Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 10.12.2013, Az.: 2 A 4636/12

Anerkennung als Flüchtling; Asyl; Syrien; Dublin II; Ungarn; Isolierte Anfechtungsklage im Dublin-Verfahren; Wiederaufgreifen des Asylverfahrens

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
10.12.2013
Aktenzeichen
2 A 4636/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 64482
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Sach- und Rechtslage hat sich im Hinblick auf die Lage in Syrien spätestens zum 31. Dezember 2013 geändert.
2. Die Drei-Monats-Frist nach § 51 Abs. 3 AsylVfG in Bezug auf diesen Wiederaufgreifensgrund beginnt ab diesem Zeitpunkt zu laufen.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Der im Jahre D. geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er begehrt die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in seiner Person.

Er beantragte am E. mit seiner Mutter und zwei Geschwistern bei angeblich ungeklärter Staatsangehörigkeit Asyl in der Bunderepublik Deutschland. Der Asylantrag wurde mit Bescheid vom F. abgelehnt. Die Familie wandte sich hiergegen mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht G.). Mit Urteil vom H. wies das Gericht die Klage ab. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung wurde vom Niedersächsischen OVG am I. abgelehnt. Am J. stellte die Familie einen Asylfolgeantrag. Dieser wurde von der Beklagten am K. abgelehnt. Das Verwaltungsgericht Hannover (Az: L.) wies die hiergegen erhobene Klage am M. ab.

Am N. stellte der Kläger erneut einen Asylfolgeantrag. Zur Begründung trug er vor, er müsse aufgrund der veränderten Situation in Syrien bei einer Rückkehr mit Übergriffen seitens der syrischen Sicherheitsorgane schon bei seiner Einreise rechnen.

Mit Bescheid vom O. lehnte die Beklagte das Wiederaufgreifen des Asylverfahrens ab. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG seien nicht erfüllt. Sie bejahte aber das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich subsidiären Schutzes und stellte für den Kläger unter Abänderung des Bescheids vom F. ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich Syriens fest. Weiterhin wurde die Abschiebungsanordnung des Bescheids vom F. aufgehoben. Es sei angesichts der derzeitigen Rückkehrprognose für syrische Staatsangehörige vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG auszugehen.

Der Kläger hat am P. Klage erhoben und trägt zur Begründung vor:

Der Bescheid sei teilweise rechtswidrig. In seiner Person lägen die Voraussetzungen für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG vor. Denn es bestehe bei ihm nach derzeitigem Stand mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, nach einer Rückkehr nach Syrien von Angehörigen der syrischen Ordnungsmacht gefoltert oder anderer asylrelevanter Maßnahmen unterzogen zu werden. Nach ständiger Auskunftslage würden zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise nach Syrien zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt und danach ggf. inhaftiert und gefoltert. Das Regime in Syrien sehe auch diejenigen als seine Feinde an, die ihre Ablehnung des Systems durch ihre vorherige Flucht in das Ausland öffentlich geäußert hätten.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom O. zu verpflichten, festzustellen, dass bei ihm die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Syriens vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verteidigt ihre Verfügung.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des abgeschlossenen Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG.

Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen (§ 71 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz AsylVfG). Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Ein weiteres Asylverfahren ist hiernach dann durchzuführen, wenn aufgrund der Änderung der Sach- oder Rechtslage eine andere Entscheidung möglich erscheint (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Mai 2008 – A 10 S 3032/07 –, juris).

Gemäß § 51 Abs. 3 VwVfG ist der Antrag binnen einer Frist von drei Monaten zu stellen, wobei die Frist gemäß § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat. Auch bei Dauersachverhalten ist grundsätzlich die erstmalige Kenntnisnahme von den Umständen für den Fristbeginn maßgeblich. Diese Frist kann nur dann erneut in Lauf gesetzt werden, wenn der Dauersachverhalt einen Qualitätsumschlag erfährt. Das Erfordernis, die Drei-Monats-Frist nach § 51 Abs. 3 VwVfG einzuhalten, gilt auch für sich prozesshaft entwickelnde dauerhafte Sachverhalte sowie Wiederaufgreifensgründe, die während des gerichtlichen Verfahrens auftreten (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993 – 9 C 49/92BVerwGE 92, 278; Funke-Kaiser, GK, AsylVfG,  § 71, Rn. 142 und 226). Unbilligkeiten aufgrund des Umstandes, dass bei sich prozesshaft entwickelnden dauerhaften Sachverhalten der Zeitpunkt, zu welchem ein Qualitätssprung stattfindet bzw. der Zeitpunkt, zu welchem der Sachverhalt Asylerheblichkeit erreicht, nur schwer feststellbar ist, lassen sich dadurch vermeiden, dass für die Gewährung subsidiären Abschiebungsschutzes ein Wiederaufgreifen bei Versäumung auch nach Ermessen möglich ist. Eine Nichtanwendung der Frist im Rahmen des AsylVfG auf Sachverhalte, bei denen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt wird, würde jedoch dem eindeutigen gesetzgeberischen Willen widersprechen (vgl. sinngemäß BVerwG Urteil vom 20. Oktober 2004 - 1 C 15/03 -, juris).

Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 VwVfG ist grundsätzlich für jeden selbständigen Wiederaufgreifensgrund eigenständig zu prüfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993 – 9 C 49/92BVerwGE 92, 278; Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 139). Voraussetzung für die fristgerechte Geltendmachung eines Wiederaufgreifensgrundes ist darüber hinaus, dass innerhalb der Drei-Monats-Frist substantiiert und schlüssig, gegebenenfalls unter Darlegung von Beweismitteln sowohl die geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe als auch die Einhaltung der Frist dargelegt werden (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 224 ff.). Zudem ist der Antrag gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in den früheren Verfahren, insbesondere dem Rechtsbehelf, geltend zu machen.

Zwar hat sich die Sachlage für syrische Staatsangehörige, die nach langem Auslandsaufenthalt und Asylantragstellung in Europa in ihr Heimatland zurückkehren seit dem rechtsbeständigem Abschluss des vorangegangenem Asylfolgeverfahrens geändert (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Der Kläger hat jedoch diese Änderung nicht innerhalb der Drei-Monatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG geltend gemacht.

Unter der Änderung der Sachlage fallen sämtliche tatsächliche Vorgänge, die eine Änderung des entscheidungserheblichen Sachverhalts zur Folge haben. Die politische Situation in Syrien seit dem Frühjahr 2011 stellt grundsätzlich eine solche geänderte Sachlage dar. Die Sachlage hat sich spätestens mit Ablauf des Kalenderjahres 2011 derart verfestigt, dass seitdem kein Qualitätsumschlag mehr erfolgt ist und die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG durch nachfolgende Ereignisse nicht erneut zu laufen begonnen hat. Seit dem verschärften Auftreten des Konflikts zwischen dem Regime Assad und seinen Gegnern zu Beginn des Jahres 2011 häufen sich die Berichte, dass die syrische Regierung gegenüber Rückkehrern nach Syrien, die vorher illegal ausgereist sind und einen Asylantrag im Ausland gestellt haben, misstrauisch geworden ist. So wird diese Personengruppe grundsätzlich verdächtigt, eine Gegnerin des Systems Assad zu sein. Das Auswärtige Amt schilderte in seinen Auskünften vom 1. und 2. Februar 2011, dass eine aus Deutschland abgeschobene Familie festgenommen wurde. Die Organisation Kurdwatch berichtete am 29. März 2011, dass ein aus Dänermark Abgeschobener gefoltert wurde. Auch am 29. April 2011 sei laut Kurdwatch ein aus Deutschland Abgeschobener festgenommen worden. In dem Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 (3 L 147/12 -, juris) sind zahlreiche weitere Fälle aus dem Jahr 2011 dokumentiert, in dem die syrische Ordnungsmacht in ähnlicher Weise mit dieser Personengruppe umgegangen ist.

Diese Entwicklung verlief parallel zu der politischen Eskalation in Syrien. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schilderte Mitte 2011, dass sich die Übergriffe gegen Regimegegner stark gehäuft hätten. So wird hinsichtlich des Vorgehens der syrischen Sicherheitskräfte gegen Demonstranten berichtet: „Noch nie haben wir solchen Horror gesehen“ (vgl. Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 3. Juni 2011, „Warum hasst du unsere Kinder?“). Seit dem Ausbruch der Proteste wurden allein bis Mitte 2011 10.000 Menschen verhaftet (vgl. Artikel in der Welt vom 14. Juni 2011, „Sie können uns umbringen, aber nicht stoppen“; Artikel in Die Tageszeitung vom 18. Juli 2011, „In der Gewalt des syrischen Regimes“). Einen ersten größeren Überblick über die Lage in Syrien gab Amnesty International in seinem Bericht vom Juli 2011 (vgl. Bericht vom Juli 2011, Crackdown in Syria: Terror in Tell Kalakh). Der Bericht schließt damit, dass seit dem Beginn der Proteste im März 2011 die Zahl an Folterungen, Verhaftungen und Tötungen von Regimegegnern stark zugenommen habe (vgl. Bericht vom Juli 2011, a.a.O., S. 19). In der Folgezeit konnte Amnestey International - insoweit neue - Erkenntnisse über 88 dokumentierte Todesfälle in der Haft gewinnen (vgl. Bericht vom August 2011, Deadly Detention - Death in Custody). Auch gegen im Ausland lebende Oppositionelle ging die Regierung Assad immer verstärkter vor, indem die Exilsyrer bedroht wurden und ihre noch in der Heimat lebenden Verwandten gefoltert wurden, sog. Sippenhaft (vgl. Amnesty International, Bericht vom Oktober 2011, The Long Reach of the Mukhabaraat: Violence and Harassment against Syrians abroad and their relatives back home). Deshalb sah sich der Präsident des Sicherheitsrates der Vereinigten Nationen bereits am 3. August 2011 veranlasst, die syrischen Behörden zur Achtung der Menschenrechte aufzufordern und erinnerte sie an ihre Verpflichtung das Völkerrecht zu achten (Protokoll der 6598. Sitzung des Sicherheitsrates).

Einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Eskalationslage im Jahr 2011 konnte eine unter der Schirmherrschaft der UN stehende Untersuchungskommission in seinem Bericht von Ende November 2011 geben (vgl. Unabhängige Internationale Untersuchungskommision für Syrien, Bericht vom 23. November 2011, Menschenrechtslage - Exekutionen - Folter - Verhaftungen - Sippenhaft - Gewalt - Kinderrechte). Human Rights Watch hat einen ähnlichen Bericht wenige Wochen später veröffentlicht (vgl. Human Rights Watch, Bericht vom Dezember 2011, By All Means Necessary). Die letztgenannten beiden Berichte belegen, dass sich seit dem Beginn der Unruhen im März 2011 die Menschensrechtsverletzungen des Regimes Assad immer weiter gesteigert haben, aber in den letzten Monaten des Jahres keine qualitative Änderung der Situation mehr feststellbar gewesen ist.  Der Maßnahmenkatalog des Regimes Assad gegen Demonstranten, Inhaftierte, Rückkehrer, Exilsyrer und ihre in Syrien lebenden Familien hat sich im Lauf des Jahres 2011 abschließend gebildet und sozusagen „verfestigt“. Seitdem sind lediglich Unterschiede quantitativer Art in den einzelnen Monaten ausmachbar. Dies hat sich auch nach dem Jahreswechsel nicht geändert. Damit ist bei großzügiger Betrachtung spätestens zum Ende des Jahres 2011 von einer gefestigten Änderung der Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG auszugehen. Dieser von der Kammer gewählte Zeitpunkt trägt auch dem Umstand Rechnung, dass zum Jahresende 2011 umfassende Dokumentationen zur Lage in Syrien veröffentlicht wurden, allen voran der Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für Syrien.

Der Asylfolgeantrag des Klägers vom N. wahrt nicht die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG. Dem Kläger musste aufgrund der großen medialen Präsenz die Lage in Syrien auch spätestens zum Jahresende 2011 bekannt gewesen sein. Hinzu kommt, dass im Ausland lebende Syrer erfahrungsgemäß mit Familie und Freunden in der Heimat im Austausch stehen und oftmals frühzeitig Kenntnisse „aus erster Hand“ über die dortige aktuelle politische Situation haben. Der Kläger hat zudem trotz Vorhalts in der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 2013 keine Tatsachen vorgetragen, die es rechtfertigen könnten, in seinem Einzelfall von einem anderen Beginn des Fristenlaufs auszugehen.

Der Kläger hat auch aus § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des abgeschlossenen Asylverfahrens. Denn die Verweisung des § 71 Abs. 1 und 3 AsylVfG auf lediglich § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG schließt die Möglichkeit einer Ermessensentscheidung nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG für Asylfolgeanträge aus (vgl. BVerGE 111, 77). Der Kläger hat daher nur einen gebundenen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf subsidiären Schutz wegen einer Ermessensreduktion auf Null (vgl. für die dogmatische Begründung: BVerwG NVwZ 2000, 204). Diesem Anspruch ist das Bundesamt mit der Feststellung des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG nachgekommen.

Daher hat der Kläger zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 S. 1 und 2 ZPO.