Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 13.12.2013, Az.: 18 A 5697/13

Aufsicht; Dienstvergehen; Fluchtversuch; JVA-Beamter; Schlechtleistung; Verweis

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
13.12.2013
Aktenzeichen
18 A 5697/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 64281
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 24.06.2013 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, ein Amtsinspektor im Justizvollzugsdienst, wendet sich gegen eine Disziplinarverfügung, mit der ein Verweis ausgesprochen wurde.

Der Kläger ist bei der Beklagten beschäftigt. Dort galt seinerzeit die Anstaltsregelung vom 13.07.2011. Unter anderem heißt es zur lfd. Nummer 3.8: „Es muss ständig gewährleistet sein, dass die Anzahl der Gefangenen, die am Aufenthalt im Freien teilnehmen, den aufsichtsführenden Bediensteten bekannt ist.“ In lfd. Nr. 3.8 und 3.9 heißt es: „Die aufsichtsführenden Bediensteten verbleiben solange auf dem Hof, bis alle Gefangenen in die Unterkunftshäuser eingerückt sind. Nach Beendigung der Freistunde sind alle Höfe erneut nach unerlaubten Gegenständen abzusuchen. Des Weiteren ist bei der Nachkontrolle sicherzustellen, dass sich keine Gefangenen versteckt halten.“

Am 10.06.2012 hatte der Kläger und mit ihm der OS im JVD D. sowie der OS im JVD E. die Aufsicht bei der Freistunde am Nachmittag.

Beim Einrücken der Gefangenen des Hauses 6 am Ende der Freistunde überprüfte der Kläger die Gefangenen vor dem Betreten des Hauses mit einer Sonde, der OS im JVD F. beobachtete den Ablauf der Kontrolle durch den Kläger und OS im JVD D. befand sich bereits im Haus, um die Gefangenen zu zählen. Dabei stellte sich heraus, dass der Gefangene R. fehlte. Das Fehlen des Gefangenen wurde gemeldet.

Zur gleichen Zeit bemerkte eine andere Mitarbeiterin auf dem Dach der Sicherheitszentrale eine männliche Person mit nacktem Oberkörper. Es handelte sich um den Gefangenen R, der auf das Dach geklettert, war. Dort ließ er sich widerstandslos festnehmen und in seine Zelle bringen.

Möglicherweise unternahmen zum Ende der Freistunde andere Gefangene Ablenkungsmanöver, um den R. bei seiner Aktion zu unterstützen. Jedenfalls baten um 15:40 Uhr wenige Minuten vor Ende der Freistunde zwei andere Gefangene noch die Wärter um Tischtennisschläger, der Kläger gab die Sportgeräte heraus. Eine Gruppe anderer Gefangener hatte sich während der Freistunde nicht viel bewegt, sondern sie lagen oder saßen herum. Um 15:40 wurden diese Gefangenen unruhig und gingen in einer größeren Gruppe plötzlich im Kreis herum.

Der OS im JVD G. sagte aus, er sei als aufsichtsführendender Bediensteter auf dem Freistundenhof Haus 5/6 eingesetzt gewesen. Während der Freistunde habe er am Feuerwehrtor des Hauses 7 gestanden und den Bereich Richtung Haus 5 beaufsichtigt. Nachdem der Kläger das Signal zum Einrücken gegeben habe, sei der OS im JVD F. aus dem Haus 6 herausgekommen und er, der Zeuge, sei in das Haus hineingegangen, um die hereinkommenden Gefangenen zu zählen. Um 15:40 Uhr habe er den Gefangenen R noch auf dem Hof gesehen.

Der OS im JVD F. gab an, nachdem der OS im JVD G. das Zählen im Haus übernommen habe, sei er hinausgegangen und habe nach dem letzten Gefangenen die Hofkontrolle vorgenommen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich kein Gefangener mehr auf dem Freistundenhof befunden. Als er, der Zeuge, aus dem Haus 6 hinausgetreten sei, sei ein größerer Pulk Gefangener auf das Haus 6 zugekommen. Er habe gedacht, dass diese nur „eine letzte Runde“ auf dem Freistundenhof drehen wollten.

Hinterher wurde festgestellt, dass der Gefangene R aus seinem Haftraumfenster eine „Schwachstelle“ an den Gebäuden erkennen konnte. Es war seinerzeit möglich, an der Gebäudeaußenseite der Wäscherei hochzuklettern. Die S-Drahtabsicherung war eingeschränkt, die Fenstervergitterung konnte als Steighilfe benutzt werden und die Befestigungsschellen des Blitzableiters waren ungesichert. Der Gefangene R. kletterte an den Gittern der Wäschereifenster und einer Blitzableiterstange als Steighilfe auf das Flachdach des Zentralganges hinauf. Diese Stelle zwischen den Häusern 5 und 6 war vom Standort der drei bei der Freistunde eingesetzten Beamten nicht einsehbar. Erst nach dem Fluchtversuch des Gefangenen R. zog die Beklagte baulich-technische Konsequenzen.

Zum Zeitpunkt des Fluchtversuches des Gefangenen R. war das Haus 5 geschlossen; entsprechend war kein Mitarbeiter aus Haus 5 in der Freistunde anwesend.

Mit Schreiben vom 16.01.2013 leitete die Beklagte gegen den Kläger ein Disziplinarverfahren ein, weil der Verdacht bestehe, dass er, der Kläger, den Gefangenen R. nicht ausreichend beaufsichtigt habe.

Der Kläger nahm durch seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 28.02.2013 Stellung und äußerte sich noch einmal abschließend mit Schriftsatz vom 16.05.2013.

Mit Verfügung vom 24.06.2013 sprach die Beklagte dem Kläger einen Verweis aus. Der Kläger habe den Fluchtversuch des Gefangenen R. nicht verhindert, weil er ihn nicht hinreichend beaufsichtigt habe. Er, der Kläger, hätte wissen müssen, dass nicht alle Bediensteten gleichzeitig das Absonden hätten vornehmen können. Es sei vielmehr eine Abstimmung erforderlich gewesen, wer die weitere Beobachtung übernimmt. Der Bescheid wurde dem Kläger am 26.06.2013 zugestellt.

Der Kläger hat am 18.07.2013 Klage erhoben.

Er trägt vor, es habe eine Abstimmung zwischen ihm und den beiden anderen eingesetzten Beamten stattgefunden. Er sei mit dem „Absonden“ befasst gewesen, der Kollege G. habe die Hausaufsicht geführt und die einrückenden Beamten gezählt und der Kollege F. habe den Hof und das gesamte Geschehen beobachtet.

Der Kläger beantragt,

die Disziplinarverfügung vom 24.06.2013 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie tritt der Klage entgegen und verweist auf die angegriffene Verfügung. Der Zeuge F. hätte sich die ganze Zeit auf den Hof aufhalten müssen, zu erheblichen Teilen sei er aber im Hause gewesen. Der Kläger als im Dienstrang höchster Beamter hätte wissen müssen, dass insbesondere wegen der unübersichtlichen Situation auf dem Hof sich ein Bediensteter hätte permanent auf dem Freistundenhof befinden müssen.

Die Kammer hat die Sache mit Beschluss vom 15.11.2013 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht gemäß § 6 Abs. 1 VwGO durch den Einzelrichter.

Die zulässige Klage ist begründet. Die Disziplinarverfügung vom 24.06.2013 ist aufzuheben. Es steht nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger ein Dienstvergehen begangen hat.

Die Beklagte hat einen Verweis ausgesprochen. Ein Verweis ist zwar eine nach § 6 Abs. 1 Nr. 1, § 7 NDiszG zulässige Disziplinarmaßnahme. Voraussetzung ist jedoch weiter, dass ein Beamter überhaupt ein mit einer Disziplinarmaßnahme zu ahndendes Dienstvergehen begangen hat. Davon kann im vorliegenden Fall jedoch nicht ausgegangen werden.

Die Beklagte wirft dem Kläger vor, er hätte den Fluchtversuch des Gefangenen R. bemerken müssen bzw. er hätte dafür sorgen müssen, dass ein anderer Bediensteter den Hof so im Auge behält, dass dieser den Fluchtversuch hätte bemerken müssen. Ggf. hätte der Kläger - wenn zwei Beamte für das Absonden eingesetzt werden mussten - eine Entscheidung über weiteres Personal von der Tourendienstleitung einholen müssen.

Es ist nicht möglich, sowohl ein konzentriertes Absonden nach verbotenen Gegenständen vorzunehmen und gleichzeitig mit voller Konzentration die auf dem Freistundenhof wartenden Häftlinge zu beobachten. Insoweit kann dem Kläger jedenfalls nicht der Vorwurf gemacht werden, er hätte den Fluchtversuch des R. selbst bemerken müssen.

Es liegt aber auch kein Dienstvergehen in dem Umstand vor, dass der Kläger sich nicht vor dem Hofgang um weiteres Aufsichtspersonal bemüht hat.

Zwar fehlte wegen der Schließung des Hauses 5 zum Fluchtzeitpunkt der Bedienstete aus Haus 5. Doch der OS im JVD F. hatte auf dem Hof Posten bezogen. Der Kläger konnte davon ausgehen, dass sein Kollege das Geschehen im Hof im Auge behielt; es lag weder auf der Hand, dass der Kläger ihm einen anderen Standort hätte zu weisen müssen noch dass er, der Kläger, einen weiteren Vollzugsbeamten zur Aufsicht hätte anfordern müssen. Unstreitig entsprach der Einsatz von drei Bediensteten während einer Freistunde der üblichen Verfahrensweise.

Im Übrigen ist es ungeklärt, dass der Fluchtversuch wegen des Fehlens eines weiteren Vollzugsbeamten während des Absonden unternommen wurde. Der Ablauf des Geschehens spricht eher dafür, dass R. den Fluchtversuch zum Ende der Freistunde unternahm, als das Sichtfeld durch die sich plötzlich bewegende Gruppe von Gefangenen eingeschränkt war und die Bediensteten zudem wegen der Frage nach Tischtennisschlägern abgelenkt wurden.

Dass es jemanden gelingen konnte, an der fraglichen Stelle hochzuklettern war auch nicht von der Hausleitung erwartet worden, denn die seinerzeit vorhandenen Absicherungen wurden auch von ihr für ausreichend gehalten und erst nach dem Fluchtversuch des R. verschärft. Auch dieser Umstand zeigt, dass dann auch der Kläger nicht mit einer derartigen Aktion des R. hätte rechnen müssen.

Wenn - dies muss hier nicht abschließend geklärt werden - überhaupt dem Kläger aber ein Vorwurf gemacht werden kann, dass wäre es der Vorwurf, einmalig fehlerhaft gehandelt zu haben.

Nun ist jedoch eine fehlerhafte Arbeitsweise allein noch nicht in jedem Fall eine Dienstpflichtverletzung bzw. stellt ein fehlerhaftes Handeln für sich allein noch nicht unbedingt ein Dienstvergehen dar. Ein einfacher Fehler, der jedem einmal passieren kann ist von einem Dienstvergehen abzugrenzen (a.A. möglicherweise Bieler/Lukat, a.a.O., Einleitung 3.1 Rdnr. 49, wonach jede vorwerfbare Schlechterfüllung dienstlicher Aufgaben bereits einen Verstoß gegen die Pflicht zur vollen Hingabe an den Beruf darstellt - wobei allerdings nicht jede Pflichtenverletzung zwangsläufig sogleich ein Dienstvergehen darstellen muss).

Auch der fähigste und zuverlässigste Beamte ist Schwankungen seiner Arbeitskraft unterworfen und macht gelegentlich Fehler, die eine Verwaltung vernünftigerweise in Kauf nehmen muss. Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Ausübung des Dienstes hat deshalb regelmäßig nur eine im Ganzen durchschnittliche Leistung zum Gegenstand. Um ein nachlässiges Gesamtverhalten als in disziplinarrechtlicher Hinsicht pflichtwidrig zu kennzeichnen, bedarf es des Nachweises einigermaßen gewichtiger Mängel der Arbeitsweise, die insgesamt über das in Einzelfällen bei einem durchschnittlichen Beamten noch tolerierbare Versagen eindeutig hinausgehen und sich als echte Schuld von bloßem Unvermögen abgrenzen lassen (BVerwG, Beschluss vom 09.11.2000 - 1 D 8/96 -, zit. n. juris, Rdnr. 58). Das Bundesverwaltungsgericht und ihm folgend weitere Gerichte (vgl. etwa VG Münster, Urt. v. 26.02.2007 - 13 K 303/05.O -, zit. n. juris) stellen - wenn der Vorwurf nachlässigen Verhaltens disziplinarrechtliches Gewicht erhalten soll - dabei regelmäßig auf das Auftreten „mehrere Mängel“ ab. Eine einmalige fahrlässige Schlechterfüllung stellt danach noch kein zu ahndendes Dienstvergehen dar (bgl. auch VG Hannover, Urteil vom 05.06.2013 - 18 A 5514/12 -). So liegt es - wenn man denn überhaupt bereits ein Fehlverhalten des Klägers annehmen kann - hier.

Letztendlich wurde der Fluchtversuch in erster Linie dadurch ermöglich, das die Fenstergitter der Fenster der Wäscherei und die Haltestange des Blitzableiters als Kletterhilfe mangels geeigneter Sicherungsvorkehrungen genutzt werden konnten. Für dieses Versäumnis ist der Kläger jedenfalls nicht verantwortlich.

Im Übrigen trug auch die schnelle Reaktion des Klägers, der mit seinen beiden eingesetzten Kollegen schnell das Fehlen des Gefangenen R. bemerkte, dazu bei, den Fluchtversuch zu vereiteln.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 69 ff. NDiszG, 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.