Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 24.08.2016, Az.: 2 Ss 94/16

Erweiterte Begründungspflicht bei der Anwendung von Jugendstrafrecht; Voraussetzungen für die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
24.08.2016
Aktenzeichen
2 Ss 94/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 29714
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2016:0824.2SS94.16.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Lüneburg - 13.05.2016 - AZ: 18 Ls 12/16

Fundstellen

  • StRR 2017, 2
  • StV 2017, 722-723

Amtlicher Leitsatz

1 § 54 Abs. 1 JGG enthält eine gegenüber § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO erweiterte Begründungspflicht. Bei der Anwendung von Jugendstrafrecht hat sich der Tatrichter im Urteil mit der Biografie des Angeklagten auseinanderzusetzen, eine Bewertung der Tat im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen des Angeklagten vorzunehmen und die Auswahl der hiernach als erforderlich angesehenen Rechtsfolge zu begründen, wobei die Anforderungen an die Begründung tendenziell mit der Eingriffsintensität der angeordneten Rechtsfolge ansteigen.

2 Diese Darstellungserfordernisse gelten insbesondere auch dann, wenn die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 27 JGG geprüft werden und in gesteigertem Maße in Fallkonstellationen, in denen trotz Fehlens strafrechtlicher Vorbelastungen die Verhängung einer Jugendstrafe vorbehalten werden soll.

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Lüneburg zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Lüneburg - Jugendschöffengericht - hat den Angeklagten mit Urteil vom 13. Mai 2016 des Wohnungseinbruchdiebstahls in zwei Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, schuldig gesprochen und für ihn die Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 27 JGG vorbehalten.

Zur Person des 18-jährigen Angeklagten hat das Amtsgericht festgestellt, dass er nach der Trennung seiner Eltern, die der Volksgruppe der Roma angehören, überwiegend bei seinem Vater in Kroatien aufgewachsen ist. Seit dem Frühjahr 2015 hält er sich bei seiner Mutter in deren Haushalt in der Bundesrepublik auf. Der Angeklagte hat keine Schulausbildung durchlaufen, kann jedoch die Roma-Sprache lesen und schreiben. In der Bundesrepublik ist der Angeklagte bislang keiner Beschäftigung nachgegangen.

Strafrechtlich ist der Angeklagte noch nicht in Erscheinung getreten.

Zur Sache hat das Amtsgericht festgestellt, dass der Angeklagte und ein Mittäter am Vormittag des 7. Oktober 2015 in H. versucht haben, die Fenster eines fremden Wohnhauses aufzuhebeln, um so in das Haus einzubrechen und daraus Wertgegenstände zu entwenden. Nachdem ihnen das Aufhebeln nicht gelungen sei, hätten sie sich vom Tatort entfernt und zum auf dem Nachbargrundstück gelegenen Wohnhaus begeben, wo es ihnen gelungen sei, ein Fenster aufzuhebeln und so in das Haus zu gelangen, aus dem sie Münzen, eine Anstecknadel, weiteren Schmuck, eine Sonnenbrille und ein Feuerzeug entwendet hätten, um diese Dinge für eigene Zwecke zu verwenden.

Der Angeklagte hat sich dem amtsgerichtlichen Urteil nach geständig eingelassen und darauf hingewiesen, nicht mehr genau zu wissen, ob sein Mittäter oder er selbst das Fenster aufgehebelt habe, durch das man letztlich in das zweite Haus gelangt sei. Er wisse jedoch noch, dass er selbst zumindest gegen das Fenster geschlagen habe. Im Haus seien sie zu zweit gewesen, vor der Tat hätten sie noch geklingelt gehabt, um zu überprüfen, ob sich Bewohner im Haus aufhalten.

Das Amtsgericht hat festgestellt, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des im Tatzeitpunkt noch 17-jährigen Angeklagten gemäß §§ 1 Abs. 2, 3 JGG gegeben sei. Er ist des Wohnungseinbruchdiebstahls gemäß §§ 242 Abs. 1, 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB in zwei Fällen, wobei gemeinschaftlich im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB gehandelt wurde und es im ersten Fall beim Versuch gemäß §§ 22, 23 StGB blieb, schuldig gesprochen worden. Gemäß § 27 JGG blieb die Verhängung einer Jugendstrafe vorbehalten. Hierzu hat das Amtsgericht darauf hingewiesen, dass die beiden Taten nur kurz nach der Einreise des Angeklagten in die Bundesrepublik begangen bzw. zu begehen versucht worden sind. Zudem würden beide Taten schwer wiegen. Andererseits sei der Angeklagte strafrechtlich nicht vorbelastet, zudem habe er sich geständig und einsichtig gezeigt. Danach könne nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob beim Angeklagten schon bzw. nach wie vor schädliche Neigungen in einem Umfang vorliegen, der die Verhängung einer Jugendstrafe gebietet.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die nach § 55 JGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Revision hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang - jedenfalls vorläufig - Erfolg.

Die Überprüfung des Schuldspruchs aufgrund der allgemeinen Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. In diesem Umfang verwirft der Senat die Revision auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet. Zwar stellen sich die Ausführungen des Amtsgerichts zur Frage, ob der Angeklagte im Tatzeitpunkt über die für die Schuldfeststellung notwendige strafrechtliche Reife im Sinne von § 3 JGG verfügte, als äußerst knapp dar. Aus dem Gesamtzusammenhang des Urteils ergibt sich jedoch hinreichend klar, dass der Angeklagte nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug war, das Unrecht seines Verhaltens einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. So wird im Urteil für den Angeklagten, der zudem im Tatzeitpunkt bereits 17 Jahre und fast 9 Monate alt war, sich also in der letzten Phase des jugendlichen Alters im Sinne des § 1 Abs. 2 JGG befand, mitgeteilt, er habe sich einsichtig gezeigt und die Taten selbst als große Dummheit bezeichnet. Insgesamt lässt sich den Urteilsgründen damit ausreichend sicher entnehmen, dass beim Angeklagten die notwendige Verstandesreife vorhanden war, um für ihn von einem schuldhaften Handeln ausgehen zu können.

Das angefochtene Urteil war jedoch im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen auf die Sachrüge hin aufzuheben.

Die Ausführungen des Amtsgerichts zur getroffenen Rechtsfolgenentscheidung halten einer sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht stand. Zwar ist die Entscheidung für eine der im Jugendgerichtsgesetz vorgesehenen Sanktionen und deren konkrete Bemessung Sache des Tatrichters, weil nur er in der Lage ist, sich in der Hauptverhandlung einen umfassenden Eindruck von den Taten und der Täterpersönlichkeit zu verschaffen und auf dieser Grundlage die wesentlichen be- und entlastenden Umstände festzustellen, zu bewerten und gegeneinander abzuwägen (vgl. OLG Celle NStZ 2012, 576 [OLG Celle 26.06.2012 - 32 Ss 78/12]; OLG Düsseldorf NStZ 1988, 325). Die Überprüfung durch das Revisionsgericht beschränkt sich allein auf Rechtsfehler und die Beachtung des im Jugendstrafrecht vorrangigen Erziehungsgedankens. Das Tatgericht muss hierfür jedoch seine Zumessungserwägungen in einem die Nachprüfung ermöglichenden Umfang darlegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass § 54 Abs. 1 JGG eine gegenüber § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO erweiterte Begründungspflicht enthält. Erforderlich sind danach eine Auseinandersetzung mit der Biografie des Angeklagten, eine Bewertung der Tat(en) im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen des Angeklagten sowie die Begründung der hiernach unter Berücksichtigung ihrer Eingriffsintensität erforderlichen Rechtsfolgen, wobei die Anforderungen an die Begründung tendenziell mit der Eingriffsintensität der angeordneten Rechtsfolge ansteigen (vgl. OLG Celle NStZ 2012, 576 [OLG Celle 26.06.2012 - 32 Ss 78/12]; Beschluss vom 24. Mai 2016, 2 Ss 50/16; KG Berlin NStZ 2007, 223 [KG Berlin 01.03.2006 - (5) 1 Ss 479/05 (89/05)]). Dies gilt insbesondere auch dann, wenn die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 27 JGG geprüft werden (vgl. OLG Oldenburg ZJJ 2011, 91) und muss in gesteigertem Maße in Fallkonstellationen wie der vorliegenden gelten, in der trotz Fehlens strafrechtlicher Vorbelastungen, was der Feststellung schädlicher Neigungen entgegenstehen kann (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 20 [BGH 09.08.2001 - 4 StR 115/01]; OLG Hamm, Beschluss vom 3. Februar 2009, 4 Ss 1/09), die Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 27 JGG vorbehalten werden soll.

Diesen Begründungserfordernissen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Zur Begründung der getroffenen Rechtsfolgenentscheidung werden letztlich allein vier allgemeine Strafzumessungsgründe benannt, nämlich einerseits die Umstände, dass der Angeklagte nur kurz nach seiner Einreise in das Bundesgebiet bereits straffällig geworden ist und dass die Taten schwer wiegen würden. Andererseits wird auf das von Einsicht getragene Geständnis des Angeklagten und das Fehlen strafrechtlicher Vorbelastungen hingewiesen. Es fehlt insofern an einer Auseinandersetzung mit dem bisherigen Werdegang des Angeklagten und den als notwendig erachteten und konkret zu erwartenden Folgen der nach dem Jugendgerichtsgesetz in Betracht kommenden verschiedenen Möglichkeiten der erzieherischen Einflussnahme. Die Ausführungen des Amtsgerichts zur Rechtsfolgenentscheidung lassen nicht erkennen, dass dem Erziehungsgedanken überhaupt die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden ist. Da sich die Urteilsgründe auch nicht dazu verhalten, welche konkreten Erkenntnisse die Jugendgerichtshilfe zur Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Angeklagten aufzeigen konnte und welche Stellungnahme sie zu möglichen Rechtsfolgen abgegeben hat, erweist sich das Urteil hinsichtlich der getroffenen Rechtsfolge insgesamt als lückenhaft. Dieser sachlich-rechtliche Fehler führt auf die erhobene Sachrüge hin zur Aufhebung des Urteils im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen. Insoweit war die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung gemäß §§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Lüneburg zurückzuverweisen.