Sprache stützt.
Zwar stützt sich der hierauf gerichtete Anordnungsanspruch der Antragstellerin nach Überzeugung der Kammer nicht auf den von der Antragstellerin herangezogenen Grundsatz, dass behinderungsbedingte Nachteile in der Erfassung und Bearbeitung von Prüfungsaufgaben sowie in der Darstellung der Prüfungsleistung im Rahmen des tatsächlich und rechtlich Möglichen ausgeglichen werden müssen. Das Begehren der Antragstellerin ist nicht auf einen Ausgleich der äußeren Prüfungs- oder Arbeitsbedingungen gerichtet, was beispielsweise der Fall wäre, wenn einer Schülerin oder einem Schüler behinderungsbedingt gestattet würde, eine schriftliche Aufsichtsarbeit nicht handschriftlich, sondern mit Hilfe eines Eingabegerätes (PC, Laptop usw.) einschließlich Korrektursoftware anzufertigen (Hess. Verwaltungsgerichtshof, Beschluss v. 05.02.2010 - 7 A 2406/09.Z - NVwZ-RR 2010 S. 767, 770). Ihr geht es in diesem Punkt gerade nicht darum, leistungsmindernde Einflüsse der äußeren Prüfungsbedingungen auf die vorliegende Lese-/ Rechtschreibstörung im Fach Deutsch sowie in den anderen Fächern abzumildern. Vielmehr richtet sich das Rechtsschutzbegehren unmittelbar gegen die Anwendung der Bewertungsgrundsätze der Antragsgegnerin bei Feststellung gehäufter Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit in der deutschen Sprache.
Ob und unter welchen Umständen das Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung und Leistungsbewertung in der Abiturprüfung bei festgestellter Legasthenie über das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hinausgeht und zu einer unzulässigen Verschiebung der materiellen Anforderungen der allgemeinen Hochschulreife führt (vgl. hierzu Nds. Oberverwaltungsgericht, a.a.O. S. 68 f., Hess. VGH, a.a.O., S. 770), kann im vorliegenden Fall offen bleiben.
Denn die Antragstellerin kann den Anordnungsanspruch schon auf den prüfungsrechtlichen Grundsatz stützen, wonach die Bewertung ihrer Leistungen in der Abiturprüfung und für die Gesamtqualifikation des Abiturs nicht auf die Anwendung von Bewertungsmaßstäben gestützt werden darf, die gegen höherrangiges Recht verstoßen. Insoweit unterliegen die maßgeblichen Vorschriften für das Bestehen und das Gesamtergebnis des Abiturs denselben verfassungsrechtlichen Einschränkungen, die das Grundrecht der Freiheit der Berufswahl aus Art. 12 Abs. 1 GG allgemein den Prüfungsordnungen für berufsbezogene Prüfungen auferlegt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 52, 380 [388]; 84, 34 [45]; 84, 59 [72]; jeweils m.w.N.) tragen Bestimmungen in einer Prüfungsordnung nur dann dem Grundrecht der freien Berufswahl Rechnung, wenn sie nach Art und Ausmaß geeignet und erforderlich sind, den vom Normgeber verfolgten Zweck zu erreichen und die Grenze der Zumutbarkeit wahren. Zugleich müssen sie mit ihren das Prüfungsverfahren gestaltenden Bestimmungen dem auf Art. 3 Abs. 1 GG beruhenden Grundsatz der Chancengleichheit Rechnung tragen (BVerfGE 52, 380 [388] [BVerfG 13.11.1979 - 1 BvR 1022/78]; BVerfG, NJW 1993 S. 917 [BVerfG 21.12.1992 - 1 BvR 1295/90]).
Die Vorschriften der Nr. 10.13 der Ergänzenden Bestimmungen des Niedersächsischen Kultusministeriums zu § 10 VO-GO (RdErl. des Nds. Kultusministeriums v. 17.02.2005, SVBl. S. 177, mit spät. Änderungen - EB VO-GO -) und der Nr. 9.1 der Ergänzenden Bestimmungen des Niedersächsischen Kultusministeriums zu § 9 AVO-GOFAK (RdErl. d. Nds. Kultusministeriums v. 19.05.2005, SVBl. S. 361, mit spät. Änderungen - EB AVO-GOFAK -) werden diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen im Fall der Antragstellerin nicht gerecht. Sie sehen ausnahmslos vor, dass schwerwiegende und gehäufte Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit in der deutschen Sprache oder gegen die äußere Form in einer Kursklausur oder einer schriftlichen Prüfungsleistung nach Maßgabe der festgelegten Richtwerte zu einem Abzug von einem Punkt oder zwei Punkten bei einfacher Wertung führen. Diese durch Erlass gemachte Vorgabe stellt - mit Verbindlichkeit für die Entscheidung im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz - keinen geeigneten Beurteilungsmaßstab dar, um eine verlässliche Einschätzung der Leistungen der Antragstellerin mit Blick auf die einheitlichen Prüfungsanforderungen im Abitur zu ermöglichen.
Zwar zählt auch der Nachweis ausreichender Kompetenzen in der Schriftsprache zum Inhalt der Abiturprüfung. So sehen zum Beispiel die Einheitlichen Prüfungsanforderung (EPA) für das Fach Deutsch unter Nr. 1.1.4 als Beherrschen von Methoden und Arbeitstechniken neben den Methoden des Textverständnisses auch die Fähigkeit zur kompetenten schriftlichen und mündlichen Verständigung vor, womit der Deutschunterricht einen wesentlichen Beitrag zur Studierfähigkeit und damit zur gesetzlichen Zielsetzung des Gymnasiums (§ 11 Abs. 1 Satz 1 NSchG) leistet.
Dabei darf allerdings nicht zum Nachteil von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben außer Acht gelassen werden, dass die durch die eine Legasthenie maßgeblich beeinträchtigte orthografische Richtigkeit des Schreibens und der Zeichensetzung nur Teilaspekte der „sprachlichen Richtigkeit in der deutschen Sprache“ und der „kompetenten schriftlichen Verständigung“ im Sinne der EPA zum Fach Deutsch sind. Auch muss berücksichtigt werden, dass es sich bei der Legasthenie der Antragstellerin um eine Beeinträchtigung handelt, die sich in langsamerer Lesegeschwindigkeit sowie einer erschwerten handschriftlichen Darlegung des gefundenen Ergebnisses und somit in einer mangelnden technischen Fähigkeit zur Darstellung des (vorhandenen) eigenen Wissens erschöpft (Nds. Oberverwaltungsgericht, a.a.O., S. 68). So weist auch die Häufigkeit der orthografischen Fehler und der Fehler in der Zeichensetzung in den bisher vorliegenden Klausuren der Antragstellerin ein typisches Muster auf, das mit dem Auslassen von (insbesondere Endungs-) Konsonanten und Satzzeichen die Behinderung der Antragstellerin kennzeichnet.
Die bisher vorliegenden Bewertungen der Klausuren der Antragstellerin lassen aber nicht erkennen, dass die Lehrkräfte der Antragsgegnerin für ihre Notengebung die Art und Zahl der Rechtschreibfehler der Antragsstellerin gegen die Intensität und den Inhalt einer Förderung der Schülerin wegen ihrer Lese-/ Rechtschreibstörung abgewogen haben. Ebenso fehlt es an einer Abwägung der vergebenen Punktzahlen mit dem Gewicht der übrigen von der Schülerin erworbenen Kompetenzen in der deutschen Sprache. Insbesondere ist es mangels eigener Stellungnahme der Antragsgegnerin offen, ob die Antragstellerin im Unterricht des Gymnasiums Rechtschreibstrategien entwickelt hat, die von ihr behinderungsbedingt nur aufgrund der besonderen Prüfungssituation bei schriftlichen Arbeiten und in schriftlichen Prüfungen der Oberstufe nicht gezeigt werden können oder ob sie trotz solcher Rechtschreibstrategien mit dem für „Normalschüler“ vorgesehenen pauschalen Punktabzug für gehäufte Rechtschreibfehler zutreffend beurteilt wäre. Bei der Benotung der Klausurleistungen der Antragstellerin wäre ferner zu berücksichtigen, ob der Schülerin Gelegenheit gegeben worden ist, eine die Überwindung ihrer Klausurprobleme in der Oberstufe und im Abitur betreffende individuelle Beratung durch Lehrkräfte des Gymnasiums oder technische Hilfen etwa in Gestalt von Textverarbeitungsprogrammen mit Korrekturmöglichkeit (vgl. Hess. Verwaltungsgerichtshof, a.a.O., S. 770) in Anspruch zu nehmen.
Zwar ist in Niedersachsen nach der gegenwärtigen Erlasslage eine schulische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen im Sekundarbereich II nicht vorgesehen. Dies schließt aber eine Förderung durch die Schule nicht aus. Insbesondere ist mit dem begrenzten Förderangebot des LRS-Erlasses kein Verbot einer weitergehenden Förderung erlassen worden. Vielmehr geht die Beschränkung der Förderung auf den Sekundarbereich I erkennbar auf die Zielsetzung in den „Grundsätzen zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz - KMK - (vom 04.12.2003 i.d.F. vom 15.11.2007) zurück, wonach Maßnahmen zur Differenzierung und individuellen Förderung in den allgemein bildenden Schulen bis zum Ende der Jahrgangsstufe 10 abgeschlossen sein sollen.
Andererseits kennzeichnen die Bewertungsvorschriften in den Nrn. 10.13 EB VO-GO und 9.1 EB AVO-GOFAK keine über diese Erlasse hinausgehenden allgemein gültigen Bewertungsgrundsätze für die Bewertung der Sprachkompetenzen von Abiturienten, die ein Abweichen von der undifferenzierten Benotung der Sprachkompetenz rechtlich ausschlössen. Dies wird schon daran deutlich, dass die vorstehend genannten Grundsätze der KMK den Ländern ausdrücklich freistellen, zu Gunsten von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben abweichende Regelungen der Grundsätze der Leistungsbewertung bei Abschlussprüfungen vorzusehen.
Die Antragsgegnerin hat schließlich auch nicht vorgetragen, dass und mit welchem Ergebnis sie die Antragstellerin wegen ihrer besonderen Schwierigkeiten im Sekundarbereich I oder II tatsächlich gezielt zur Entwicklung von Rechtschreibstrategien gefördert hätte. Das Schreiben ihres früheren Klassenlehrers an die Trägerin der Eingliederungshilfe vom 24. September 2006 gibt über die Feststellung von herausragenden Störungen im schriftlichen Sprachgebrauch hinaus keinen Anhalt für Fördermaßnahmen des Gymnasiums. Ebenfalls hat die Antragstellerin nicht vorgetragen, dass sie mit der Schülerin angesichts ihrer langfristig anhaltenden Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben über den Sekundarbereich I hinaus Strategien im Umgang mit der Legasthenie entwickelt hätte, wie dies bei einer andauernden Beeinträchtigung der Fall ist (Behrens, Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen, SVBl. 2006 S. 188, 190).
Bei dieser Sachlage lässt sich mangels einer Möglichkeit zur Abwägung dessen, was die Antragstellerin tatsächlich in der deutschen Sprache zu leisten im Stande ist mit ihren behinderungsbedingten Sprachschwierigkeiten in einer schriftlichen Arbeit oder Prüfung nicht feststellen, dass die pauschalen Punktabzugsvorschriften der Nrn. 10.13 EB VO-GO und 9.1 EB AVO-GOFAK ein geeigneter Maßstab zur Bewertung der tatsächlichen Kompetenz der Antragstellerin in der deutschen Sprache wären.
Im Rahmen der erlassenen einstweiligen Anordnung hat die Antragstellerin auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Entscheidung ist insoweit eilbedürftig. Die von der einstweiligen Anordnung zum Nachteilsausgleich erfassten Kursklausuren können nicht mehr nachgeholt werden, wenn das 3. und 4. Kurshalbjahr verstrichen sind und die Abiturprüfung abgeschlossen ist. Gleiches gilt für die Bewertung der Kursklausuren und der schriftlichen Prüfungsleistungen. Zwar kann eine rechtsfehlerfreie Bewertung in der Regel auch in einem Hauptsacheverfahren durchgesetzt werden. Allerdings entscheiden die Ergebnisse der schriftlichen Prüfungsleistungen im ersten bis vierten Prüfungsfach darüber, ob im Fall der Antragstellerin, deren Zulassung zum Abitur in greifbare Nähe gerückt ist, eine zusätzliche mündliche Prüfung stattfindet. Schließlich können die Ergebnisse aus den vier Kurshalbjahren, die maßgeblich durch die Noten der schriftlichen Arbeiten mitbestimmt werden, nach § 5 Abs. 2 AVO-GOFAK entscheidend für die Zulassung zur Abiturprüfung sein.
Soweit allerdings die Antragstellerin mit der Fassung ihres Sachantrags zu 2. die Nichtanwendung der Punktabzugsregelung „seit ihrer Antragstellung“, also auch für die bereits bewerteten Kursklausuren verfolgt, ist der Antrag unzulässig und damit abzulehnen.
Er geht insoweit ins Leere, weil die Antragsgegnerin bei der Bewertung der bereits benoteten schriftlichen Arbeiten die Bewertungsvorschrift der Nr. 10.13 EB VO-GO bereits angewandt hat. Soweit die Antragstellerin hilfsweise die Neubewertung der aufgezählten Klausuren in den Fächern Politik, Deutsch und Werte und Normen begehrt, fehlt es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Denn es ist davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin die Bewertung dieser Klausuren aufgrund der im Übrigen erlassenen einstweiligen Anordnung nachträglich ändern wird, ohne dass die Antragstellerin auch insoweit eine (weitere) gerichtliche Eilentscheidung benötigt.