Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 20.04.2004, Az.: 4 A 314/02

Eingliederungshilfe; lebenspraktische Fähigkeiten

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
20.04.2004
Aktenzeichen
4 A 314/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50603
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt, den Beklagten zu verpflichten, die Kosten für ein Training lebenspraktischer Fertigkeiten im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen.

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Der jetzt 39 Jahre alte Kläger ist seit seiner Geburt blind. Der Grad seiner Behinderung beträgt 100. Er wurde als Kleinkind adoptiert und lebte bis zum Tode seiner Adoptiveltern im Oktober 1994 mit diesen in H..

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Am 19. November 1994 zog der Kläger in das „I.“ in E., dessen Träger die J. gGmbH ist. Es handelt sich um eine stationäre Langzeiteinrichtung für blinde und sehbehinderte Volljährige. Der Kläger ist bei der DAK krankenversichert.

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Nachdem das Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben unter dem 4. Januar 1995 ein Grundanerkenntnis für die Gewährung von Eingliederungshilfe für die stationäre Betreuung des Klägers erteilt hatte, gewährte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 6. Februar 1995 Eingliederungshilfe für den genannten Heimaufenthalt zunächst als Darlehen. Der Kläger hatte die von seinen Adoptiveltern erworbene Erbschaft bis zu der gesetzlichen Freigrenze einzusetzen. Die Hilfe wurde mit Ablauf des 30. September 1995 deshalb schließlich eingestellt. Nach dem Verbrauch des einzusetzenden Vermögens erhielt der Kläger seit dem 1. Dezember 1999 wieder Eingliederungshilfe für seine stationäre Betreuung.

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Nach dem Heimvertrag erhält der Kläger Unterkunft, Verpflegung und Versorgung sowie Betreuung. Dazu gehören u. a. das Reinigen des Zimmers, Wäsche und Reinigung der Bekleidung, Zubereitung der Mahlzeiten, auf Wunsch Erledigung des Behördenverkehrs, Freizeitangebote und Beschäftigungstherapie.

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Die Einrichtung, in der der Kläger lebt, leistet nach eigenen Angaben u. a.

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- die erforderliche Grundpflege und gewährleistet die Durchführung notwendiger Behandlungspflege, sowie von speziellen Therapien, die auch von außenstehenden Therapeuten durchgeführt werden und weiter

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- sozialpädagogische Förderung. Förderungsziele sind auch die Verselbständigung in lebenspraktischen Bereichen.

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Der Träger der Einrichtung stellt ebenfalls nach eigenen Angaben u. a. folgende Hilfen und Maßnahmen sicher:

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- die notwendigen grundpflegerischen Hilfen,

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- Umgang mit blindheits- und sehbehinderungsspezifischen Hilfsmitteln, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln sowie deren Beschaffung, Pflege und Instandhaltung,

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- regelmäßige Mahlzeiten und deren Darreichung unter kultivierten Bedingungen und

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- weitere Hilfen, die aufgrund von funktionellen und intellektuellen Einschränkungen oder individuellen psychosozialen Problemstellungen notwendig sind, z. B. Anleitung zur Selbstpflege, Schutz vor Selbst- und Fremdgefährdung, Umgang mit Geld, bei der Beschaffung und Pflege von Wäsche und Bekleidung.

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Aus einem Schreiben des Blindenverbandes Niedersachsen e. V. vom 4. Januar 1999 lässt sich entnehmen, dass der Kläger bei seinen Eltern offenbar sehr unselbständig gelebt hatte, das Haus hatte er z. B. so gut wie nie allein verlassen. Er war nie angeleitet worden, hatte eine sehr unvollständige Vorstellung von der Umwelt, ein wenig ausgebildetes Körperschema und konnte seine Restsinne kaum effektiv einsetzen (z. B. Richtungshören, Schalllokalisation, taktile Informationsverarbeitung über den Langstock).

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An diesen Defiziten wurde in speziellen Trainingsprogrammen gearbeitet. Aus Mitteln der Krankenversicherung wurden ab 1998 180 Stunden Orientierungs- und Mobilitätstraining finanziert, in dem der Kläger lernte, mit dem Langstock umzugehen und sich ohne Begleitung außerhalb des Heimes in begrenztem Umfang zu orientieren.

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Die von dem Kläger bei der DAK beantragte Kostenübernahme für ein weiteres Orientierungs- und Mobilitätstraining wurde im Sommer 1999 abgelehnt. Eine vor dem Sozialgericht E. deshalb erhobene Klage nahm der Kläger, nachdem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden war, im Januar 2001 wieder zurück.

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Mit Schreiben vom 29. Januar 2001 beantragte er bei dem Beklagten die Übernahme der Kosten für ein Einzeltraining in lebenspraktischen Fertigkeiten entsprechend einem Angebot des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Niedersachsen e. V. vom selben Tage über 100 Trainingsstunden nebst Fahrkostenerstattung und Fahrtzeitentschädigung. Der Unterricht sollte die Trainingsbereiche Essenstechniken (Umgang mit Messer und Gabel, Brote bestreichen), Körperpflege (Rasieren, Nägel schneiden), eigenhändige Unterschrift, Schuhe putzen, und Umgang mit unterschiedlichen Hilfsmitteln umfassen.

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Der Beklagte hörte den Kläger unter dem 25. Mai 2001 zu einer beabsichtigten Ablehnung der beantragten Hilfe an. Er äußerte, dass der Kläger in einer Blindeneinrichtung lebe. Aufgabe und Ziel dieser Einrichtung sei es, den Behinderten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und sie soweit wie möglich zu verselbständigen. Nach den vorliegenden Unterlagen biete die Einrichtung umfangreiche Hilfen und Maßnahmen im Rahmen der Betreuung behinderter Menschen an. Insbesondere würden die Hilfsmaßnahmen angeboten, um lebenspraktische Fertigkeiten zu erlangen.

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Der Kläger machte daraufhin geltend, dass die in Rede stehenden lebenspraktischen Fertigkeiten nur von einem ausgebildeten Rehabilitationslehrer im Einzelunterricht vermittelt werden könnten und ein solcher von der Einrichtung, in der er lebe, nicht beschäftigt werde.

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Mit Bescheid vom 9. November 2001 lehnte der Beklagte die Übernahme der Kosten für das beantragte Einzeltraining ab: Eingliederungshilfe werde nur gewährt, wenn die Maßnahme notwendig und erforderlich sei. Die Einrichtung leiste bereits umfangreiche Hilfemaßnahmen und zudem habe die Krankenkasse die Versorgung mit einem Langstock und die Ausbildung in dessen Gebrauch finanziert. Es sei nicht erkennbar, dass darüber hinaus das beantragte Training erforderlich sei.

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Nach der Abfassung des Bescheides erhielt der Beklagte die Mitteilung der J. gGmbH, dass der Kläger zurzeit nicht in der Lage sei, mit Messer und Gabel zu essen, er benutze entsprechend der Mahlzeiten die Gabel oder den Löffel. Die Maßnahmen des lebenspraktischen Trainings könnten nur durch einen autorisierten Trainer durchgeführt werden. Im Rahmen der Aufgabenstellung würden seitens des Heimes durch geeignete Maßnahmen die erworbenen Fähigkeiten unterstützt werden, z. B. passe die Küche nach Absprache mit dem Trainer die Anreichung der Speisen der veränderten Situation an. Weiter teilte die DAK dem Beklagten mit, dass die Übernahme der Kosten für Unterricht in lebenspraktischen Fertigkeiten keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung sei. Die Vermittlung lebenspraktischer Fertigkeiten sei nicht hilfsmittelassoziiert, sondern sei eine Maßnahme zur gesellschaftlichen Eingliederung.

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Am 1. Dezember 2001 erhob der Kläger Widerspruch gegen den ablehnenden Bescheid des Beklagten, den der Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen e. V. für den Kläger begründete. Es wurde dargelegt, dass der Kläger es als unangenehm empfinde, bei einem so intimen Bereich wie dem Schneiden der Finger- und Fußnägel sowie dem Rasieren auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Er habe es noch nie gelernt, mit Messer und Gabel umzugehen. Er würde gerne hin und wieder in einem Restaurant essen und vor allem seine täglichen Mahlzeiten im Originalzustand erhalten, ohne dass die Küche ihm alles zerkleinere. Dass er keine Unterschrift leisten könne, empfinde er als erniedrigend. Entweder werde in seinem Auftrag unterschrieben oder seine Hand werde geführt. Schließlich müssten seine Schuhe öfter gereinigt werden, seitdem er nach Beendigung des Orientierungs- und Mobilitätstrainings viele Wege alleine mache. Da er seine Schuhe nicht selbst putzen könne, müsse er dies von jemandem ausführen lassen, der auch nicht immer Zeit und Lust dazu habe.

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Am 29. Mai 2002 äußerte sich auf Veranlassung des Beklagten der Amtsarzt Dr. K. der L. E. und beschrieb, dass der Kläger erhebliche Defizite hinsichtlich der lebenspraktischen Fertigkeiten habe: Er könne zwar Fleisch klein schneiden, aber nicht sauber mit Messer und Gabel essen. Deshalb werde ihm im Heim das Essen mundgerecht zubereitet, das er dann mit Löffel oder Gabel zu sich nehme. Die Nägel kaue er sich nach eigenen Angaben ab (auch die Fußnägel, wie er während des Hausbesuches am 14.5.2002 demonstriert habe). Er sei aber nicht in der Lage, sich diese selbst sauber zu schneiden. Zum Nägelschneiden könnte er den Pflegedienst des Hauses in Anspruch nehmen, möchte dies jedoch lieber selbst bewerkstelligen. Eine erkennbare Unterschrift könne der Kläger nicht leisten. Im Heim bestehe die Möglichkeit, sich gegen einen finanziellen Ausgleich die Schuhe putzen zu lassen. Der Kläger wolle dies jedoch selbst beherrschen, um von anderen unabhängiger zu sein. Dies gelte auch für alle anderen lebenspraktischen Verrichtungen. Insgesamt bleibe festzustellen, dass dem Kläger im Heim alle lebensnotwendigen Versorgungen angeboten würden und er dort nicht verwahrlosen müsse. Ein Einzeltraining lebenspraktischer Fertigkeiten könne aber nur durch entsprechend geschulte und diplomierte LPF-Trainerinnen und -Trainer durchgeführt werden. Über derartig ausgebildetes Personal verfüge das Heim nicht, so dass ein LPF-Einzeltraining dort nicht angeboten werden könne. Der Wunsch des Klägers nach vermehrter Selbständigkeit und Abbau von Fremdabhängigkeit sei nachvollziehbar. Da es keine Alternative zum Erlernen lebenspraktischer Fertigkeiten für Blinde gebe, sei aus medizinischer Sicht die Durchführung eines Einzeltrainings lebenspraktischer Fertigkeiten für den Kläger behinderungsbedingt notwendig. Zunächst würden 40 Einzeltrainingsstunden in lebenspraktischen Fertigkeiten befürwortet. Sollte der Kläger weitere Trainingsstunden benötigen, sei die Anforderung eines Entwicklungsberichtes vom LPF-Trainer notwendig.

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Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 2002 - zugestellt am 25. Juli 2002 - wies das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben den Widerspruch gegen den Bescheid des Beklagten vom 9. November 2001 mit der Begründung zurück, dass der Anspruch nach § 39 BSHG und § 40 Abs. 1 Nr. 1 BSHG i. V. m. § 2 Abs. 1 BSHG nicht bestehe, weil die Einrichtung, in der der Kläger lebe, von ihrer Konzeption her eine Fülle von Maßnahmen anbiete, die die dort betreuten Menschen beim Erlernen lebenspraktischer Fertigkeiten unterstützen sollten; hierzu gehörten auch die von dem Kläger beispielhaft genannten Tätigkeiten. Aus den vorliegenden Entwicklungsberichten der J. gGmbH ließe sich ablesen, dass dem Kläger derartige Unterstützung auch angeboten worden sei. Diese sei jedoch von dem Kläger nicht immer angenommen worden, so heiße es beispielsweise in dem Bericht vom 6. November 2001: „Seinerseits nimmt Herr V. kaum an Angeboten des Begleitenden Dienstes teil ...“. - Sofern aber trotzdem ein über dieses Angebot der betreuenden Einrichtung hinausgehendes und von der Einrichtung nicht zu leistendes Training lebenspraktischer Fertigkeiten notwendig sein sollte, sei dieses gemäß § 26 Abs. 3 Nr. 6 SGB IX i. V. m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX von der zuständigen Krankenkasse durchzuführen und zu finanzieren. Dieses sei auch bereits insofern erfolgt, als die DAK ein insgesamt 180 Stunden umfassendes Training bezahlt habe. Ein weiteres Training halte die Krankenkasse (deren Spitzenverband grundsätzlich eine Schulung von 60 Stunden für ausreichend halte) nicht für notwendig. Da jedoch nach dem Inkrafttreten des SGB IX die Leistungen der Sozialhilfeträger grundsätzlich nicht über die Leistungen der Krankenkassen hinausgingen (was durch den Verweis in § 40 BSHG auf die entsprechenden Normen des SGB IX, die wiederum auch für die Krankenkassen gelten würden, zum Ausdruck komme), komme eine ersatzweise Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers für eine Fortsetzung des LPF-Trainings nicht in Betracht. Der Kläger müsse sich daher, wenn er eine weitere Förderung der beantragten Art für notwendig halte und die betreuende Einrichtung diese aus dem vereinbarten Entgelt tatsächlich nicht leisten könne, mit einem neuen Antrag an die DAK wenden, die dann nach dem seit dem 1. Juli 2001 (Inkrafttreten des SGB IX) geltenden Recht neu zu entscheiden habe.

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Am 23. August 2002 hat der Kläger Klage erhoben.

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Zur Begründung bezieht er sich auf das bisherige Vorbringen und macht weiter geltend, dass das Orientierungs- und Mobilitätstraining, das er erhalten habe, von dem Training im lebenspraktischen Bereich zu unterscheiden sei, in dem andere Fertigkeiten vermittelt würden. In der Einrichtung, in der er lebe, würden die Trainingsmaßnahmen nicht angeboten. Das LPF-Training erfolge über externe Lehrer. Es sei von ihm auch nach der seit der Antragstellung verstrichenen Zeit nicht zu verlangen, zunächst zu versuchen, die Leistung für das LPF-Training von der Krankenkasse zu erhalten. Das Subsidiaritätsprinzip des § 2 Abs. 1 BSHG greife im Übrigen nur dann, wenn der Bedürftige die erforderliche Hilfe von einem Träger anderer Sozialleistungen tatsächlich erhalte. Dies sei aber gerade nicht der Fall.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 9. November 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 23. Juli 2002 aufzuheben, und den Beklagten zu verpflichten, die Kosten für das Training lebenspraktischer Fertigkeiten in dem beantragten Umfang zu übernehmen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er erwidert, dass die Einrichtung, in der der Kläger lebe, auf die Betreuung und den Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen spezialisiert sei. Dementsprechend habe die Einrichtung für diesen Personenkreis Hilfemaßnahmen zu leisten. Das begehrte Training in lebenspraktischen Fertigkeiten erhalte der Kläger in der Einrichtung zwar nicht, da es sich aber offenbar um eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation handele, gehöre eine derartige Maßnahme auch nicht zum Leistungsumfang des Einrichtungsträgers. Der Kläger hätte daher einen Leistungsanspruch an die DAK richten müssen, die vorrangig verpflichteter Leistungsträger sei. Die DAK habe zwar auf seine, des Beklagten, Anfrage hin, die Auffassung vertreten, dass sie nicht leistungsverpflichtet sei. In einem Antragsverfahren hätte der Kläger aber eine endgültige Klärung herbeiführen müssen.

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Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie die Widerspruchsvorgänge des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist insoweit begründet, als der Kläger von dem Beklagten beanspruchen kann, die Kosten für 40 Stunden des beantragten Trainings in lebenspraktischen Fertigkeiten als Eingliederungshilfe nach § 39 BSHG a. F. zu übernehmen.

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Im Übrigen (wegen weiterer 60 Trainingsstunden) ist die Klage unbegründet.

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Die Zuständigkeit des Beklagten für die hier umstrittenen Hilfeleistungen, die nicht im Rahmen der stationären Heimbetreuung im Bereich der L. E. erbracht werden, sondern eine gesonderte Maßnahme darstellen, ergibt sich aus § 100 Abs. 2 BSHG. Da der überörtliche Träger der Sozialhilfe sachlich für die Kosten der stationären Betreuung des Klägers zuständig ist, ist er auch für alle übrigen Leistungen zuständig. Der Beklagte ist nach § 2 Abs. 1 Heranziehungsverordnung-AG-BSHG vom 14. April 1994 (die hier anzuwenden ist, weil materiell rechtlich maßgeblich auf das Datum der Antragstellung am 29.1.2001 abzustellen ist, wie noch auszuführen ist) die örtlich zuständige herangezogene Gebietskörperschaft.

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Anspruchsgrundlage ist § 39 BSHG in der vor dem 1. Juli 2001 geltenden Fassung. Die ab 1. Juli 2001 in Kraft getretene Neuregelung, die im Zusammenhang mit dem SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - vorgenommen worden sind, kommt hier noch nicht zur Anwendung, weil Art. 67 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX bestimmt, dass auf Leistungen zur Teilhabe bis zum Ende der Leistungen oder Maßnahmen die Vorschriften in der vor dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes geltenden Fassung weiter anzuwenden sind, wenn vor diesem Tag der Anspruch entstanden ist.

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Der Anspruch entsteht - unter der Voraussetzung, dass der gesetzliche Anspruchstatbestand erfüllt ist - in dem Zeitpunkt des Beantragens der Leistung, hier dem 29. Januar 2001. Dass der Anspruch seinerzeit nicht hat realisiert werden können, ändert nichts daran, dass der Anspruch entstanden ist, und zwar in dem Umfang, wie er jetzt zugesprochen wird (vgl. auch VG Braunschweig, Urteil vom 29.8.2002 - 3 A 341/01 -).

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Nach § 39 Abs. 1 BSHG a. F. ist Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch behindert sind, Eingliederungshilfe zu gewähren. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es nach § 39 Abs. 3 BSHG a. F. eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört vor allem, dem Behinderten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihm die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder ihn soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Eingliederungshilfe wird gemäß § 39 Abs. 4 BSHG a. F. gewährt, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.

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Der Kläger ist nicht nur vorübergehend körperlich wesentlich behindert und hat deshalb einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe.

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Ziel des vorgesehenen Trainings ist es, den Kläger in die Lage zu versetzen, sich seine Finger- und Fußnägel selbst schneiden zu können, also ohne die Inanspruchnahme von pflegerischer Hilfe Dritter insoweit selbst für seine Körperpflege in angemessener Form sorgen zu können. Das Erlernen einer solchen Tätigkeit zu ermöglichen, gehört damit zu den Aufgaben der Eingliederungshilfe.

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Auch das Training des Essens mit dem Messer und Gabel, das der Kläger durchführen möchte, wird von dem Aufgabenbereich der Eingliederungshilfe umfasst. Es würde ihn nicht nur unabhängiger von Hilfeleistungen bei der Nahrungsaufnahme machen, indem ihm Speisen nicht bereits zerkleinert angereicht werden müssten, sondern er wäre in der Lage vor allem auch außerhalb des Hauses, in dem er lebt, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen, indem er selbständig ohne besonders auffällige behinderungsbedingte Einschränkungen, z. B. in einem Restaurant essen könnte.

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Weiter gehört auch das Schuheputzen zu den Fertigkeiten, die den Kläger unabhängiger von der Versorgung durch andere machen. Gerade im Hinblick darauf, dass der Kläger gelernt hat, mit Hilfe des Langstocks sich selbst zu orientieren und ohne Begleitung Fußwege außerhalb des Wohnheimes zu unternehmen, ist ein besonderer Bedarf für die Reinigung der Schuhe anzuerkennen, so dass die Erledigung des Schuheputzens nicht nur von untergeordneter Bedeutung ist, sondern einen Teil der Verselbständigung darstellt.

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Schließlich ist ohne Weiteres von Bedeutung, dass der Kläger selbst eine Unterschrift leisten kann, um am normalen Rechtsverkehr eigenverantwortlich teilnehmen zu können.

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Das Training der aufgezeigten lebenspraktischen Fertigkeiten ist nach der amtsärztlichen Stellungnahme vom 29. Mai 2002, der die Kammer folgt, durch entsprechend geschulte und diplomierte Trainerinnen oder Trainer durchzuführen, eine Alternative zum Erlernen lebenspraktischer Fertigkeiten für Blinde gebe es nicht, so dass das begehrte Training eine geeignete Eingliederungshilfemaßnahme darstellt, blindheitsbedingte Erschwernisse des Klägers auszugleichen.

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Allerdings ist nach amtsärztlicher Einschätzung, der die Kammer auch an dieser Stelle folgt, ein Umfang von zunächst nur 40 Trainingsstunden - und nicht 100, wie der Kläger beantragt hat - als erforderlich anzusehen.

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Dem dargestellten Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe steht nicht etwa das Subsidiaritätsprinzip des § 2 Abs. 1 BSHG entgegen.

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Denn das Heim, in dem der Kläger lebt, leistet das LPF-Training nicht und ist nach dem Heimvertrag auch nicht leistungsverpflichtet. Die unabhängig von dem Heimvertrag seitens des Heimträgers aufgestellte Leistungsbeschreibung enthält zwar als Förderungsziele u. a. die Verselbständigung der Bewohner, aufgeführt wird auch die Anleitung zur Selbstpflege. Ein spezielles Einzeltraining, das für den Kläger hier erforderlich ist, wird aber ersichtlich nicht angeboten. Es ist daher nicht entscheidungserheblich, dass der Kläger möglicherweise „kaum an Angeboten des Begleitenden Dienstes teilnimmt“, weil diese Angebote seinen Eingliederungshilfebedarf nicht abdecken.

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Der Kläger hat schließlich für das LPF-Training keine Leistungen der Krankenkasse erhalten. Die DAK hat 180 Stunden Orientierungs- und Mobilitätstraining finanziert und hat dem Beklagten gegenüber im Verwaltungsverfahren ihre Leistungsverpflichtung für ein LPF-Training - nach altem Recht - verneint. Ob die Krankenkasse nach dem Inkrafttreten des SGB XI leistungsverpflichtet wäre, ist hier nicht zu entscheiden. Nach § 26 Abs. 3 Nr. 6 SGB IX ist das Training lebenspraktischer Fertigkeiten eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation (§ 5 Nr. 1 SGB IX), für die die gesetzlichen Krankenkassen (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) aber auch die Träger der Sozialhilfe (§ 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX) Leistungsträger sein können.

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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.