Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 18.05.2022, Az.: 9 K 140/21

Auszahlungsbeschränkung für festgesetztes Kindergeld

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
18.05.2022
Aktenzeichen
9 K 140/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 40810
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - AZ: III R 29/22

Tatbestand

Streitig ist die Auszahlungsbeschränkung gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für das für die Kinder S und E für November 2018 bis August 2020 festgesetzte Kindergeld auf den Zeitraum März bis August 2020.

Der Kläger ist leiblicher Vater der Kinder S, geboren am xx. xx. 2003, und E, geboren am xx. xx. 2004. Leibliche Mutter der Kinder ist die inzwischen vom Kläger geschiedene Frau M. Diese erhielt zunächst laufend Kindergeld für die beiden minderjährigen Töchter und ein weiteres Kind.

Mit Antrag vom 3. September 2020, eingegangen bei der Familienkasse am 15. September 2020, beantragte der Kläger, ihm Kindergeld für die beiden Töchter S und E zu bewilligen. In seinem Antrag teilte er mit, dass er seit November 2018 von seiner Ehefrau dauernd getrennt lebe. Kindergeld habe bisher die Kindesmutter beantragt und bezogen. Auf die Rückfrage der Familienkasse erklärte der Kläger, dass die Töchter seit ihrer Geburt im Haushalt des Klägers leben würden.

Mit Bescheid vom (...) bewilligte die Familienkasse dem Kläger zunächst antragsgemäß Kindergeld für die Töchter S und E für den Zeitraum September 2020 bis Februar 2021 bzw. Dezember 2022, da die Kinder in seinen Haushalt aufgenommen seien.

Sodann bat die Familienkasse den Kläger hinsichtlich seines Antrags auf rückwirkende Gewährung von Kindergeld für den Zeitraum November 2018 bis August 2020 um Sachverhaltsaufklärung, da nach Auskunft der Rechtsanwältin der Kindesmutter das Kindergeld für diesen Zeitraum auf sein Konto gezahlt worden sei. Die Familienkasse bat daher um die Bestätigung der Weiterleitung des Kindergeldes an ihn. Der Kläger erklärte hierauf mit Schreiben vom 5. Februar 2021, dass er infolge der Insolvenz seiner Ex-Ehefrau ein Konto bei der K-Bank für sie eröffnet habe. Er sei zwar Namensgeber zur Kontoeröffnung gewesen, habe jedoch keine Verfügungsgewalt über dieses Konto gehabt. Über dieses Konto, auf das auch die Kindergeldzahlungen gegangen seien, habe ausschließlich seine Ex-Ehefrau verfügt. Er erkläre daher an Eides-Statt, dass ausnahmslos seine Ex-Ehefrau über das Kindergeld verfügt und nicht einen Euro an ihn weitergeleitet habe.

Die Familienkasse bewilligte dem Kläger daraufhin mit Bescheid vom (...) Kindergeld für die Töchter S und E für den Zeitraum von November 2018 bis einschließlich August 2020, zahlte jedoch nur das für den Zeitraum März 2020 bis August 2020 in Höhe von 2.448,00 € festgesetzte Kindergeld aus, da aufgrund gesetzlicher Änderung Anträge, die nach dem 18. Juli 2019 eingegangen seien, unabhängig vom festgesetzten Zeitraum, rückwirkend nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten 6 Kalendermonate vor dem Eingang des Antrags bei der Familienkasse führten.

Gegen diese Auszahlungsbeschränkung erhob der Kläger am (...) Einspruch. Zur Begründung führte er aus, dass mit Bescheid vom 12. Februar 2021 das für den Zeitraum November 2018 bis August 2020 überzahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 8.948,00 € von seiner Ex-Ehefrau zurückgefordert worden sei. Die Rückforderung beruhe darauf, dass sich die beiden Kinder im besagten Zeitraum in seinem Haushalt aufgehalten hätten und die Kindesmutter insoweit zu Unrecht Kindergeld bezogen habe. In den mit der Familienkasse geführten Telefonaten habe diese regelmäßig erklärt, dass er das rückständige Kindergeld in voller Höhe erhalten würde, sobald seine geschiedene Ehefrau den Betrag an die Familienkasse zurückgezahlt habe. Möglicherweise habe die Familienkasse auch angedeutet, dass sich die geschiedenen Eheleute untereinander verständigen könnten. Man habe jedoch entschieden, dass die Kindesmutter den Betrag an die Familienkasse zurückzahle, weil er aufgrund der Telefonate mit der Familienkasse davon ausgegangen sei, dass er genau diesen Betrag auch wieder von der Familienkasse ausgezahlt erhalten würde. Es könne nun nicht sein, dass aufgrund der gegebenen Situation die Familienkasse einen Betrag in Höhe von 6.500 € "erspart" habe. Die sich möglicherweise ergebende steuerliche Auswirkung über den Kinderfreibetrag sei kein adäquater Ersatz für das einbehaltene Kindergeld. Zudem habe es an einer Aufklärung über den Inhalt des § 70 Abs. 1 EStG gefehlt, zu der die Familienkasse bei der vorliegenden Sachlage und den hohen Beträgen verpflichtet gewesen sei. Insofern stünde ihm auch ein Schadensersatzanspruch wegen Amtspflichtverletzung zu.

Die Familienkasse folgte der Auffassung des Klägers nicht und wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom (...) als unbegründet zurück. Gemäß der Regelung in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG könnten Anträge auf Gewährung von Kindergeld, die nach dem 18. Juli 2019 eingegangen seien, rückwirkend nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten 6 Kalendermonate vor dem Eingang des Antrags bei der Familienkasse führen. Der Kläger habe am 15. September 2020 die Festsetzung des Kindergeldes ab November 2018 beantragt. Damit sei die Nachzahlung des für den Zeitraum von November 2018 bis August 2020 festgesetzten Kindergeldes auf den Zeitraum März 2020 bis August 2020 zu beschränken gewesen.

Die Erstattungspflicht der ehemals Kindergeldberechtigten für den Zeitraum November 2018 bis August 2020 ergebe sich demgegenüber aus § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO). Hiernach habe die Familienkasse das Kindergeld zu Recht von der Kindesmutter zurückgefordert, da ein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld nicht bestanden habe und die Kindergeldfestsetzung insoweit aufgehoben worden sei. Der Rückforderungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO sei Ausdruck des übergeordneten und allgemeinen Grundsatzes, dass derjenige, der vom Staat zulasten der Allgemeinheit eine Leistung ohne Rechtsanspruch erhalten habe, diese erstatten müsse. Zwar könne die Familienkasse aufgrund einer verwaltungsinternen Billigkeitsregelung nach § 227 AO unter bestimmten weiteren Voraussetzungen auf die Durchsetzung des Erstattungsanspruchs verzichten, wenn das Kindergeld an den eigentlich anspruchsberechtigten Elternteil weitergeleitet worden sei. Der Verzicht auf die Rückforderung durch eine Billigkeitsmaßnahme sei jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Einspruchsverfahrens, weil mit dem angefochtenen Verwaltungsakt keine Entscheidung über einen Billigkeitserlass nach § 227 AO getroffen worden sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die beim Niedersächsischen Finanzgericht erhobene Klage, mit der der Kläger sein Begehren auf Auszahlung des festgesetzten Kindergeldes für die Töchter S und E für den Zeitraum November 2018 bis Februar 2020 weiterverfolgt.

Ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen weist der Kläger darauf hin, dass er mehrfach mit der Sachbearbeiterin Frau B telefoniert und die Auskunft erhalten habe, das Kindergeld werde an ihn ausgezahlt, sobald die Kindesmutter den Erstattungsbetrag an die Beklagte gezahlt habe. Auf die Auszahlungsbeschränkung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG sei er nicht hingewiesen worden. Zudem hätten die Eheleute anlässlich ihrer Scheidung am 23. März 2021 einen gerichtlichen Vergleich geschlossen hätten, bei dem sie davon ausgegangen seien, dass der Kläger das Kindergeld für S und E ab November 2018 von der Familienkasse nachgezahlt erhalte. Infolgedessen habe die Kindesmutter den Rückforderungsbetrag wenige Tage vor Abschluss des Vergleichs an die Familienkasse überwiesen.

Vorliegend sei unstreitig, dass die Eltern von S und E während des Zeitraums von November 2018 bis einschließlich Februar 2020 kindergeldberechtigt gewesen seien. Nachdem die Beklagte von der Zughörigkeit der Kinder zum Haushalt des Klägers erfahren habe, hätte es nahegelegen, die Eltern über die Möglichkeiten der Weiterleitung und der sich hieraus ergebenden Konsequenzen aufzuklären. Der sich nunmehr infolge des Verstoßes der Beklagten gegen ihr obliegende Informations- und Auskunftspflichten darstellende Sachverhalt "bereichere" die Beklagte um 6.500,00 € und stelle in gleicher Höhe eine nachträgliche Einkommenseinbuße der von Art. 6 Grundgesetz (GG) geschützten Familie dar.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom (...) in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom (...) zu verpflichten, dem Kläger das Kindergeld für die Kinder S und E für den Zeitraum November 2018 bis Februar 2020 auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vom (...) und macht diese zum Gegenstand ihres Vortrags.

Ergänzend weist sie daraufhin, dass der Kläger gegenüber der Beklagten unmissverständlich erklärt habe, dass eine Weiterleitung des an seine Ex-Ehefrau ausgezahlten Kindergeldes nicht stattgefunden habe. Eine weitergehende Prüfung der Billigkeitsmaßnahme nach § 227 AO sei daher schon gar nicht in Betracht gekommen. Zudem könne ein Verzicht auf die Rückforderung durch eine Billigkeitsmaßnahme nicht Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens sein, weil mit dem angefochtenen Verwaltungsakt keine Entscheidung über eine solche Billigkeitsmaßnahme getroffen worden sei.

Soweit der Kläger darauf verweise, durch eine Mitarbeiterin der Beklagten die mündliche Auskunft erhalten zu haben, dass er bei erfolgter Rückzahlung des Kindergeldes durch die geschiedene Ehefrau rückwirkend ab November 2018 Kindergeld für S und E erhalten werde, so sei diese Auskunft in keiner Weise verbindlich. Ein Anruf des Klägers bei der Beklagten sei zudem lediglich für den 24. August 2020 aktenkundig geworden.

Wenn die geschiedenen Eheleute nachträglich hätten feststellen müssen, dass der vor dem Amtsgericht ... geschlossene Vergleich auf falschen Annahmen beruht habe, so sei dies eine privatrechtliche Angelegenheit der Eheleute untereinander. Für den vorliegenden Rechtsstreit ergebe sich hieraus keine Relevanz.

Soweit der Kläger von einer Aufklärungspflicht der Beklagten über die Möglichkeit einer nachträglichen Weiterleitung ausgehe, so sei die Beklagte dieser Verpflichtung durch die Übersendung der Weiterleitungserklärung hinreichend nachgekommen. Eine Verpflichtung zu einer umfassenden Beratung über alle rechtlich zulässigen Gestaltungsmöglichkeiten zur Ausschöpfung des höchstmöglichen Kindergeldanspruchs bestehe gemäß § 89 AO nicht. Die Auskunftserteilungspflicht gemäß § 89 Abs. 1 Satz 2 AO beziehe sich nur auf verfahrensrechtliche Fragen, nicht jedoch auf die materielle Rechtslage. Die Auskunft über materiell-rechtliche Fragen sei zwar nicht ausgeschlossen, ein Anspruch hierauf bestehe jedoch nicht. Der Beklagte sei nur verpflichtet gewesen, auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass eine Weiterleitungserklärung abgegeben werden könne. Ein entsprechender Erklärungsvordruck sei übersandt worden. Hierauf habe der Kläger selbst erklärt, kein Kindergeld weitergeleitet bekommen zu haben.

Ein Verstoß gegen Art. 6 GG liege ebenfalls nicht vor. Die einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung von Kindern bei ihren Eltern im System des Familienlastenausgleichs erfolge, indem bei der Besteuerung der Eltern ein dementsprechender Betrag (Freibeträge für Kinder i. S. d. § 32 Abs. 6 EStG) steuerfrei belassen werde, zunächst aber durch monatlich auf Antrag festgesetztes und ausgezahltes Kindergeld (vgl. § 31 EStG). Dies werde durch die Beklagte mit der Festsetzung des Kindergeldes umgesetzt.

Dem Senat hat bei seiner Entscheidung die unter der Ordnungsnummer (...) geführte Kindergeldakte der Beklagten vorgelegen. Wegen des weiteren Vorbringens wird hierauf sowie auf die Schriftsätze der Beteiligten und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2022 Bezug genommen (§ 105 Abs. 3 Satz 2 Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet.

Der angefochtene Abrechnungsbescheid vom (...) in Gestalt des Einspruchsbescheides vom (...) ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Beklagte hat in Anwendung der Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG rechtmäßig die Auszahlung des Kindergeldes für den Zeitraum November 2018 bis Februar 2020 abgelehnt.

1. Es handelt sich vorliegend um eine Streitigkeit im Erhebungsverfahren, da die Auszahlungsbeschränkung nach der Gesetzesänderung vom 11. Juli 2019 mit Wirkung vom 18. Juli 2019 (BGBl I 2019, 1066) in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG aufgenommen wurde. Über Streitigkeiten, die die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis betreffen, ist durch die Finanzbehörde mit Abrechnungsbescheid zu entscheiden (§ 218 Abs. 2 Satz 1 AO; hier: die Auszahlung des Kindergeldes als Steuervergütung gemäß § 31 Abs. 3 EStG).

Der vom Kläger angefochtene Bescheid vom (...) stellt jedenfalls in der Gestalt, die er durch die Einspruchsentscheidung vom (...) gefunden hat, einen Abrechnungsbescheid i.S. des § 218 Abs. 2 AO dar.

Der Senat lässt dahinstehen, ob es sich bereits bei dem unter der Überschrift "Nachzahlung" im Bescheid vom (...) enthaltenen Abrechnungsteil um einen förmlichen Abrechnungsbescheid i.S. des § 218 Abs. 2 AO handelt oder lediglich um eine Nichtzahlungsverfügung (einen Abrechnungsbescheid ablehnend etwa Finanzgericht - FG - Münster vom 26. September 2019 8 K 2081/18 Kg, juris, Rz 28, unter Hinweis auf das Fehlen einer Streitigkeit, die die Verwirklichung der Ansprüche i.S. des § 218 Abs. 1 AO betrifft). In jedem Fall regelte die Familienkasse mit dieser Verfügung gegenüber dem Kläger den Zeitraum, für den nach ihrer Auffassung ein Auszahlungsanspruch bestand (ebenso FG Düsseldorf vom 10. April 2019 10 K 3589/18 Kg, juris, Rz 11). Durch den dagegen gerichteten Einspruch entstand auch eine Streitigkeit zwischen der Familienkasse und dem Kläger, über welche die Familienkasse durch die Einspruchsentscheidung vom (...) entschieden hat. Unerheblich ist dabei, dass die Familienkasse ihre Entscheidung nicht ausdrücklich als Abrechnungsbescheid oder als Bescheid nach § 218 Abs. 2 AO bezeichnet hat (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 7. August 1990 VII R 120/89, BFH/NV 1991, 569, unter II.2.a). Denn aus der Begründung der Einspruchsentscheidung ergibt sich, dass die Familienkasse nicht über die Festsetzung, sondern über den Auszahlungsanspruch entschieden hat, wenn es dort heißt: "Mit Bescheid vom (...) wurde das Kindergeld von November 2018 bis August 2020 festgesetzt, die Nachzahlung konnte aufgrund des § 70 Abs. 1 EStG in der Fassung vom 23.06.2017 jedoch lediglich vom März 2020 bis August 2020 erfolgen. Für davor liegende Zeiträume besteht kein Auszahlungsanspruch" (vgl. BFH, Urteil vom 19. Februar 2020 III R 70/18, BStBl II 2020, 707).

2. Die Beklagte hat gegenüber dem Kläger für die Töchter S und E Kindergeld (auch) für den streitigen Zeitraum November 2018 bis Februar 2020 festgesetzt. Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld für die beiden minderjährigen Kinder lagen gemäß §§ 62, 63 Abs. 1 Satz 1, 32 Abs. 1, Abs. 3 EStG vor. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Der Festsetzungsbescheid ist in Bestandskraft erwachsen. Das Gericht nimmt insoweit von weitergehenden Ausführungen Abstand.

3. Trotz bestandskräftiger Festsetzung des Kindergeldes für den Zeitraum November 2018 bis Februar 2020 hat der Kläger keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes, da eine rückwirkende Auszahlung gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nur für die letzten 6 Monate vor Beginn des Monats erfolgt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Denn anders als noch die Vorgängerregelung in § 66 Abs. 3 EStG a.F. ist die Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG im Bereich des Erhebungsverfahrens anzuwenden.

a) Eine Auslegung der Norm des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG führt unter Berücksichtigung ihrer Stellung im Gesetz dazu, die Regelung dem Erhebungsverfahren zuzuordnen. Bereits die Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG a.F., die bis zum Inkrafttreten der neuen Regelung galt, sah eine Begrenzung für die Auszahlung des Kindergeldes auf die letzten 6 Monate vor Beginn des Monats vor, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen war. Diese Vorschrift betraf jedoch nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht das Erhebungs-, sondern das Festsetzungsverfahren (BFH, Urteile vom 9. September 2020 III R 97/19, BFH/NV 2021, 449 [BFH 09.09.2020 - III R 37/19]; vom 19. Februar 2020 III R 66/18, BStBl II 2020, 704 [BFH 16.06.2020 - VIII R 12/17] und vom 22. April 2020 2020 III R 33/19, BFH/NV 2021, 350 [BFH 22.04.2020 - III R 33/19], jeweils m.w.N.).

Der Wortlaut der neuen Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG mit der Verwendung des Begriffs "Auszahlung" weist hingegen auf das Erhebungsverfahren hin. Während der Gesetzgeber den Begriff "gezahlt" teilweise dem Erhebungs- und teilweise dem Festsetzungsverfahren zuordnet, verwendet er üblicherweise die Begriffe "ausgezahlt" oder "Auszahlung", wenn er den dem Erhebungsverfahren zuzuordnenden Auszahlungsvorgang beschreiben will, so etwa in § 70 Abs. 1 Satz 1, § 72 Abs. 1 Satz 1, § 74 Abs. 1 Sätze 1, 2 und 4 EStG (BFH, Urteil vom 19. Februar 2020 III R 70/18, BStBl II 2020, 707 m.w.N.; so auch FG Münster, Urteile vom 21. Mai 2021 4 K 3164/20 AO und 4 K 3198/20 Kg). Darüber hinaus sprechen für eine Zuordnung zum Erhebungsverfahren auch die Entstehungsgeschichte und die Gesetzesbegründung. Nach der Entwurfsbegründung (Bundestags-Drucksache - BT-Drucks. - 19/8691, 65 ff.) erfolgte die Änderung des § 66 Abs. 3 EStG a.F., weil in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und im steuerrechtlichen Schrifttum die Auffassung vertreten wurde, die Vorschrift sei im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen. Durch den neuen Standort und den veränderten Wortlaut sollte nun eine Zuordnung zum Erhebungsverfahren deutlich gemacht werden (Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 303. Lieferung 04.2021, § 70 EStG, Rn. 7; Avvento in: Kirchhof/Seer, EStG 20. Aufl. 2021, § 70, Rn. 2; Weber-Grellet in: Schmidt, EStG 40. Auflage 2021, § 70 Rz. 3; so auch FG Münster, Urteile vom 21. Mai 2021 4 K 3164/20 AO und 4 K 3198/20 Kg, juris). Für eine Zuordnung zum Erhebungsverfahren spricht zudem der in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebrachte Wille des Gesetzgebers, nach dem die Auszahlungsbeschränkung in Satz 2 das Erhebungsverfahren betrifft (BT-Drucks. 19/8691, 65 zu § 66 Abs. 3 EStG a.F. und 19/8691, 67 zu § 70). Verdeutlicht wird dies durch die Regelung in § 70 Abs. 1 Satz 3 EStG, nach der der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 EStG von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt bleibt. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an und versteht die Regelung in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG als gesetzliche Einschränkung des Anspruchs des Kindergeldberechtigten im Erhebungsverfahren.

b) Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm, insbesondere im Hinblick auf einen Verstoß gegen das Gebot der steuerlichen Verschonung des Familienexistenzminimums (Art. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 GG), bestehen nach Auffassung des erkennenden Senats nicht.

aa) Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist der sich aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ergebende Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungswegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet darüber hinaus, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss (BVerfG, Beschluss vom 10. November 1998 2 BvL 42/93, BStBl II 1999, 174). Nach geltendem Recht wird nach § 31 Satz 1 EStG das Existenzminimum von Kindern durch den Kinderfreibetrag (§ 32 EStG) oder das Kindergeld (§§ 62 ff. EStG) von der Einkommensteuer freigestellt. Bei der näheren Ausgestaltung dieser Ansprüche bleibt es dem Gesetzgeber jedoch unbenommen, ihre Realisierung an die Beachtung von Fristen, auch von materiell-rechtlichen Ausschlussfristen, zu knüpfen. Schon im Interesse einer verlässlichen Haushaltsplanung muss es dem Gesetzgeber dabei erlaubt sein, das Erlöschen von Ansprüchen innerhalb angemessener Frist vorzusehen (vgl. BFH, Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 68/00 BFH/NV 2002, 1293 [BFH 14.05.2002 - VIII R 68/00]). Es ist in diesem Zusammenhang daher nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen die Obliegenheit auferlegt, Kindergeld innerhalb von 6 Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen (BFH, Urteil vom 9. September 2020 III R 37/19, BFH/NV 2021, 449 zu § 66 Abs. 3 EStG a.F. unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 6. November 2003 2 BvR 1240/02, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - Rechtsprechung-Report 2004, 81). Der Senat schließt sich dieser - zu § 66 Abs. 3 EStG a.F. ergangenen - Rechtsprechung des BFH auch mit Blick auf § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG an. Die verfassungsrechtliche Beurteilung hängt nach dem Dafürhalten des Senats nicht davon ab, ob die Frist dem Festsetzungs- oder dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist.

bb) Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Freistellung des Existenzminimums eines Kindes wird im System des Familienleistungsausgleichs dadurch gewährleistet, dass bei der Besteuerung der Eltern in Höhe der Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 6 EStG ein entsprechender Betrag steuerfrei belassen wird. Das im Sinne einer monatlichen Vorauszahlung gezahlte Kindergeld ist dabei gemäß § 31 Satz 4 EStG hinzuzurechnen. Wird das festgesetzte Kindergeld wegen verspäteter Antragstellung jedoch gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht ausgezahlt, bleibt dieser ausgeschlossene Anspruch auf Kindergeld zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Gebots der steuerlichen Verschonung des Familien-/Kinder Existenzminimums im Rahmen der Günstigerprüfung unberücksichtigt. Die im Hinblick auf Art. 6 GG gebotene Steuerfreistellung des Existenzminimums des Kindes bleibt daher auch vor dem Hintergrund des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG gewährt.

cc) Verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf eine Verschonung des Familienexistenzminimums ergeben sich nach Auffassung des erkennenden Senats auch nicht dadurch, dass bei einem Wechsel in der Person des Berechtigten, das zuvor dem anderen, nicht (mehr) berechtigten Elternteil ausgezahlte Kindergeld von diesem in vollem Umfang gemäß § 37 Abs. 2 AO zurückgefordert wird, während dem nunmehr berechtigten Elternteil die Auszahlungsbeschränkung nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG auferlegt und die Nachzahlung rückwirkend für lediglich 6 Monate vorgenommen wird.

Gemäß § 64 Abs. 1 EStG wird Kindergeld für jedes Kind nur an einen Berechtigten ausgezahlt. Sind beide Elternteile grundsätzlich anspruchsberechtigt, wird das Kindergeld an denjenigen gezahlt, welcher das Kind in seinem Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Erfolgt während des Anspruchszeitraums ein Haushaltswechsel des Kindes so kann der das Kind nunmehr in seinen Haushalt aufnehmende Elternteil die Zahlung des Kindergeldes an sich fordern, während der bisher berechtigte Elternteil verpflichtet ist, der Familienkasse die Änderung der Verhältnisse mitzuteilen, da mit der Beendigung der Aufnahme des Kindes in seinen Haushalt sein Kindergeldanspruch hinter den des anderen Elternteils zurücktritt (§ 68 Abs. 1 Satz 1 EStG). Eventuell überzahltes Kindergeld ist gemäß § 37 Abs. 2 AO an die Familienkasse zurück zu zahlen. Verzichtet der nunmehr anspruchsberechtigte Elternteil auf die Geltendmachung seines Anspruchs - aufgrund fehlender Rechtskenntnis oder auch der Annahme, die fortlaufende Zahlung des Kindergeldes an den anderen Elternteil sei rechtmäßig -, so besteht nach Auffassung des Senats keine Veranlassung, ihn anders zu behandeln, als einen Kindergeldberechtigten, der (verspätet) einen alleinigen und erstmaligen Antrag auf Zahlung von Kindergeld stellt und unstreitig der Auszahlungsbeschränkung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG unterliegt. Denn mit der Gewährung von Kindergeld soll - im Sinne einer Vorauszahlung - im laufenden Kalenderjahr die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes sichergestellt werden (Weber-Grellet in: Schmidt, EStG, 40. Aufl. 2021, § 70 Rz. 3). Ausgehend von dieser Zweckbestimmung soll die Regelung im § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG verhindern, dass für einen mehrjährigen Zeitraum in der Vergangenheit rückwirkend Kindergeld ausgezahlt wird. Diesem Zweck entspricht die Norm sowohl im Zusammenhang mit einer neuen, isolierten Antragstellung als auch beim Wechsel der Berechtigten. In beiden Fällen erfolgt eine Festsetzung des Kindergeldes gegenüber dem Berechtigten, (lediglich) der Auszahlungszeitraum wird auf 6 Monate beschränkt. Die verfassungsmäßig gebotene Freistellung des Existenzminimums bleibt auch hier durch das Zusammenspiel von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG und § 31 EStG gewahrt.

dd) Darüber hinaus wird durch die Vorschrift keine "Verhinderungsverwaltung" geschaffen, denn es ist zwischen der formalen Antragstellung und der Vorlage der für eine Kindergeldgewährung erforderlichen Unterlagen zu unterscheiden. Zur Wahrung der 6-Monatsfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist allein ein "schriftlicher" Antrag i. S. d. 67 Satz 1 EStG erforderlich. Weitere Unterlagen sind im Rahmen der wirksamen Antragstellung für die Wahrung der Frist nicht notwendig. Diese können im Verwaltungsverfahren nachgereicht werden.

4. Unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze besteht ein Anspruch des Klägers auf Auszahlung des festgesetzten Kindergeldes für die Monate November 2018 bis Februar 2020 nicht. Die Beklagte hat die Auszahlung des Kindergeldes für die Töchter S und E zutreffend auf die Monate März bis August 2020 beschränkt.

Gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG erfolgt die Auszahlung von festgesetzte Kindergeld nur für die letzten 6 Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Nach § 52 Abs. 50 Satz 1 EStG ist die Vorschrift auf Anträge anzuwenden, die nach dem 18. Juli 2019 eingehen.

a) Der schriftliche Kindergeldantrag des Klägers ist bei der sachlich und örtlich zuständigen beklagten Familienkasse am 15. September 2020 eingegangen (§ 67 EStG). Dies ergibt sich aus dem auf dem Antragschreiben angebrachten Eingangsstempel (Wendl in: Hermann/Heuer/Raupach, EStG/KStG 304 Lfg. Juni 2021, § 66 EStG Anm. 17). Der Tag des Eingangs wird vom Kläger auch nicht angezweifelt.

b) Mit Antragseingang lag erstmals ein Kindergeldantrag des Klägers für die Töchter S und E für den Zeitraum November 2018 bis August 2020 vor. Bei dem Antrag handelte es sich auch um einen Neuantrag, da der Kläger für den Zeitraum noch keinen Antrag auf die Bewilligung von Kindergeld für seine Töchter gestellt hatte. Die fortlaufende Kindergeldzahlung zugunsten der Mutter steht dabei der Annahme eines Neuantrags durch den Kläger nicht entgegen. Denn die Beurteilung der Antragstellung ist - wie auch die Beurteilung der Anspruchsberechtigung - nach Ansicht des Senats Berechtigten und nicht Kind bezogen vorzunehmen. In Abgrenzung zum - nicht dem Anwendungsbereich der Vorschrift unterliegenden - Korrektur- oder Änderungsantrag (vgl. Avvento in: Kirchhof/Seer, EStG, 21. Aufl. 2021, § 70 Rz. 2) nimmt der Senat einen Neuantrag dann an, wenn die Familienkasse gegenüber dem Antragsteller noch nicht über einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld für das betreffende Kind und den beantragten Zeitraum entschieden hat. Damit folgt der Senat den Ausführungen des FG München im Urteil vom 18. September 2008 (10 K 4398/07, juris) zur Abgrenzung von Neu- und Änderungsanträgen und konkretisiert diese für die Annahme eines Neuantrags im Sinne des § 70 Abs. 1 EStG dahin, dass die Familienkasse eine Entscheidung gegenüber dem Antragsteller für das betreffende Kind und den Antragszeitraum noch nicht getroffen haben darf. Das Erfordernis einer unterbliebenen Entscheidung gegenüber dem beantragenden Kindergeldberechtigten folgt nach Ansicht des Senates aus § 70 Abs. 1 Satz 1 EStG, welcher auf § 62 EStG verweist, der die Person des Anspruchsberechtigten regelt.

Dass die Vorschrift darüber hinaus lediglich auf Erstanträge beschränkt wäre, lässt sich dem Wortlaut und auch den Gesetzgebungsmaterialien nicht entnehmen (siehe BT-Drucks. 19/8691, Seite 65, 67 sowie schon BT-Drucks. 18/12.127, Seite 62; vgl. auch BFH, Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 68/00, BFH/NV 2002, 1293; FG Münster, Urteil vom 21. Mai 2021 4 K 3164/20 AO, juris).

c) Die Berechnung des 6-Monatszeitraums ist, was durch den Kläger auch nicht in Zweifel gezogen wird, im Streitfall zutreffend erfolgt.

Der Monat, in dem der Kindergeldantrag bei der Behörde eingegangen ist, wird bei der (Rück-)Berechnung des 6-Monatszeitraums nicht mitgerechnet ("für die letzten sechs Monate vor" Antragseingang; Avvento in: Kirchhof/Seer, EStG, 20. Aufl. 2021, § 70 Rz 2 EStG). Der Auszahlungszeitraum März 2020 bis August 2020 wurde durch die Beklagte daher beanstandungsfrei berechnet.

d) Das Vorliegen einer Missbrauchsabsicht im Zusammenhang mit der begehrten rückwirkenden Zahlung des festgesetzten Kindergeldes über den Zeitraum von 6 Monaten hinaus wird im Streitfall nicht angenommen, ist jedoch auch nicht Tatbestandsmerkmal des Auszahlungshindernisses, auch wenn die Verhinderung von Missbrauchsfällen im Bereich des Kindergeldrechts den Gesetzgeber bewogen haben dürfte, die mit dem Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz insgesamt eingeführten bzw. geänderten Maßnahmen zu ergreifen.

5. Ein Anspruch auf Auszahlung des festgesetzten Kindergeldes ergibt sich auch nicht aus einer vom Kläger behaupteten verbindlichen mündlichen Auskunft der Beklagten.

a) Gemäß § 89 Abs. 2 EStG können die Finanzbehörden in steuerlichen Angelegenheiten verbindliche Auskünfte erteilen. Voraussetzung hierfür ist jedoch u.a. ein schriftlicher Antrag des Steuerpflichtigen, welcher im vorliegenden Streitfall bereits nicht vorliegt.

b) Behörden sind grundsätzlich auch außerhalb der gesetzlich normierten Rechtsinstitute hinaus, im Rahmen ihrer Zuständigkeit berechtigt, Auskünfte zu erteilen. Gegenstand dieser Auskunft können sowohl Tatsachen (Tatsachenauskünften) als auch Auskünfte zur Rechtslage sein (Rechtsauskünfte). Auskünfte unterscheiden sich dabei von der Zusage grundsätzlich dadurch, dass die Behörde sie in der Regel ohne Rechtsbindungswillen erteilt (Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 168. Lieferung 11.2021, § 89 AO Rz. 16). Liegt hingegen eine verbindliche Auskunft, sprich eine Zusage der Behörde vor, so kann diese nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gehindert sein, einen nach dem Gesetz entstandenen Steueranspruch geltend zu machen.

c) Der allgemein geltende Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben verdrängt jedoch gesetztes Recht nur in besonders liegenden Fällen, in denen das Vertrauen der Steuerpflichtigen in ein bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach allgemeinem Rechtsgefühl in so hohem Maße zu schützen würdig ist, dass demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten müssen (vgl. BFH, Urteile vom 25. Oktober 1977 VII R 5/74, BStBl II 1978, 274; vom 5. Februar 1980 VII R 101/77, BFHE 130, 90, 95; vom 29 November 2000 X R 25/97, BFH/NV 2001, 1013, II. 2.a). Dies kommt nur dann in Betracht, wenn dem Steuerpflichtigen eine bestimmte steuerrechtliche Behandlung zugesagt worden ist oder wenn die Finanzbehörde durch ihr früheres Verhalten außerhalb einer Zusage ein Vertrauenstatbestand geschaffen hat (vgl. BFH, Urteil vom 30. September 1997 IX R 80/94, BStBl II 1998, 771, unter 1.; BFH, Beschluss vom 26. November 2001 V B 88/00, BFH/NV 2002, 551, unter II. 1. b; Urteil vom 29. April 2008 VIII R 75/05, BStBl II 2008, 817, unter II. 2.b; BFH, Urteil vom 14. Januar 2010 IV R 86/06, BFH/NV 2010, 1096 unter II.5.). Im Weiteren tritt eine Bindungswirkung nur dann ein, wenn die Zusage der im Zeitpunkt der Auskunftserteilung für die spätere Entscheidung im Verwaltungsverfahren zuständige Beamte oder der Vorsteher der Behörde gegeben hat. Der zuständige Beamte ist dabei nicht der Sachbearbeiter, sondern der abschließend Zeichnungsberechtigte (BFH, Urteil vom 26 November 19. Juli 1990 III R 109/93, BFH/NV 1998, 808 [BFH 26.11.1997 - III R 109/93]).

Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Dem Kläger ist vorliegend keine bestimmte (steuer-)rechtliche Behandlung zugesagt worden. Dies wäre nur dann der Fall, wenn er eine verbindliche Zusage beantragt und die Behörde eine solche ohne Einschränkung oder Vorbehalte erteilt hätte (vgl. BFH, Urteile vom 17. September 1992 IV R 39/90, BStBl II 1993, 218; vom 14. September 194 I R 125/390, BFH/NV 1995, 369 [BFH 14.09.1994 - I R 125/93], unter 1.b; vom 16. November 2005 X R 3/04 BStBl II 2006, 155, unter II. 2. i). Hiervon ist nach eigenem Vortrag des Klägers nicht auszugehen. Vielmehr führt er im Klageverfahren aus, dass er aus dem "Telefonat mit Frau B den Eindruck gewinnen musste, er würde, sobald seine geschiedene Ehefrau das zu Unrecht bezogene Kindergeld nachzahlt, ebenfalls rückwirkend ab November 2018 das Kindergeld für beide Kinder erhalten." Da sich eine ohne Einschränkung vorbehaltslos erteilte verbindliche Zusage jedoch von selbst erklärt und keiner Auslegung durch den Erklärungsempfänger bedarf, ist das Vorliegen einer verbindlichen Zusage im Streitfall bereits aus diesem Grund zu verneinen. Der Eindruck des Vorliegens einer (unverbindlichen) Auskunft anstelle einer (verbindlichen) Zusage, wird - worauf die Beklagte zu Recht hinweist - durch die Mündlichkeit der Erklärung verstärkt. Hätte sich die Beklagte an ihrer Aussage festhalten lassen wollen, so wäre zu erwarten gewesen, dass sie diese schriftlich fixiert, wie es - nach Auskunft des Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung - bei rechtserheblichen Umständen grundsätzlich der Fall ist. Vorliegend haben beide Beteiligte keine schriftlichen Aufzeichnungen vorgenommen. Zudem haftet einer telefonisch erteilten mündlichen Auskunft auch aus Empfängersicht eine Unverbindlichkeit an. Denn Auskünfte mit Bindungswirkung werden in der Praxis im Allgemeinen schriftlich gegeben. Zwar kann eine allgemeine Zusage grundsätzlich auch (fern-)mündlich erteilt werden (Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 169. Lieferung 02.2018, § 89 AO, Rn. 47f m.w.N. aus der Rechtsprechung). Allerdings spricht im Falle einer nur mündlichen Äußerung eine Vermutung gegen den Rechtsbindungswillen der Finanzbehörde (BFH, Urteil vom 13. Dezember 1989 X R 208/87, BStBl II 1990, 274, 276) und für eine unverbindliche Meinungsäußerung. Im vorliegenden Streitfall liegen keine Anhaltspunkte vor, die für den Willen der Beklagten sprechen würden, eine verbindliche Auskunft über den Umfang des Auszahlungsanspruchs im Hinblick auf das festgesetzte Kindergeld erteilen zu wollen. Insoweit fehlt es bereits an einem substantiierten Vortrag des Klägers. Der schlichte Hinweis, mehrfach mit der Sachbearbeiterin Frau B telefoniert zu haben, reicht hierfür nicht aus. Es fehlen insbesondere Angaben, wann diese Telefonate stattgefunden haben, ob der streitrelevante Sachverhalt hierbei zutreffend dargelegt und von der Auskunft erteilenden Bearbeiterin richtig verstanden wurde und ob diese auch für die spätere Entscheidung über den Auszahlungsanspruch des Klägers zuständig war. Unklarheiten im Sachverhalt gehen zulasten dessen, der sich auf die Verbindlichkeit einer Auskunft beruft (BFH, Urteil vom 13. Dezember 1989 X R 208/87, BStBl II 1990, 274).

Darüber hinaus muss der Steuerpflichtige im Hinblick auf die verbindliche Zusage der Behörde disponiert und sich entsprechend eingerichtet haben. Anhaltspunkte hierfür liegen nach Auffassung des Gerichts ebenfalls nicht vor. Der Umstand, dass der Kläger und seine Ex-Ehefrau im Scheidungsverfahren wechselseitig auf (Unterhalts-) Ansprüche verzichtet haben, rechtfertigt nicht die Annahme, dass dies vor dem Hintergrund der Nachzahlung des Kindergeldes durch die Familienkasse erfolgt ist.

6. Eine Verpflichtung der Beklagten zur Auszahlung des streitigen Kindergeldes lässt sich auch nicht aus einem Verstoß gegen bestehende Fürsorgepflichten im Sinne des § 89 Abs. 1 AO - und hier insbesondere einer Pflicht zur Belehrung über die Rechtsfolgen des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG und der Konsequenzen aus einer Weiterleitung des Kindergeldes - herleiten.

a) Entgegen der Auffassung des Klägers liegt bereits kein Verstoß gegen die Auskunfts- und Aufklärungsverpflichtung der Familienkasse als Finanzbehörde gemäß § 89 Abs. 1 AO vor. Nach dieser Vorschrift soll die Finanzbehörde die Abgabe von Erklärungen, die Stellung von Anträgen oder die Berichtigung von Erklärungen oder Anträgen anregen, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben oder gestellt worden sind (§ 89 Abs. 1 Satz 1 AO). Darüber hinaus erteilt sie, soweit erforderlich, Auskünfte über die der Beteiligten in Verwaltungsverfahren zustehenden Rechte und die ihnen obliegenden Pflichten (§ 89 Abs. 1 Satz 2 AO). Mit der Übersendung des Antragsformulars für die Stellung eines Antrags auf Bewilligung von Kindergeld durch den Kläger und der zur Sachverhaltsaufklärung ergangenen Bitte um Mitteilung, ob eine Weiterleitung des Kindergeldes stattgefunden habe, ist die Beklagte dieser Pflicht nachgekommen. Die Beklagte ist - entgegen der Ansicht des Klägers - aus dieser Vorschrift und der hierin begründeten Fürsorgepflicht (Hahlweg in: Koenig, Abgabenordnung, 4. Aufl. 2021, § 89 Rz. 1) nicht verpflichtet, Rechtsberatung vorzunehmen. Denn die Finanzbehörde trifft keine allgemeine (materielle) Beratungspflicht (BFH, Urteil vom 10. März 2016 III R 29/15, juris, Rz. 29). Ihre Fürsorgepflicht umfasst nicht die Verpflichtung, die Vor- und Nachteile eines Antrags für den Steuerpflichtigen abzuwägen (BFH, Urteil vom 10. März 2016 III R 29/15, a. a. O.) Dieses gilt insbesondere, als die Beklagte weder wahrheitswidrige Angaben fördern, noch Vorschläge und Anregungen zur Sachverhaltsgestaltung gegeben kann und darf. Insbesondere die Steuergestaltungsberatung obliegt den steuer- und rechtsberatenden Berufen (Söhn in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, 239 Lfg. 2016, § 89, Rz. 39).

Darüber hinaus besteht die allgemeine Fürsorgepflicht der Behörde nur innerhalb des konkreten Steuerschuldverhältnis zwischen Behörde und Steuerpflichtigen und nicht im Hinblick auf das Rechtsverhältnis zwischen dem Steuerpflichtigen und einer dritten Person. Es erfährt daher seine Grenzen, wenn - wie im Streitfall - Dritte, nämlich die zuvor berechtigte Kindesmutter, betroffen sind. Die (steuerrechtliche) Gestaltung dieses Rechtsverhältnisses obliegt ausschließlich dem Kläger. Lediglich wenn aufgrund der vorliegenden Umstände (z.B. Aktenlage, Verhandlungen) ersichtlich ist, dass sich der Bürger offensichtlich nur versehentlich (aus Unkenntnis, Unbeholfenheit, Unerfahrenheit o. ä.) etwas unterlassen oder offensichtlich nur versehentlich das Falsche getan hat oder tun konnte, greift die Fürsorgepflicht der Behörde.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze, war die Beklagte nicht verpflichtet, den Kläger im Hinblick auf eine Weiterleitung des Kindergeldes und die Konsequenzen des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG hin zu beraten. Denn der Kläger begehrte von der Beklagten die rückwirkende Festsetzung und Auszahlung des Kindergeldes an sich. Hierzu bedurfte es zunächst eines Antrags, welchen die Beklagte durch Übersendung eines entsprechenden Vordrucks gefördert hat. Die Frage der Weiterleitung des Kindergeldes und einer sich hieraus möglicherweise ergebenden Billigkeitsmaßnahme betrafen hingegen nicht das (Steuer-)Schuldverhältnis zwischen Behörde und Kläger, sondern vielmehr zwischen Behörde und der Ex-Ehefrau des Klägers, bzw. zwischen Kläger und seiner geschiedenen Ehefrau. Denn der Verzicht auf die Rückforderung des überzahlten Kindergeldes gemäß § 37 Abs. 2 AO wirkt unmittelbar nur im Verhältnis zum bisher Berechtigten, begründet aber keinen Anspruch des vorrangig Kindergeldberechtigten gegen die Familienkasse. Im Gegenteil, um die mit der Billigkeitsregel beabsichtigte Vereinfachung eintreten zu lassen, muss der Kindergeldberechtigte gegenüber der Familienkasse die Weiterleitung des Kindergelds bestätigen und auf seinen eigenen Auszahlungsanspruch verzichten. Die Weiterleitung des Kindergeldes wurde durch den Kläger jedoch ausdrücklich verneint. Eine hierin liegende Fehlerhaftigkeit des Beteiligtenverhaltens musste sich aus Sicht der Beklagten weder aufdrängen noch musste sie davon ausgehen, dass der Kläger bei Kenntnis aller Rechte und Pflichten eine andere, zweckmäßigere Erklärung abgegeben hätte.

§ 89 Abs. 1 Satz 2 AO regelt darüber hinausgehend - worauf die Beklagte zu Recht hinweist - die Auskunftspflicht der Behörde im Verwaltungsverfahren d. h. nicht über die materielle Rechtlage. Die Erteilung von Auskünften materiell-rechtlicher Art ist zwar nicht ausgeschlossen, ein Anspruch hierauf besteht jedoch nicht. Ebenso sieht § 89 Abs. 1 Satz 2 AO eine Auskunftserteilung bzw. Beratung von Amts wegen nicht vor.

b) Schließlich wäre der Kläger bei Vorliegen einer Verletzung der Fürsorgepflicht durch die Behörde lediglich so zu stellen, wie er stünde, wäre der Verstoß nicht passiert (Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 148. Lieferung, § 89 AO Rz. 19; FG München, Urteil vom 18. Mai 2017 14 K 979/14, juris). Auf die Besteuerung bzw. auf die (Vergütungs-)Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen auch die Ansprüche auf Gewährung von Kindergeld gehören, hat ein etwaiger Verstoß gegen die Fürsorgepflicht aus § 89 Abs. 1 AO jedoch keinen Einfluss.

c) Soweit der Kläger - unter Hinweis auf eine Verletzung der Fürsorgepflicht - Ansprüche auf Schadensersatz aus Amtspflichtverletzung begehrt, können diese nicht im Rahmen des anhängigen Klageverfahrens vor dem Finanzgericht erwirkt werden, sondern wären nach § 839 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen.

Nach alledem war die Klage abzuweisen.

7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

8. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zugelassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung hat und eine höchstrichterliche Entscheidung zu § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG zu den bereits anhängigen Verfahren noch nicht vorliegt.