Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 10.02.2000, Az.: 3 A 3393/97
Zuständigkeit für Jugendhilfemaßnahmen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG); Voraussetzungen für die Gewährung von Jugendhilfemaßnahmen an einen Personensorgeberechtigten; Qualifizierung einer Maßnahme als Jugendhilfemaßnahme oder Eingliederungsmaßnahme; Begriff der Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 89 c Abs. 2 KJHG; Erstattungsanspruch eines Sozialhilfeträgers gegen einen anderen
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 10.02.2000
- Aktenzeichen
- 3 A 3393/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 31806
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:2000:0210.3A3393.97.0A
Rechtsgrundlagen
- § 89c KJHG
- § 89c Abs. 2 BSHG
- § 85 Abs. 1 KJHG
- § 86 KJHG
- § 27 KJHG
- § 34 KJHG
Fundstellen
- NDV-RD 2001, 18-20
- ZfF 2002, 43-45
Verfahrensgegenstand
Kostenerstattung gem. § 89 c SGB VIII
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 3. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 10. Februar 2000
durch
die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Zschachlitz,
den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Struß und
die Richterin am Verwaltungsgericht Schlingmann-Wendenburg sowie
die ehrenamtlichen Richterinnen Fricke und Horstmann
für Recht erkannt
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, in dem Jugendhilfefall ... für die Zeit vom 02.06.1995 bis zum 18.07.1997 dem Kläger die gewährten Leistungen in Höhe von 107.887,79 DM zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte zu 3/4, der Kläger zu 1/4; Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beteiligten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der jeweils vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht der jeweils Beteiligte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt vom Beklagten die Erstattung von Kosten für die Unterbringung des Kindes ... in der Zeit vom 02.06.1995 bis zum 18.07.1997 aus Jugendhilfemitteln.
Die allein sorgeberechtigte Mutter der am 30.12.1987 geborenen ... stellte am 18.07.1994 beim Jugendamt des Rechtsvorgängers des Klägers einen Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach § 27 KJHG (SGB VIII). Zu diesem Zeitpunkt wohnte sie im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Zur Begründung gab Frau ... in deren Haushalt auch die am 02.08.1993 geborene schwerbehinderte Tochter ... lebte, an, dass es mit ... seit längerer Zeit Probleme in der Erziehung gebe. Die Mutter sah nach der Antragsbegründung die Gefahr, dass ... sich bei Misserfolgen in der Schule auch dort abwenden und größere Versäumnisse entstehen lassen würde. Da sich die Tochter dem Einfluss der Mutter entziehe, könne diese der Gefahr nicht begegnen und bitte deshalb um umfassende Hilfe bei der Erziehung der Tochter außerhalb des Hauses. ... war im Sommer 1994 schulpflichtig. Zu diesem Zeitpunkt stand bereits fest, dass sie in eine Schule für Lernbehinderte eingeschult werden sollte. Mit Bescheid vom 22.07.1994 wurde ab 09.08.1994 Hilfe zur Erziehung durch Heimerziehung bewilligt und Claudia ab dem 09.08.1994 im Kinderheim Lüderitz untergebracht. Sie besuchte von dort aus die Lernbehindertenschule Tangerhütte. Im Hilfeplan wurde niedergelegt, dass ... ständigen erzieherischen Einfluss brauche und die Heimerziehung die Voraussetzung schaffe, dass sie nicht sich selbst überlassen bleibe und ständig motiviert werde. Als Ziel der Hilfe wurde angeführt, dass ... unter Anleitung den schulischen Anforderungen gerecht werden und bei Misserfolgen durch die Erzieher motiviert werden solle. Außerdem sollte sie ihr Verhalten kontrollieren lernen, so dass sie in bestimmten Situationen nicht ausbrechen müsste.
Die Fortschreibung des Hilfeplanes am 26.05.1995 durch den Kläger ergab, dass die Heimerziehung fortgesetzt werden sollte. ... sollte das Schuljahr wiederholen, die Entwicklung wurde jedoch positiv beurteilt. Im Heim gebe es kaum Probleme, zu Hause sei ... nur wenige Tage zu normalem Verhalten in der Lage. Im Rahmen der weiteren Betreuung sollte nach dem Hilfeplan eine medizinische Untersuchung zur Abklärung der geistigen Leistungsfähigkeit durchgeführt und die Motivation für die Schule fortgesetzt werden.
Am 02.06.1995 verzog die Mutter von ... in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Unter dem 16.08.1995 teilte der Kläger dem Beklagten dies mit und beantragte Übernahme der Hilfe zur Erziehung nach Zuständigkeitswechsel. Der Beklagte erklärte mit Schreiben vom 25.09.1995, es bestünden Zweifel an der richtigen Hilfeart, da vermutet werden müsse, dass bei dem Kind entweder eine geistige Behinderung im Sinne des § 39 BSHG vorliege oder aber die Voraussetzungen des § 35 a KJHG (Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche) gegeben sein könnten. Dabei stelle sich die Frage, ob die vom Kläger ausgewählte Einrichtung in der Lage sei, gezielt auf die Behinderung einzugehen. Der Beklagte bat deshalb den Kläger, das Kind ... dem zuständigen Amtsarzt zur Erstellung einer sozialhygienischen Stellungnahme vorzustellen und im Wege des § 86 c KJHG vorzuleisten.
Am 07.03.1996 wurde beim Jugendamt des Beklagten der Hilfeplan nach § 36 SGB VIII fortgeschrieben. Danach sollte die Jugendhilfemaßnahme nach §§ 27, 34 KJHG fortgeführt und zusätzlich abgeklärt werden, ob zukünftig Hilfe gemäß § 35 a KJHG oder nach §§ 39, 100 BSHG gewährt werden müsse. Bezug genommen wurde hier auf den Entwicklungsbericht und festgestellt, dass die dortigen positiven Ergebnisse fortgeführt werden sollten. Zur Frage der Rückführung von ... wird hier ausgeführt, dass die Rückführung in die Familie zwar zu Beginn der Maßnahme als Fernziel definiert worden sei. Ob dies aber zukünftig möglich sei, werde vom Krankheitsverlauf der Mutter und der weiteren familiären Entwicklung abhängen.
Die Sozialhygienische Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Landkreises Stendal vom 10.09.1996 kommt zu dem Ergebnis, dass bei ... mental ein deutliches Entwicklungsdefizit, ein Grenzbefund zu einer Oligophrenie mittleren Grades gegeben sei, das Vorliegen einer seelischen Behinderung ungeklärt sei und der Aufenthalt im Kinderheim erforderlich sei, da häusliche Betreuung nicht gegeben sei. Mit Schreiben vom 29.11.1996 nahm dann der Jugendärztliche Dienst des Landkreises Stendal in Ergänzung des von ihm erstellten Sozialpsychologischen Gutachtens nach einer erneuten Überprüfung im Sozialpädiatrischen Zentrum in Magdeburg wie folgt Stellung: Die geistige Behinderung leichten bis mittleren Grades habe sich bestätigt. Es werde eine sonderpädagogische Überprüfung empfohlen, um Klarheit darüber zu bekommen, ob ein Wechsel ... von der Lernbehinderten- in eine Geistigbehinderten-Schule ihr einen erfolgreicheren Schulbesuch ermöglichen könnte. Trotz Wiederholung der ersten Klasse sei kaum ein Lernzuwachs zu verzeichnen. Wenn es bei der Überforderung bliebe, könnte eine zusätzliche seelische Behinderung zu befürchten sein.
Der Beklagte vertrat daraufhin mit Schreiben vom 25.02.1997 die Auffassung, dass ... zum Personenkreis des § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG gehöre und nach der Nachrangvorschrift des § 10 Abs. 2 KJHG damit eindeutig die Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe im Bereich des Klägers bestehe. Daraufhin stellte der Kläger am 06.05.1997 einen Antrag auf Erteilung eines Grundanerkenntnisses an seinen überörtlichen Träger, der mit Bescheid des Amtes für Versorgung und Soziales in Magdeburg vom 20.06.1997 abgelehnt wurde. Dem diesem Antrag beigefügten Entwicklungsbericht ist zu entnehmen, dass ... habe nach wie vor Probleme hatte, mit Kritik umzugehen und sehr stark nach liebevoller Zuwendung suchte. ... besuchte die zweite Klasse der Lernbehindertenschule in Tangerhütte und werde nach der Stellungnahme der Schule das Klassenziel erreichen. Ihr Mangel an Konzentrationsfähigkeit sowie die geringe Merkfähigkeit führten dazu, dass ständiges Lernen erforderlich war.
...
wurde dann am 17.07.1997 auf Wunsch, der Mutter aus dem Heim entlassen.
Am 22.09.1997 hat der Kläger Klage erhoben und trägt zur Begründung vor, dass mit dem Wohnortwechsel der Mutter der ... die Zuständigkeit des Beklagten als örtlicher Jugendhilfeträger eingetreten sei. Er selbst habe gemäß § 86 c KJHG als vorher örtlich zuständiger Träger weiter geleistet Es bestehe deshalb ein Erstattungsanspruch nach § 89 c KJHG. Die bei ... durchgeführte Maßnahme nach dem KJHG sei die geeignete Maßnahme in diesem Fall gewesen. Die bei ... festgestellte geistige Behinderung sei nicht der Grund für die Gewährung der Heimerziehung gewesen, vielmehr läge der Grund in den familiären Schwierigkeiten in der Familie der Mutter ... Im Übrigen bestehe ein Anspruch aus § 89 c Abs. 3 KJHG in Höhe von 35.962,60 DM, weil der Beklagte widerrechtlich über einen langen Zeitraum nicht geleistet habe.
Der Kläger beantragt,
dem Kläger Aufwendungen nach dem Kinder- und Jugendhilferecht für den Jugendhilfefall ... für die Zeit vom 02.06.1995 bis zum 18.07.1997 in Höhe von 107.887,79 DM zuzüglich eines Betrages in Höhe von 35.962,60 DM zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er vertritt die Auffassung, dass der Kläger im vorliegenden Fall nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen hat, um festzustellen, ob es sich tatsächlich um einen Jugendhilfefall in der Zuständigkeit des örtlichen Trägers der Jugendhilfe gehandelt hat. Vielmehr hätten Anhaltspunkte dafür gesprochen, dass es sich hier um einen Fall der geistigen Behinderung handele, so dass die getroffenen Maßnahmen nicht geeignet gewesen seien und der örtliche Träger der Jugendhilfe nicht zuständig gewesen sei. Deshalb sei durch den Wechsel des Wohnorts der Mutter die örtliche Zuständigkeit des Beklagten nicht entstanden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge des Klägers und des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang als Leistungsklage zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch aus § 89 c KJHG auf Ersatz derjenigen Kosten, die er als örtlicher Träger der Jugendhilfe im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86 c KJHG aufgewendet hat. Er hat allerdings keinen Anspruch nach § 89 c Abs. 2 BSHG auf Erstattung eines weiteren Betrages in Höhe eines Drittels der Kosten, weil der zuständige örtliche Träger nicht pflichtwidrig gehandelt hat.
Gemäß § 89 c Abs. 1 KJHG sind die Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86 c KJHG aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Gemäß § 86 c KJHG bleibt der bisher zuständige örtliche Träger beim Wechsel der örtlichen Zuständigkeit solange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt.
Für die Heimerziehung nach §§ 27, 34 KJHG ist die sachliche Zuständigkeit des örtlichen Jugendhilfeträgers nach § 85 Abs. 1 KJHG gegeben. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach § 86 KJHG. Für die Gewährung von Leistungen ist danach derjenige örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eitern bzw. der personensorgeberechtigte Elternteil ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Die allein sorgeberechtigte Mutter der Klägerin hatte im Zeitpunkt der Antragstellung und der Unterbringung von ... in dem Heim ihren Aufenthalt im Bereich des Klägers und ist am 02.06.1995 in den Bereich des Beklagten verzogen. Da sie dort geheiratet hat und später das Kind dorthin zu sich genommen hat besteht kein Zweifel daran, dass die Mutter im Bereich des Beklagten einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat.
Der Beklagte bestreitet seine Leistungspflicht zu Unrecht unter Berufung auf § 89 f KJHG. Gemäß § 89 f KJHG sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften dieses Buches entspricht. Das Gericht schließt sich der Auffassung des Beklagten, der Kläger habe nicht ausreichend geprüft, ob er als Träger der Jugendhilfe für die bei ... notwendigen Maßnahmen zuständig gewesen sei, und es habe letztlich eine Maßnahme nach §§ 39, 100 BSHG stattgefunden bzw. hätte stattfinden müssen, für die nach § 100 BSHG der überörtliche Träger der Sozialhilfe Kostenträger wäre, nicht an. Der Kläger hat ... zu Recht der Jugendhilfemaßnahme nach §§ 27, 34 KJHG zugeführt.
Gemäß § 27 BSHG hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Gemäß § 34 KJHG soll Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Jugendliche sollen in Fragen der Ausbildung und Beschäftigung sowie der allgemeinen Lebensführung beraten und unterstützt werden.
Das Kind Claudia ist im Kinderheim Lüderitz untergebracht worden. Dieses Kinderheim bzw. der Einrichtungsträger hat die Erlaubnis, Kinder und Jugendliche nach §§ 34 und 35 a KJHG aufzunehmen.
Der Beklagte bestreitet die Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers mit der Begründung, die Maßnahme sei keine Jugendhilfemaßnahme gewesen, da die geistige Behinderung des Kindes und nicht das Erziehungsdefizit im Vordergrund gestanden hätten. Gemäß § 10 Abs. 2 KJHG seien in diesem Fall die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG vorrangig gegenüber den Leistungen nach dem KJHG. Diese Auffassung teilt das Gericht nicht.
Der Sozialhygienischen Stellungnahme lässt sich entnehmen, dass ..., da ihr IQ mit 55 bzw. 53 Punkten bewertet worden ist, eine grenzwertige geistige Behinderung hat Letztlich kommt es im vorliegenden Fall aber darauf nicht an. Denn auch nach der Vorschrift des § 10 Abs. 2 Satz 2 KJHG ist der Kostenträger nach BSHG nicht für alle Maßnahmen zuständig, die gegenüber einem geistig behinderten Jugendlichen erforderlich sind. Abzustellen ist hier vielmehr darauf, ob die fragliche Maßnahme als Eingliederungshilfe zur Beseitigung oder Milderung der Behinderung (dann §§ 39, 100 BSHG) oder zur Abdeckung des im Elternhaus vorherrschenden Erziehungsdefizits (dann §§ 27 ff. KJHG) ergriffen worden ist und ergriffen werden musste bzw. darauf, wo das Schwergewicht der Maßnahme liegt (vgl. Urteil d. erk. Kammer v. 19.11.1998 - 3 A 3418/97 -; BayVGH v. 06.04.1995, FEVS 46, 185; Nds.OVG v. 05.12.1994, FEVS 46, 63; ZSpr. Zs ZfF 1992, 252).
Der Antrag vom 18.07.1994 ist eindeutig damit begründet worden, dass die Mutter mit der Erziehung des Kindes überfordert war. Diese Gründe sind auch Gegenstand des "Personalbogens für Kinder und Jugendliche in Einrichtungen" und des Bescheides vom 09.08.1994 über die Gewährung der Hilfe zur Erziehung durch Heimerziehung. Es wurde darauf abgestellt, dass die Mutter wegen ihrer wirtschaftlichen und familiären Situation und insbesondere des Betreuungsbedarfs bei der 1993 geborenen behinderten Tochter ... nicht in der Lage war, dem Erziehungsaufwand bei ... gerecht zu werden. So wird in dem Personalbogen auch angeführt, dass der damalige Lebenspartner der Mutter arbeitslos, die Familie auf Sozialhilfe angewiesen und die Wohnung in schlechtem baulichen Zustand war. Diese Begründung für den Aufenthalt von ... Kinderheim Lüderitz zieht sich dann auch durch den Hilfeplan vom 07.10.1994 und dessen Fortschreibung vom 26.05.1995. Zwar wurde in dem letztgenannten Hilfeplan zur besonderen Beachtung bei der weiteren Betreuung angemerkt, dass eine medizinische Untersuchung zur Abklärung der geistigen Leistungsfähigkeit erfolgen sollte. Darin, dass diese Untersuchung nicht alsbald stattfand, ist aber keine Pflichtwidrigkeit des Klägers zu sehen, die die von ihm erbrachten Leistungen als nicht dem KJHG entsprechend i.S.d. § 89 f. BSHG erscheinen lässt. Hierbei ist zu beachten, dass bereits vor dem Antrag der Mutter auf Gewährung von Heimerziehung feststand, dass ... in eine Sonderschule für Lernbehinderte eingeschult werden sollte. Die geistigen Leistungsdefizite waren demnach nicht ausschlaggebend dafür, das Kind in das Heim zu nehmen, sie sollten in der Schule für Lernbehinderte ausgeglichen werden. Dementsprechend hat ... dann auch während ihres Aufenthalts im Kinderheim Lüderitz den Hort der Sonderschule für Lernbehinderte besucht und dort ihre Schularbeiten gemacht. Insoweit hat offenbar die Betreuung durch das Heim im Hintergrund gestanden.
Hinzu kommt in ganz entscheidendem Maße, dass ... entsprechend der ersten Beurteilung die Schule für Lernbehinderte besuchte und dass diese Schule keine Veranlassung sah, ... in die Schule für geistig Behinderte abzugeben. Es ist davon auszugehen, dass die Mitarbeiter einer Schule für Lernbehinderte Erfahrung im Umgang mit Kindern haben, die sich im Grenzbereich zwischen Lernbehinderung und geistiger Behinderung befinden, und dass die Mitarbeiter dieser Schule, wenn sie denn der Auffassung gewesen wären, dass die Schule für ... eine Überforderung darstellt, die notwendigen Maßnahmen ergriffen hätten. Vielmehr hat die Schule noch mit Attest vom 04.06.1997 ausdrücklich die Auffassung vertreten, dass keine Notwendigkeit für eine solche Umschulung von ... gesehen werde. Insoweit durfte der Kläger zu dem Zeitpunkt, zu dem er Entscheidungen über den Aufenthalt von Claudia treffen musste, davon ausgehen, bei ... die richtige Maßnahme eingeleitet zu haben, auch wenn mit Gutachten vom 12.11.1996 das Sozialpädiatrische Zentrum in Magdeburg Zweifel daran äußerte, ob ... nicht auf Dauer überfordert sei, wenn sie lediglich als lernbehindert behandelt werde. Zum einen datiert dieses Gutachten erst vom 12.11.1996 (also lange nach dem Umzug der Mutter) und zum anderen kommt es auch nicht zu dem eindeutigen Ergebnis, dass Claudia in der derzeitigen Betreuung überfordert war, sondern empfiehlt lediglich ein weiteres sonderpädagogisches Gutachten über einen möglichen Wechsel zur Sonderschule für geistig Behinderte.
Im Übrigen kann wegen der "Dynamik des Hilfeprozesses" lediglich überprüft werden, ob zur Zeit der Entscheidung des Jugendamtes die Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 KJHG vorgelegen haben (LPK zum KJHG Rn. 44 zu § 27). Im vorliegenden Fall ist insoweit auf den Zeitpunkt des Umzugs der Mutter (02.06.1995) und den sich daraus ergebenden Zuständigkeitswechsel abzustellen.
In diesem Zeitpunkt ergaben sich aus den Entwicklungsberichten deutliche und auch schulisch geringe Verbesserungen. Soweit sich im Laufe des Verfahrens später konkretere Anhaltspunkte für ein Überwiegen der geistigen Behinderung herausgestellt hätten, konnten diese jedenfalls nicht auf den Zeitpunkt des Umzugs der Mutter, also den Beginn des Entscheidungszeitraums des vorliegenden Verfahrens, zurückwirken.
Am 12.11.1996 - dem Zeitpunkt der Sozialhygienischen Stellungnahme - hatte der Kläger den Beklagten vom Hilfefall bereits seit einiger Zeit in Kenntnis gesetzt. Wenn der Beklagte für die Vergangenheit seine Zuständigkeit anerkannt und zeitnah zum Umzug der Mutter am 02.06.1995 bzw. zu seiner Benachrichtigung davon im August 1995 den Fall an sich genommen hätte, hätte er die vorgeschlagene weitere Begutachtung veranlassen können, wenn ihm die Stellungnahme der Sonderschule, dass keine Veranlassung für eine Umschulung gesehen werde, nicht ausreichte. Im Rahmen einer nachträglichen Überprüfung der Entscheidungen des Klägers nach §§ 89 c und f KJHG ist jedenfalls davon auszugehen, dass die vom Kläger getroffene Entscheidung sachlich und fachlich gerechtfertigt war. Es besteht demnach die Verpflichtung des Beklagten, die vom Kläger geltend gemachten Kosten der Unterbringung von ... in der Zeit vom 02.06.1995 (Umzug der Mutter nach Steinhorst) bis zum 18.07.1997 (Rückkehr von Claudia in die Familie) zu ersetzen.
Nicht begründet ist die Klage allerdings, soweit der Kläger einen Anspruch nach § 89 c Abs. 2 KJHG geltend macht.
Gemäß § 89 c Abs. 2 KJHG hat der zuständige örtliche Träger dem örtlichen Träger einen zusätzlichen Betrag in Höhe eines Drittels der Kosten zu erstatten, wenn der örtliche Träger die Kosten deshalb aufgewendet hat, weil der zuständige örtliche Träger pflichtwidrig gehandelt hat.
Pflichtwidrigkeit liegt vor, wenn eine Hilfe abgelehnt, verzögert oder unzureichend gewährt wird (Wiesner/Kaufmann/Mörsberger/Oberlosskamp/Struck, SGB VIII, Rn. 10 zu § 89 c). Die Auslegung, die der Begriff pflichtwidrige Handlungen in der Spruchpraxis zu § 107 BSHG a.F. gefunden hat, kann grundsätzlich auch zur Auslegung dieses Begriffes in § 89 c Abs. 2 KJHG herangezogen werden (LPK zum KJG Rn. 4 zu § 89 c), wobei aber in jedem Einzelfall zu prüfen ist, ob und inwiefern sich die rechtliche Bewertung in der Zwischenzeit geändert hat (Wiesner u.a., a.a.O., Rn. 12). Auf subjektives Verschulden kommt es dabei nicht an; eine pflichtwidrige Handlung kann auch vorliegen, wenn sich die Bearbeitung eines Falles wegen mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen verzögert (LPK, a.a.O.). Aus der Spruchpraxis zu § 107 BSHG a.F. (vgl. Schellhorn u.a., Kommentar zum BSHG, 14. Aufl., Kommentierung zu § 107) ergibt sich, dass der Hauptwendungsfall des Erstattungsanspruchs aufgrund pflichtwidrigen Tuns eines anderen Sozialhilfeträgers in einer sog. "Lastenverschiebung" vom einen auf den anderen Träger gesehen wird (Schellhorn u.a., a.a.O., Rn. 5).
Im vorliegenden Fall ist die Schwelle der Pflichtwidrigkeit nicht überschritten. Der Beklagte hatte Zweifel an der Richtigkeit der vom Kläger eingeleiteten Maßnahmen und musste sich zunächst die nach seiner Sicht notwendigen fachlichen Stellungnahmen zur Beurteilung der richtigen Hilfeeinrichtung beschaffen. Er hat die Einholung der Sozialhygienischen Stellungnahme veranlasst, beim Kläger angeregt, einen Antrag an den dort zuständigen überörtlichen Träger auf Kostenübernahme nach BSHG zu stellen und das Gutachten des Pädiatrischen Dienstes Magdeburg eingeholt. Es lässt sich wegen des fehlenden Zusammenwirkens von Kläger und Beklagten im Verlaufe dieses Verfahrens nicht mehr eindeutig feststellen, in wessen Verantwortungssphäre es gelegen hat, dass in der Zeit zwischen dem August 1995 und der Entlassung von ... aus dem Heim im Juli 1997 kein eindeutiges Gutachten zu der nach Auffassung des Beklagten maßgeblichen Frage, ob für ... tatsächlich eine Maßnahme der Hilfe zur Erziehung oder vielmehr eine Eingliederungshilfemaßnahme angebracht war, erstellt werden konnte. Letztlich ist dem Kläger, nachdem das Gericht ihm den Kostenerstattungsanspruch nach § 89 c KJHG zugesprochen hat, auch kein Schaden daraus entstanden, dass der Beklagte es während des Zeitraums von fast zwei Jahren bei der Vorausleistung des Klägers nach § 86 c KJHG beließ.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155, 188 Satz 2 VwGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Dr. Struß
Schlingmann-Wendenburg