Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 13.06.2003, Az.: 3 B 47/03
Ehe; Gewalt; Gewalt in der Ehe; Gewaltschutzgesetz; häusliche Gewalt; Platzverweisung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 13.06.2003
- Aktenzeichen
- 3 B 47/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48498
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 1 GewSchG
- § 17 Abs 1 GefAbwG ND 1998
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei häuslicher Gewalt ist ein polizeilicher Platzverweis zulässig. § 17 Abs. 1 NGefAG wird durch das Gewaltschutzgesetz nicht ausgeschlossen. Der Platzverweis setzt die Gefahr weiterer oder erneuter Gewalt voraus, er ist nicht Sanktion für vergangenes Unrecht. Bei wechselseitigen Körperverletzungen entspricht es der Verhältnismäßigkeit, denjenigen Partner der Wohnung zu verweisen, der "den größeren Anteil" am Streit trägt oder dem - bei gleichen Anteilen - der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung für kurze Zeit am ehesten zugemutet werden kann. Hierüber entscheidet der Einsatzbeamte vor Ort nach seinem pflichtgemäßen Ermessen.
Gründe
Der Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Platzverweisung der Polizeiinspektion Uelzen vom 10. Juni 2003 ist unbegründet. Der angefochtene Platzverweis für die vom Antragsteller mit der Beigeladenen {B.} geteilte Wohnung ist rechtmäßig.
Rechtsgrundlage des Platzverweises ist § 17 Abs. 1 NGefAG.
Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 NGefAG können zur Abwehr einer Gefahr die Verwaltungsbehörden und die Polizei jede Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten. Nach Satz 2 dieser Vorschrift ist diese Maßnahme gegen den Willen der berechtigten Person nur zur Abwehr einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr zulässig, wenn die Maßnahme nach Satz 1 eine Wohnung betrifft.
Eine gegenwärtige Gefahr ist nach § 2 Nr. 1 b) NGefAG eine Gefahr, bei der die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder bei der diese Einwirkung unmittelbar oder in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht. Der Begriff der erheblichen Gefahr ist in § 2 Nr. 1 c NGefAG definiert. Danach ist eine erhebliche Gefahr eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut, wie Bestand des Staates, Leben, Gesundheit, Freiheit, nicht unwesentliche Vermögenswerte sowie andere strafrechtlich geschützte Rechtsgüter.
Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift wird hier nicht ausgeschlossen durch das Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (Gewaltschutzgesetz) vom 11. Dezember 2001. Nach § 1 des Gewaltschutzgesetzes kann das Gericht (Familiengericht) auf Antrag einer verletzten Person unter anderem regeln, dass der Täter die Wohnung der verletzten Person nicht betritt und sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung nicht aufhält. Danach obliegt es regelmäßig der verletzten Person - etwa der Ehefrau - selbst, sich um Schutz vor Gewalttaten einer anderen Person - etwa des Ehemannes - zu bemühen. Die Anwendbarkeit des Gewaltschutzgesetzes, das die eigenverantwortliche Gestaltung gewaltverbundener ehelicher und anderer Beziehungen betont, hat jedoch nicht zur Folge, dass ein polizeilicher Platzverweis unzulässig ist, um die Fortführung häuslicher Gewalt zu unterbinden. Vielmehr stellt ein Platzverweis nach § 17 NGefAG eine notwendige Ergänzung des Gewaltschutzgesetzes dar. Da die Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz nur durch das Familiengericht angeordnet werden können, die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens durch die betroffene Person und das Verfahren selbst jedoch notwendigerweise eine gewisse Dauer erfordern, muss die Polizei - als "erster Ansprechpartner" des hilfesuchenden Gewaltopfers - die Möglichkeit haben, die verletzte Person bis zu dieser gerichtlichen Entscheidung in der notwendigen Weise zu schützen. Hierfür kommt in der Regel nur ein Platzverweis im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 2 NGefAG in Betracht, weil nur so der vom Täter ausgehenden Gefahr für die Gesundheit des Opfers begegnet werden kann, ohne dass das Opfer selbst die gemeinsame Wohnung verlassen muss, was nach Sinn und Zweck des Gewaltschutzgesetzes gerade vermieden werden soll. Vor diesem Hintergrund ist in den Fällen, in denen eine Person vorsätzlich den Körper, die Gesundheit oder die Freiheit einer anderen Person widerrechtlich verletzt und damit die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Gewaltschutzgesetz erfüllt hat, als "vorübergehende" und auch noch in der Regel dem Verhältnismäßigkeitsgebot genügende Maßnahme im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 2 NGefAG ein einwöchiger Platzverweis anzusehen, mit dem die Zeit bis zur Entscheidung des Familiengerichts "überbrückt" werden soll und der deshalb seine Geltung verliert, sobald das Familiengericht diese Entscheidung getroffen hat. Der Platzverweis ist damit eine flankierende Maßnahme, ohne die das Gewaltschutzgesetz leerlaufen würde. Der Platzverweis gibt Opfern gewaltverbundener ehelicher und anderer Beziehungen einen verbesserten Schutz im Vorfeld der familiengerichtlichen Entscheidung. Der Platzverweis ist eine Maßnahme der aktuellen Krisensituation, eine erste Nothilfe; Platzverweis und Entscheidung des Familiengerichtes sind zwei zusammengehörige Schritte zum effektiven Opferschutz.
Auszugehen ist weiter davon, dass ein polizeirechtlicher Platzverweis keine Sanktion für geschehenes vergangenes Unrecht ist. Das Polizeirecht im Allgemeinen und der Platzverweis im Besonderen soll vielmehr einer bevorstehenden Gefahr begegnen, d.h. eine Gefahr abwehren, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in allernächster Zeit droht. Eine gegenwärtige erhebliche Gefahr liegt also vor, wenn aufgrund der festzustellenden Gesamtumstände zu befürchten ist, dass es in der Gewaltbeziehung in allernächster Zeit zu erneuten Straftaten kommt. Es muss also nicht nur eine aktuelle Gefahrensituation bestehen, sondern es muss auch eine Gefahrenprognose für die Zukunft vorgenommen werden. Der Platzverweis ist mithin zukunftsorientiert und nicht vergangenheitsorientiert.
Häusliche Gewalt hat meist eine lange Vorgeschichte. Häusliche Gewalt ist in aller Regel nicht ein einmaliges Ereignis, sondern ein Seriendelikt mit zunehmender Intensität und kurzfristigen Wiederholungen. Es ist eine "Gewaltspirale" festzustellen. Angesichts dieser besonderen Eigendynamik liegt es ohne weiteres nahe, dass bei aktueller Gewalt auch die Wahrscheinlichkeit künftiger erneuter Gewalt besteht. In der Regel handelt es sich bei dem Vorfall, der Anlass für die "Einschaltung" der Polizei ist, lediglich um die "Zuspitzung" einer längeren Entwicklung mit wiederkehrenden Gewalttätigkeiten , bei der jederzeit mit neuen gewalttätigen Übergriffen zu rechnen ist.
Im vorliegenden Fall lagen die Voraussetzungen für den Erlass eines polizeirechtlichen Platzverweises vor. Es hatte handgreiflichen Streit zwischen der Beigeladenen und dem Antragsteller gegeben. Die Wohnung - und damit wohl auch die wiederholten handgreiflichen Streitigkeiten - sind nach der von der Polizeiinspektion Uelzen aufgenommen Strafanzeige "bereits amtsbekannt". Die Beigeladene und der Antragsteller hatten (mal wieder) massive Handgreiflichkeiten ausgetauscht. Nach Angaben der Beigeladenen hatte der Antragsteller sie ins Gesicht geschlagen und sie durch die Wohnung geschleudert. Beim Antragsteller waren eine blutunterlaufene Stelle sowie Kratz- und Bisswunden festzustellen, die zum Teil leicht bluteten. Nach Angaben des Mieters {D.} hatte es bereits in der letzten Woche ähnliche Vorfälle gegeben. Von daher ist eine "Gewaltspirale" festzustellen, ein Seriendelikt mit zunehmender Intensität und kurzfristigen Wiederholungen. Angesichts der besonderen Eigendynamik der Gewaltbeziehung hat die Polizei ohne Rechtsfehler angenommen, dass auch die Wahrscheinlichkeit weiterer oder erneuter Gewalt bestanden hat. Aufgrund der von der Polizei erkennbaren Gesamtumstände war zu befürchten, dass es ohne den Platzverweis in allernächster Zeit zu weiteren Körperverletzungen und damit zu erneuten Straftaten zwischen den Partnern kommen würde. Es handelte sich nicht um eine einmalige Entgleisung bei den Partnern ohne konkrete Wiederholungsgefahr, sondern es gab aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit ernsthafte Anzeichen für eine Gefahr erneuter Gewalt in allernächster Zeit. Die Polizei war zum Eingreifen berechtigt.
Auch der Platzverweis gegenüber dem Antragsteller und nicht gegenüber der Beigeladenen lässt sich nicht beanstanden. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Gewaltanwendung nicht einseitig nur durch den Antragsteller gegenüber seiner Partnerin stattgefunden hat. Vielmehr war der Antragsteller selbst verletzt, er hatte eine blauen Fleck und Kratz- und Bisswunden. Immerhin hatte aber auch die Beigeladene angegeben, der Antragsteller habe sie ins Gesicht geschlagen und durch die Wohnung geschleudert. Die Polizisten hatten bei ihr "geschwollene Augen" festgestellt, die - so ist der Polizeibericht auszulegen - von einer Gewaltanwendung des Antragstellers gegenüber der Beigeladenen herrührten. Bei wechselseitigen Körperverletzungen entspricht es der Verhältnismäßigkeit, denjenigen Partner der Wohnung zu verweisen, der "den größeren Anteil" am Streit trägt oder dem - bei gleichen Anteilen - der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung für kurze Zeit am ehesten zugemutet werden kann. Hierüber entscheidet der Einsatzbeamte vor Ort nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. Es kommt dabei allein auf die Verhältnisse an, die sich in den Zeitpunkt darboten, in dem der Platzverweis ausgesprochen wird, nicht darauf, welche Erkenntnisse später gewonnen werden. Im vorliegenden Fall ist für die Polizeibeamten bei ihrem Einsatz und auch jetzt vom Vorsitzenden nicht erkennbar gewesen bzw. geworden, dass die Ehefrau den größeren Anteil an der körperlichen Auseinandersetzung hatte, weil sie etwa dem Antragsteller körperlich überlegen wäre oder dieser keine körperlichen Angriffe ausgeführt hätte. Es ist auch nicht offensichtlich, dass es der Beigeladenen - bei unterstellten gleichgewichtigen körperlichen Übergriffen - eher zumutbar wäre, die von beiden Partner gleichberechtigt genutzte Wohnung zu verlassen.
Die Krankheit des Antragstellers vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Allerdings ist der Antragsteller herzkrank und nach seinen Angaben in besonderem Maße auf die vertraute Wohnung angewiesen. Dass der Antragsteller bei einer kurzfristigen anderen Unterkunft schwere nicht wieder gut zu machende Schäden erleiden würde, ist nicht ersichtlich. Nach dem Befund der medizinischen Hochschule Hannover vom 12. Juni 2003 ist (lediglich) eine Vorstellung beim Kardiologen zur weiteren Therapieplanung empfohlen. Bettruhe oder eine Behandlung, die nur in der Wohnung möglich wäre, ist dem Antragsteller nicht verordnet worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.